Letzter Sommerabend am Meer

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Kapitel 2

2019

Der Sommerabend am Meer in der Grimmershörnbucht war längst nicht zu Ende, als Julia ihre Tochter zu sich rief und begann, ihre Sachen zusammenzupacken. Auf den krönenden Abschluss des Festes, das Höhenfeuerwerk, würde sie nicht warten können. Es fand zu später Stunde statt, Leonie würde nicht rechtzeitig ins Bett kommen.

»Ich will aber noch hierbleiben«, erklärte das Kind. »Wir spielen gerade so schön. Es ist doch noch hell.« Sie deutete zum Wasser. »Schau mal, die Schiffe!«

Julia sah auf. Obwohl sie solche Abende schon mehrfach erlebt hatte, empfand sie den Anblick als erhebend. Im Hintergrund zog ein beleuchtetes Kreuzfahrtschiff entlang, davor bewegten sich Fischkutter, kleinere Motorboote und Segelyachten. Die Strahlen der tief stehenden Sonne tauchten alles in ein warmes Licht und gaben der Szene den Charakter eines maritimen Gemäldes. Für einen Moment bedauerte sie, das Fest verlassen zu müssen. Doch wenn sie bis zum Feuerwerk bliebe, käme Leonie kaum vor Mitternacht ins Bett. Zwar waren Sommerferien, und sie selbst hatte Urlaub, aber ihr Kind würde irgendwann einschlafen. Dann müsste sie das Mädchen nach Hause tragen. »Ja«, seufzte sie. »Ein schöner Anblick. Aber wir müssen trotzdem aufbrechen. Es tut mir leid, mein Schatz. Sonst wird es zu spät.«

Ihre Tochter verzog das Gesicht und schob die Unterlippe vor. »Das ist gemein. Die anderen Leute bleiben noch hier.«

»Wir richten uns aber nicht nach anderen Leuten«, erklärte Julia. »Zieh jetzt deine Schuhe an! Wir gehen an den Buden längs und schauen, ob wir noch etwas für dich finden. Ich glaube, es gibt dort auch Eis.«

Leonie strahlte. »Ich mag Erdbeer und Schokolade.« Eifrig packte sie ihre Sachen zusammen.

Mit dem süßen Angebot verstieß Julia gegen ihre Grundsätze. Aber sie mochte jetzt nicht mit ihrer Tochter diskutieren. Sie hatte Erik Börnsen gesehen, den Mann, der Benjamin Wedemeyer auf dem Gewissen hatte. Vielleicht auch Katharina Blessing. Oder hatten die beiden gemeinsame Sache gemacht? Die Ermittlungen waren damals im Sande verlaufen. Bennys Leiche war wenige Tage nach dem verhängnisvollen Segeltörn angespült worden. Nach den Erkenntnissen der Rechtsmedizin war er ertrunken. Unklar war geblieben, ob seine Kopfverletzung durch einen bewusst geführten Schlag mit einem stumpfen Gegenstand verursacht worden war oder ob ihn der Baum des Segelboots getroffen hatte. Am Ende hatten sich die Behörden auf einen Unfall festgelegt.

Was auch immer sich an Bord abgespielt haben mochte – für Julia war Erik Börnsen dafür verantwortlich. Er hatte das Boot besorgt, er war der Skipper gewesen, er hatte auf der Fahrt den Ton angegeben. Und er hatte sie in seine Koje gezerrt. Die Erinnerung trieb ihr Tränen in die Augen, verschleierte ihren Blick. Zum Glück war Leonie mit ihrem überdimensionierten Eis beschäftigt, zeigte für nichts anderes Interesse und lief klaglos neben ihr her. Julia zwinkerte heftig, fuhr hastig mit einem Taschentuch über ihre Augen und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Gleichzeitig wanderte ihr Blick über die Menschen, die sich mit ihr in Richtung Stadt bewegten oder entgegenkamen. Sie zuckte zusammen, als sie vor sich einen bärtigen Mann in schwarzen Jeans und mit einem schwarzen T-Shirt entdeckte. Und atmete tief durch, als sie feststellte, dass er sonst keinerlei Ähnlichkeit mit Erik Börnsen hatte.

