Letzter Sommerabend am Meer

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Letzter Sommerabend am Meer
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Inhalte

1  Titelangaben

2  Kapitel 1

3  Kapitel 2

4  Kapitel 3

5  Kapitel 4

6  Kapitel 5

7  Kapitel 6

8  Kapitel 7

9  Kapitel 8

10  Kapitel 9

11  Kapitel 10

12  Kapitel 11

13  Kapitel 12

14  Kapitel 13

15  Kapitel 14

16  Kapitel 15

17  Kapitel 16

18  Kapitel 17

19  Kapitel 18

20  Kapitel 19

21  Kapitel 20

22  Danksagung

Handlung und Figuren dieses Romans entspringen der Phantasie des Autors. Ebenso die Verquickung mit tatsächlichen Ereignissen. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt. Nicht erfunden sind bekannte Persönlichkeiten, Personen der Zeitgeschichte sowie Institutionen, Straßen und Schauplätze in Cuxhaven, Bremerhaven und im Umland sowie auf Helgoland und in Portugal.

»Cuxland Krimi«® ist eine eingetragene Marke des Autors.

Alle Rechte vorbehalten,

auch die des auszugsweisen Nachdrucks

und der fotomechanischen Wiedergabe

sowie der Einspeicherung und Verarbeitung

in elektronischen Systemen.

© Prolibris Verlag Rolf Wagner, Kassel, 2020

Tel.: 0561/766 449 0, Fax: 0561/766 449 29

Titelfoto: ©Hendrik, adobe stock

E-Book: Prolibris Verlag

ISBN E-Book: 978-3-95475-217-1

Dieses Buch ist auch als Printausgabe im Buchhandel erhältlich.

ISBN: 978-3-95475-206-5

www.prolibris-verlag.de

Der Autor

Wolf S. Dietrich studierte Germanistik und Theologie und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen. Dann war er Lehrer und Didaktischer Leiter einer Gesamtschule. Er lebt und arbeitet heute als freier Autor in Göttingen und Cappel-Neufeld bei Cuxhaven.

»Letzter Sommerabend am Meer« ist sein neunzehnter Krimi im Prolibris Verlag und der siebte, der im Cuxland spielt. Der Autor ist Mitglied im Syndikat, der Autorengruppe deutschsprachiger Kriminalliteratur.

Mehr Informationen zum Autor unter: www.literatur-aktuell.de

Kapitel 1

»Komm! Lass uns ein Stück in die Richtung gehen!« Julia griff nach der Hand ihrer Tochter und deutete in Richtung Kugelbake. »Da ist es nicht so voll.« Tausende Menschen füllten die Grimmershörn-Bucht. Die meisten saßen auf Decken oder anderen mitgebrachten Unterlagen, andere im Gras. Auch die Strandkörbe waren besetzt. Der Boden war trocken, die Sonne meinte es gut mit dem Sommerabend am Meer, wärmte die Besucher noch am frühen Abend. Ein Geräuschteppich aus Stimmengewirr, Gelächter und Musik lag über der Bucht.

»Ich möchte aber lieber hierbleiben.« Leonie zog einen Flunsch und ließ sich nur widerwillig am ausgestreckten Arm vorwärts ziehen. Ihr Blick hing an den bunten Karussells und Verkaufswagen, die sich auf der Stadtseite unterhalb des Deichs in langer Kette aneinanderreihten. Ein sanfter Lufthauch wehte Düfte von gebratenem Fisch und Fettgebackenem, gerösteten Mandeln und Süßigkeiten über die Menschenmenge.

»Außerdem habe ich Hunger«, fuhr die Siebenjährige fort. »Ich möchte …«

»Wir essen später, Leonie«, unterbrach ihre Mutter sie. »Nachher kannst du dir etwas wünschen. Erst suchen wir einen Platz für unsere Decke. Dann darfst du deine Jacke ausziehen. Es ist wärmer, als ich dachte.«

»Und die Schuhe?«

Julia seufzte. »Meinetwegen auch die Schuhe.«

Die Aussichten schienen das Kind zu besänftigen. »Aber nicht mehr so weit«, forderte es nur noch halblaut und verringerte den Widerstand gegen die mütterliche Hand.