Sie fragte sich, was sie tun würde, wenn sie ihm tatsächlich begegnen sollte, stellte sich vor, ihm in der Fußgängerzone in die Arme zu laufen. »Hallo, Erik? Wo kommst du denn her? Ich dachte, du bist ...« Nein. So unbefangen würde sie wohl nicht reagieren. Und dass sie ihn für tot gehalten hatte, mochte ihr wohl auch nicht über die Lippen kommen. Wahrscheinlich würden ihr die passenden Worte fehlen. Benjamin konnte durch einen Unfall ums Leben gekommen sein. Aber wenn ihn der Baum des Segelboots getroffen hatte – warum hatten Erik und Katharina ihn nicht gerettet? Was sagt man jemandem, den man für den Tod seines Freundes verantwortlich macht? Hast du Benny ertrinken lassen? Hast du ihn umgebracht? Damals hatte es auf diese Fragen keine Antwort gegeben. Auch heute würde er wohl nicht darauf eingehen. Jedenfalls, wenn sie die Fragen stellte.

Ob sich die Polizei noch für Erik Börnsen interessierte? In den Cuxhavener Nachrichten hatte sie von einer neu eingerichteten Sonderkommission gelesen, die sich mit »Cold Cases« befassen sollte, mit nicht aufgeklärten Fällen aus der Vergangenheit. Aber die würde in den nächsten Tagen erst eingerichtet werden. Sollte sie sich trotzdem an die Polizei wenden? Würden die ihr überhaupt abnehmen, dass sie Erik gesehen hatte? Sie konnte sich geirrt haben. Vielleicht hatte sie sich wirklich getäuscht. Bärtige Männer Ende dreißig gab es viele. Allein in der letzten halben Stunde hatte sie mindestens ein Dutzend gesehen. Wenn Erik wirklich zurückgekehrt war – wer konnte davon wissen? Seine Eltern! Sie nahm sich vor, den Börnsens einen Besuch abzustatten, nachdem sie Leonie zu ihrer Großmutter gebracht hätte.

*

Das Hotel Alte Liebe war Anfang der neunziger Jahre renoviert, erweitert und aufgestockt worden. Eine Bürgerinitiative war gegen den Neubau von Bettenburgen am Deich auf die Barrikaden gegangen, aber am Ende wurde es doch ausgebaut. Alles, was durch die Proteste erreicht wurde, waren ein paar Auflagen wie die Anpassung der Fenster an den Stil des ursprünglichen Altbaus. An die Auseinandersetzungen erinnerte sich Julia nur vage; sie war damals zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen und hatte Demonstrationen und Sprechchöre aus sicherer Entfernung bestaunt. Inzwischen war das Haus noch einmal vergrößert und modernisiert worden. Durch einen weiteren Anbau mit Gesellschaftsräumen und ein großzügiges Penthouse, in dem die Inhaber wohnten. Es gehörte jetzt zu den von zahlungskräftigen Gästen bevorzugten Hotels.

Ralf Börnsen hatte die Leitung des Hotels übernommen, nachdem sein Schwager, der Hotelier und Ratsherr Christopher Hansen, wegen Mordverdachts unter Anklage gestellt und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt worden war. Da hatten ihm auch die besten Beziehungen nichts genutzt, die man der Familie Börnsen in der Stadt nachsagte. Nach dem Verschwinden von Ralfs Sohn war allerdings gemunkelt worden, dass bei den Ermittlungen persönliche Kontakte zum Staatsanwalt eine Rolle gespielt haben könnten.

Obwohl Julia die Hotelhalle kannte, flößte sie ihr Respekt ein. Schwere Teppiche auf Marmorfußboden, Möbel aus edlen Hölzern und indirektes Licht aus Designerlampen vermittelten den Eindruck gediegener Eleganz. Dezente Musik aus unsichtbaren Lautsprechern unterstrich die extravagante Atmosphäre. Den älteren Herrschaften, die hier in schweren Polstermöbeln saßen, in Zeitungen blätterten oder verstohlen Neuankömmlinge musterten, war ihr finanzieller Hintergrund anzusehen. Allein der Schmuck einiger Damen, den diese nicht gerade sparsam angelegt hatten, dürfte ein kleines Vermögen wert sein. Am Empfang waren zwei junge Frauen und ein Mann mit einer kleinen Reisegruppe beschäftigt, die offenbar gerade eingetroffen war. Das Personal trug farblich auf das Interieur der Lobby abgestimmte Kleidung, die sie an Uniformen von Flugbegleitern erinnerte. Am Eingang tauchten zwei ebenso gekleidete junge Männer mit einem goldfarbenen Rollwagen auf, der mit zahlreichen Koffern und Reisetaschen beladen war. Sie machten sich am Empfang bemerkbar, bekamen offenbar eine Auskunft und verschwanden dann in einem der Aufzüge.

Julia durchquerte die Halle. Am Empfangstresen wurde sie von einer der perfekt gestylten und geschminkten Damen begrüßt. »Guten Tag. Willkommen im Hotel Alte Liebe. Was kann ich für Sie tun?« Sie lächelte geschäftsmäßig.

»Ich möchte Herrn Börnsen sprechen.«

»Haben Sie einen Termin?«

Julia schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist … hat sich ... gerade erst ergeben.«

Die Angestellte musterte sie kritisch. »Wen darf ich melden, und worum geht es?«

»Mein Name ist Julia Jacobs. Die Angelegenheit ist privat.«

»Ich glaube kaum, dass Herr Börnsen Sie empfängt. Wir haben Hochsaison, es ist viel zu tun. Ich kann versuchen, einen Termin für Sie zu finden. Aber bis dahin werden Sie sich eine Weile gedulden müssen.«

Der Tonfall der Empfangsdame und ihr skeptischer Blick vermittelten Julia den Eindruck, als lästige Bittstellerin wahrgenommen zu werden, die davon abgehalten werden musste, den Hoteldirektor zu stören. Für einen kurzen Moment geriet ihr Selbstbewusstsein ins Wanken. Doch dann erschienen die Bilder vom Vortag vor ihrem inneren Auge. Sie brauchte Gewissheit.

»Es geht um Börnsens Sohn«, stieß sie rasch hervor. »Erik.«

Ungläubig starrte die Empfangsdame sie an, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. »Einen Augenblick«, murmelte sie schließlich, »ich bin gleich wieder da.« Sie verschwand durch eine Tür im Hintergrund, die Julia zuvor nicht wahrgenommen hatte. Nach weniger als einer Minute kehrte sie zurück, bedeutete Julia, den Empfangstresen zu umrunden und ihr zu folgen. Sie führte sie in ein Büro, dessen Einrichtung sich auffallend vom gediegenen Stil der Lobby unterschied. Sie hatte nur einmal einen Blick hineinwerfen können, damals entsprach die Einrichtung noch dem Geschmack früherer Generationen. Ein großer Schreibtisch aus Chrom und Glas mit einem modernen Chefsessel, davor mit hellgrauem Leder bezogene Freischwinger, gegenüber eine passende Sitzgruppe. Auf dem Schreibtisch stand eine gerahmte Fotografie. Christina Börnsen mit ihrem halbwüchsigen Sohn. Die Angestellte deutete auf die Stühle. »Bitte nehmen Sie Platz! Herr Börnsen kommt gleich.«

Julia ließ sich nieder, warf einen Blick auf die Fensterfront, hinter der sich die Cuxhavener Deichlandschaft ausbreitete, und betrachtet die Bilder an den Wänden. Maritime Motive in Acryl. Meereswellen, auf denen Boote tanzten, unterschiedlich stark abstrahiert, sodass bei einigen erst auf den zweiten Blick erkennbar war, was sie darstellten. An der gegenüberliegenden Wand hingen großformatige Fotos. Sie zeigten Szenen vom Duhner Wattrennen. Rasende Galopper mit schlammbespritzten Jockeys, Trabrennfahrer, deren Sulkys Fontänen aus Meerwasser erzeugten. Vage erinnerte sich Julia an Zeitungsberichte, wonach Börnsen früher selbst daran teilgenommen hatte. Die Veranstaltung war umstritten, weil Tierschützer das Rennen als Tierquälerei betrachteten.

 

Sie wurde aus ihren Betrachtungen gerissen, als die Tür aufsprang und Ralf Börnsen eintrat. Er nickte ihr zu. »Hallo … Julia. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass wir uns nicht wiedersehen. Du wolltest das nicht und ich fände es auch besser. Aber jetzt bist du hier. Hat meine Mitarbeiterin dich richtig verstanden? Du weißt etwas über Erik?« Er ließ sich hinter seinem Schreibtisch auf dem Bürosessel nieder. Sein Blick war voller Zweifel.