»Ich sehe einen Platz für uns«, rief Julia kurz darauf und steuerte auf eine Lücke zwischen den Besuchern zu, die sich auf dem Gras niedergelassen hatten. »Hier ist es nicht so eng. Und wir haben einen schönen Blick auf die Schiffe.«

Wenig später hatte sie die Decke ausgebreitet, die Jacke ihrer Tochter und ihre eigene in der Tragetasche verstaut, sich gesetzt, die Arme um die Knie geschlungen. Während Leonie damit beschäftigt war, die Verschlüsse ihrer Schuhe zu öffnen, sah Julia sich um. Einige Schritte entfernt lagerte eine Gruppe junger Leute, die eine Flasche kreisen ließen und bereits in Feierstimmung zu sein schienen. Zum Glück hielt sich ihr Geräuschpegel in Grenzen. Auf der anderen Seite saßen zwei ältere Ehepaare auf Klappstühlen. Die Frauen unterbrachen ihr Gespräch und nickten ihr freundlich zu, die Männer hatten den Blick auf die Nordsee gerichtet. Weiter unterhalb hatte sich eine Familie mit zwei kleinen Kindern niedergelassen. Die Eltern waren damit beschäftigt, die Kleinen, deren Bewegungsdrang unübersehbar war, im Zaum zu halten.

»Darf ich zum Wasser?« Leonie hatte sich ihrer Schuhe entledigt und sah ihre Mutter erwartungsvoll an.

»Aber nur so weit, wie du mich noch sehen kannst.« Julia deutete zum Ufer. »Und ich dich. Wenn ich winke, kommst du zurück.«

»Okay.« Leonie rannte los, umkurvte im Zickzack die lagernden Menschen und stoppte an der Wasserlinie, wo sie vorsichtig die Zehenspitzen eintauchte. Dann drehte sie sich um und winkte ihrer Mutter zu.

Julia nickte, lehnte sich zurück, richtete den Blick in die Unendlichkeit des blauen Himmels und streckte sich auf der Decke aus. Sie beobachtete ein paar kleine, nahezu unbewegliche Wolken, schloss dann die Augen und lauschte auf die sie umgebenden Klänge. Die Mischung aus menschlichem Geraune, dumpfem Dröhnen entfernter Schiffsmotoren und Musik von den Veranstaltungsbühnen hatten eine entspannende Wirkung. Die Geräusche und Gerüche des Sommerabends am Meer entrückten sie aus dem Alltag. Obwohl sie nur einige Hundert Meter von der Stadt, ihrer Wohnung und ihrem Arbeitsplatz entfernt war, fühlte sie sich wie in einer anderen Welt, genoss eine Leichtigkeit, die sie lange nicht empfunden hatte.

Allzu gern hätte sie den Augenblick gedehnt, aber sie musste Leonie im Auge behalten. Die Vorstellung, sie unter Tausenden Menschen suchen zu müssen, war beängstigend. Sie richtete sich auf. Ihre Tochter hockte an der Wasserlinie, hatte offenbar einen gleichaltrigen Spielkameraden gefunden, dem sie mit großer Geste etwas erklärte, das mit dem Wasser zu tun hatte, in dem die Kinder knöcheltief standen. Meine Tochter ist manchmal etwas altklug, dachte Julia. Vielleicht liegt das daran, dass sie fast nur mit mir zusammen ist, keine Geschwister hat und ohne Vater aufwächst.

Julia war selbst vaterlos aufgewachsen. Gelegentlich hatte sie sich gefragt, ob es eine Gesetzmäßigkeit gab, nach der sich Familienverhältnisse fortsetzten. »Du bist doch eine attraktive Frau«, hatte ihre Mutter bemerkt. »Bei den Ärzten im Krankenhaus müsstest du gute Chancen haben.«

Tatsächlich hatte sie sich – nach einem unschönen Erlebnis auf Helgoland – viele Jahre auf keine dauerhafte Beziehung eingelassen. Leonies Vater hatte sie an ihrem Arbeitsplatz kennengelernt. Er war weder Arzt noch Kollege gewesen, auch kein Patient, sondern der Mann einer Patientin. Ein Fehler.

Den Gedanken an den Erzeuger ihres Kindes schob sie rasch beiseite. Noch gab sich Leonie mit der Erklärung zufrieden, dass es unterschiedliche Familien gab. In manchen gab es einen Papa, in anderen nicht. Ihre Erfahrungswelt in Kindergarten und Grundschule bestätigte diese Aussage. Doch Julia war klar, dass ihre Tochter eines Tages eine eindeutige Antwort verlangen würde.

Zu den spielenden Kindern gesellte sich ein drittes. Es war etwas jünger, eine Frau stand nur wenige Schritte entfernt und beobachtete die Gruppe. Beruhigt lehnte Julia sich zurück und gab sich wieder dem Gefühl des unbeschwerten Augenblicks hin.

Sie schreckte hoch, als ein Schatten auf sie fiel und etwas ihre Schulter berührte. »Mama, ich habe Hunger.« Leonie zerrte an ihrer Bluse. »Du hast mir versprochen …«

»Bin ich eingeschlafen?«, stieß Julia hervor und starrte auf ihre Uhr. Mindestens eine halbe Stunde war vergangen. Dreißig Minuten, in denen sie nicht auf ihre Tochter geachtet hatte. Was hätte in dieser Zeit alles passieren können! Unwillig schüttelte sie den Kopf.

 

»Doch«, beharrte Leonie. »Versprechen muss man halten. Ich will eine Waffel. Mit Himbeermarmelade.«

Benommen richtete Julia sich auf. »Ich weiß nicht, ob es das hier gibt. Aber wir schauen mal. Du bekommst jedenfalls was zu essen.«

Nachdem sie die älteren Damen gebeten hatte, ein Auge auf ihre Decke und die Tasche zu haben, zog sie ihr Portmonee heraus, nahm die Hand ihrer Tochter und suchte einen Weg durch die Menge der lagernden Festbesucher. Schon nach wenigen Augenblicken stieg ihr der Duft von frischen Pfannkuchen in die Nase und weckte auch bei ihr den Appetit. Kurz darauf bissen sie und ihre Tochter in warme Crêpes – mit Schokolade für Leonie und Apfelmus für sie.

Während sie genussvoll kaute und sich am glückstrahlenden Ausdruck ihres Kindes erfreute, wanderte ihr Blick über das farbenfrohe Treiben in der Grimmershörn-Bucht. Es erinnerte an die Wimmelbilder aus einem von Leonies Kinderbüchern. Obwohl die meisten Besucher auf dem Rasen lagerten, gab es überall Bewegung. Vom Strichweg strömten noch immer Menschen heran, vor den Imbissständen drängten sie sich ebenso wie an den Fahrgeschäften. Viele waren in Gruppen unterwegs oder als Paare, nur wenige Einzelpersonen schlenderten über das Festgelände. Der Anblick eines Mannes in einer schwarzen Cargo-Hose und schwarzem T-Shirt an einem Bratwurststand löste ein ungutes Gefühl in ihr aus. Seine Gestalt und die Art seiner Bewegungen erinnerten sie an einen Menschen, den sie niemals hatte wiedersehen wollen. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf. Nein, er konnte es nicht sein. Vor siebzehn Jahren war er verschwunden, mit dem Segelboot auf der Nordsee gekentert. Er und die gemeinsame Freundin waren ertrunken. Das hatten Polizei und Seenotrettung festgestellt. Allerdings waren ihre Leichen nie gefunden worden. Nur die der dritten Person, die mit an Bord gewesen war.