Obwohl Julia plötzlich wieder unsicher war, nickte sie. »Ich habe ihn gesehen. Gestern. Beim Sommerabend am Meer.«

Börnsen kniff die Lider zusammen. »Das kann nicht sein. Erik ist 2002 auf hoher See verschollen, die Yacht ist gesunken. Laut amtlicher Untersuchung hat er das Unglück nicht überlebt. Du kannst ihn also nicht gesehen haben. Was willst du von mir?«

Energisch schüttelte Julia den Kopf. »Ich will nichts. Ich dachte nur, wenn Erik noch lebt und nach Cuxhaven zurückgekommen ist …«

»Ist er nicht«, unterbrach der Hotelier sie grob. »Sonst hätte er sich bei mir gemeldet.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Und nun muss ich dich bitten, zu gehen. Ich habe zu tun.«

Julia erhob sich zögernd, sah zur Tür, die von außen geöffnet wurde, sah wieder Börnsen an. Seine ablehnende Haltung verunsicherte sie. Mit Vorbehalten gegen sie und Zweifeln an ihrer Beobachtung hatte sie gerechnet, nicht aber mit einer derart harschen Reaktion. »Ja«, murmelte sie. »Dann gehe ich wohl wieder.« In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Erik trägt jetzt einen Bart.«

Auf der Straße verharrte Julia unschlüssig. Schließlich wanderte sie zum Deich, erklomm die Deichkrone und wanderte ohne Ziel drauflos. In einiger Entfernung blieb sie stehen und sah sich um. Vor dem Haupteingang des Hotels fuhren Taxen und andere Autos vor, andere verließen den Parkplatz. Auf einigen der Balkone saßen oder standen Menschen, den Blick auf die Bucht gerichtet. Urlauber, die wahrscheinlich keine größeren Sorgen hatten als die Menüfolge der nächsten Mahlzeit. In den seitlichen Fenstern der Penthouse-Wohnung spiegelte sich die Sonne. Julia fragte sich, ob Eriks Mutter ebenso abweisend reagiert hätte. Sollte sie versuchen, zu ihr Kontakt aufzunehmen? Eine Mutter würde die Hoffnung nicht aufgeben, ihren verschollenen Sohn eines Tages doch noch wiederzusehen. Aber wahrscheinlich würde ihr Mann ihr berichten, dass eine Frau bei ihm gewesen sei und von Erik gesprochen habe. Eine Verrückte, die man nicht ernst nehmen musste. Aber sie war nicht verrückt. Oder doch? Hatte die Begegnung mit Eriks Vater sie derart durcheinandergebracht, dass ihre Wahrnehmung gestört war?

Unablässig sprangen ihre Gedanken zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her. Der Mann am Bratwurststand, Erik am Ruder der Segelyacht, das Gespräch mit Ralf Börnsen, die Szene in der Kabine der Seeteufel, das Foto von Christina Börnsen auf dem Schreibtisch ihres Mannes, Benny auf Helgoland.

Irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie sich im Yachthafen befand. Sanft schaukelten Boote an den Anlegern, hier und da waren Segler und Skipper mit Takelage oder Ausrüstungsgegenständen beschäftigt. Was will ich hier, fragte sie sich, während ihr Blick über die Yachten wanderte. Suchte sie unbewusst nach Erik Börnsen? Unwillig schüttelte sie den Kopf. Doch dann drängte sich die Idee weiter in ihr Bewusstsein. Wenn er tatsächlich nach Cuxhaven zurückgekehrt war, konnte er mit einem Boot gekommen sein. So abwegig war der Gedanke nicht. Sie schlenderte an den Stegen entlang, entdeckte aber niemanden, der Ähnlichkeiten mit Erik Börnsen aufwies.

Sie kehrte in die Stadt zurück. Da Leonie den Tag und auch die kommende Nacht bei ihrer Großmutter verbringen würde, erledigte sie ein paar aufgeschobene Einkäufe und versuchte vergeblich, die Erinnerungen zu verdrängen, die in ihrem Kopf kreisten.

2002

Als Julia mit ihrer Reisetasche den Liegeplatz der Seeteufel erreichte, waren Erik und Benny damit beschäftigt, mehrere Lagen Dosenbier unter einer der Sitzbänke im hinteren Teil des Bootes zu verstauen. Katharina tauchte in der offenen Tür der Kajüte auf, winkte ihr zu und strahlte. »Schön, dass du schon da bist«, rief sie. »Komm rüber!«

Sie streckte einen Arm aus, nahm Julia die Tasche ab und deutete ins Innere der Yacht. »Da drinnen können wir es uns gutgehen lassen, während die Jungs das Boot startklar machen.« Sie tippte auf ihre Uhr. »In zwanzig Minuten geht’s los.«

Julia stieg über die Reling, begrüßte Benny und Katharina mit einem Kuss und Erik mit einer flüchtigen Umarmung. »Willkommen an Bord!«, sagte er und deutete auf die Getränkevorräte. »Wir sind gleich fertig.«

»Kommen noch mehr Leute mit?« Julias Blick war an den Bierdosen hängen geblieben. »Oder wer soll das alles trinken?«

»Das schaffen wir schon.« Erik grinste. »Meeresluft macht Durst. Und wir sind ziemlich lange auf See. Außerdem wollen wir auch ein bisschen Spaß haben.«

Katharina lenkte sie ab. »Komm mit!« Sie griff nach Julias Hand. »Wir schauen uns drinnen um.«

Die Kajüte war geräumiger, als Julia sie sich vorgestellt hatte. Es gab eine großzügige Sitzgruppe mit Tisch, einen Küchenbereich, eine Dusche mit Toilette und drei Schlafkammern mit jeweils zwei Kojen. »Nicht schlecht«, strahlte Katharina. »Oder?«

Julia nickte. »Super! Hätte nicht gedacht, dass hier so viel Platz ist.« Sie sah sich um. »Wo schlafen wir?«

Kathi hob die Schultern. »Du kannst dir eure Kojen aussuchen. Erik und ich nehmen dann die anderen.«

»Ich soll mit Benny …?«

»Warum nicht?« Kathi machte große Augen. »Oder habt ihr noch nie …«

»Wir sind noch nicht lange zusammen. Also, auch nicht so richtig. Mehr so freundschaftlich. Ich weiß es noch nicht. Vielleicht ergibt sich noch was. Aber hier … Ich meine, es ist doch … ziemlich … nah beieinander.« Julia deutete auf die Trennwand zwischen den Kammern. »Man hört bestimmt … jeden Ton.«

»Klar.« Katharina kicherte. »Aber wir müssen ja nicht gleichzeitig …« Sie setzte eine verschwörerische Miene auf und senkte die Stimme. »Es kann aber auch … ziemlich geil sein. Erik und ich waren schon mal mit Freunden hier. Wir hatten schon ein bisschen gefeiert. Und dann … Also, ich fand’s krass.« Sie schob eine CD in die Kompaktanlage.

»Ich weiß ja nicht …« Julia hob die Schultern. »Ich glaube, ich nehme lieber eine eigene Kabine. Später sehen wir, was sich ergibt.« Sie deutete auf die Schrankfächer. »Jetzt räume ich erst mal meine Sachen ein.«

Während sie zu den Klängen von Quit playin’ games with my heart mit den Backstreet Boys Kleidung und Kosmetika verstaute, tauschte sie mit Kati Erinnerungen an Helgoland aus. »Weißt du noch – die Typen in der Jugendherberge? Die aus Frankfurt? Die haben so komisch geredet, dass ich sie erst gar nicht verstanden habe. Aber der eine war voll süß. Sah aus wie Mark Owen von Take That. Ich glaube, der hieß Michael. Oder Markus? Matthias? Ich weiß nur noch, dass ich total verknallt war.«

»Meiner hieß Philipp. Der war auch ziemlich cool. Wir haben uns sogar noch geschrieben. Aber nicht lange …«

Irgendwann erschien das Gesicht von Erik am Eingang. »Wollt ihr nicht raufkommen? Wir legen gleich ab.«

An Deck drückte der Skipper jedem seiner Mitsegler eine Dose Bier in der Hand. »Erst mal stoßen wir an. Dann geht’s los.«

Wenig später startete er den Motor. Gemächlich kam die Yacht in Bewegung. Nachdem sie den Hafen hinter sich gelassen hatten, setzten Erik und Benjamin die Segel. Die Frauen legten sich auf dem Deck in die Sonne und genossen Wärme und Wind. Rasch nahm die Seeteufel Fahrt auf und pflügte geräuschvoll durch die Wellen. Überrascht registrierte Julia das Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit, das sich in ihr ausbreitete. Die Bewegungen des Bootes machten ihr nichts aus, die schnelle Fahrt durch die nur mäßig aufgewühlte Nordsee gefiel ihr, die grüne schleswig-holsteinische Küste gab einen malerischen Hintergrund ab. Davor waren Wasserfahrzeuge unterschiedlichster Art und Größe zu sehen. Neben den gewaltigen Containerschiffen zogen kleinere Frachter, Fähren, Motoryachten und Segelboote ihre Bahn. Sie bereute nicht, sich auf die Fahrt mit den Freunden eingelassen zu haben.

Erst zwei Stunden später, als Benny das Ruder übernommen hatte und Erik nach Katharina rief, bekam das euphorische Gefühl einen Dämpfer. »Komm nach unten, wir machen einen Kojentest.« Dazu machte er eine anzügliche Handbewegung und lachte.

Julia suchte Benjamins Blick, doch der schien sich auf seine Aufgabe als Steuermann zu konzentrieren, die Äußerung seines Freundes hatte er anscheinend nicht mitbekommen.

Katharina erhob sich, grinste und warf ihr einen Blick zu. »Ich glaube, Erik und ich sind auf einem guten Weg.« Sie kletterte nach hinten und verschwand im Niedergang zur Kabine.

Knatternde Segel und die tosende Bugwelle übertönten die Geräusche aus dem Inneren des Bootes. Nur einmal drang Kathis Schrei an Julias Ohr.

2019

Der Tag ohne ihre Tochter gab Julia Gelegenheit, durch Geschäfte zu bummeln, für die sie sonst keine Zeit oder keinen Nerv hatte, um Pullover und Schuhe für den kommenden Herbst anzuprobieren. Die Suche nach passenden Kleidungsstücken bot zugleich eine willkommene Ablenkung von Erinnerungen an die Ereignisse vor siebzehn Jahren.

Am frühen Abend – sie hatte gerade ein neues Outfit anprobiert – klingelte es an der Wohnungstür. Da sie niemanden erwartete, warf sie einen genauen Blick durch den Spion. Vor der Tür stand eine der Frauen, die sie hinter dem Tresen in der Rezeption des Hotels Alte Liebe gesehen hatte. Volles schwarzes Haar und blutrote Lippen bildeten einen auffälligen Kontrast zur hellen Haut. Was mochte sie von ihr wollen? Julia öffnete. »Hallo. Was führt Sie zu mir?«

»Entschuldigen Sie die Störung! Herr Börnsen schickt mich. Er würde gern noch einmal mit Ihnen sprechen. Würde es Ihnen morgen passen? Um zehn Uhr?« Sie zog eine Chipkarte aus der Tasche und reichte sie Julia. »Damit können Sie den Lift benutzen und direkt in die Penthouse-Wohnung fahren. Wenn Ihnen der Termin nicht zusagt, sollten wir jetzt einen anderen Tag oder eine andere Uhrzeit ausmachen. Herr Börnsen bittet Sie, ihn nicht anzurufen.«

Julia starrte abwechselnd auf die Karte in ihrer Hand und auf die Besucherin. »Okay.«, murmelte sie schließlich. »Vielen Dank! Das war alles?«

»Ja, Frau Jacobs.« Die Hotelangestellte nickte. »Auf Wiedersehen. Einen schönen Abend noch.« Sie wandte sich um und eilte die Stufen hinab. Julia sah ihr nach, lauschte auf das Geräusch ihrer Absätze und kehrte erst in die Wohnung zurück, nachdem unten die Haustür ins Schloss gefallen war.

In der Küche legte Julia die Karte vor sich auf der Tischplatte ab und betrachtete sie. Morgen Vormittag um zehn also. Was mochte Ralf Börnsens Sinneswandel bewirkt haben? Hatte er mit seiner Frau über Julias Besuch gesprochen? Eine Mutter würde sich an die geringste Hoffnung klammern, ihr Kind wiederzusehen, und nicht so ablehnend reagieren. Oder waren dem Hotelier doch Zweifel gekommen? Vielleicht würde sie morgen die Antwort erfahren. Nur die Frage, warum Eriks Eltern nichts davon wussten, dass ihr Sohn nach Cuxhaven zurückgekehrt war, würde auch sie nicht beantworten können.

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