Ihr war, als hätte sich die gesamte Küste verdunkelt. Hatte sich eine Wolke vor die Sonne geschoben? Gleichzeitig sank der Geräuschpegel, die Bewegungen der Menschen schienen sich zu verlangsamen. Wie in Zeitlupe wandte sich der Mann um. Julia erstarrte. Fast wäre ihr die Crêpe aus der Hand gefallen.

Er trug einen Bart. Aber es war sein Gesicht. Ihr Gehirn weigerte sich, die Botschaft der Augen anzunehmen. Es konnte nicht sein, durfte nicht sein. Ein Zwillingsbruder? Oder nur eine verblüffende Ähnlichkeit?

Der Schock schnürte ihr Hals und Magen zu, angeekelt betrachtete sie den Rest des gerollten Teigfladens in ihrer Hand. Essen wirft man nicht weg, hatte sie ihrer Tochter beigebracht. Leonie mampfte vergnügt vor sich hin, Schokoladenspuren reichten von einem Ohr zum anderen. Julia schloss die Augen und atmete tief durch. Vielleicht hatte sie sich geirrt. Eine Sinnestäuschung. Ohne es zu wollen, richtete sie den Blick erneut zum Imbiss. Der Mann nahm eine Bratwurst entgegen, wandte sich zur Seite, beugte sich vor und biss vorsichtig hinein. Sein Profil war deutlich zu erkennen. Die linke Hand strich über den Oberschenkel. Eine für ihn typische Bewegung. Es gab keinen Zweifel.

Julias Puls hatte sich beschleunigt, jeden Herzschlag spürte sie bis zum Hals. Schweiß rann ihr in den Nacken. »Mama«, meldete sich Leonie, »schmeckt dir deine nicht?« Sie hob ihr die verschmierten Hände entgegen. »Meine ist alle.«

»Möchtest du noch ein bisschen von mir?« Ihre Tochter nickte begeistert und griff mit beiden Händen nach der Crêpe.

Während das Kind den Rest des dünnen Pfannkuchens vertilgte, suchten Julias Augen nach dem Mann. Er wandte ihr den Rücken zu, war offensichtlich mit der Bratwurst beschäftigt. Wenig später ließ er die Pappschale zu Boden fallen, zog eine Getränkedose aus der Tasche seiner Cargo-Hose, öffnete den Verschluss und leerte den Inhalt in einem Zug. Dann warf er die Dose in einen Abfallbehälter und schlenderte in Richtung Hafen davon.

Es gelang Julia nicht, den Blick abzuwenden. Erst als Cargo-Hose und T-Shirt in der Menge verschwunden waren, wandte sie sich Leonie zu, die an ihrem Ärmel zupfte. »Durst!«

Statt ihre Tochter daran zu erinnern, dass sie in ganzen Sätzen sprechen sollte, nickte sie nur und deutete auf einen Getränkestand. »Da drüben gibt’s was.«

Entgegen Julias Grundsätzen bekam Leonie eine Limonade, sie selbst blieb bei Wasser, registrierte die hohen Preise nicht, verzichtete aufs Wechselgeld und folgte ihrem Kind, das mit schlafwandlerischer Sicherheit zu ihrem Platz zurückfand. In Julias Kopf kreisten Bilder aus der Vergangenheit, die sich nicht vertreiben ließen.

2002

»Nach Helgoland? Mit dem Segelboot?« Julia war skeptisch, fragend sah sie ihre Freundin an. Katharina zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?«

»Ich kriege die neue Yacht von meinem Alten«, hatte Erik großspurig verkündet. »Am Wochenende machen wir einen Törn zu Deutschlands schönster Hochseeinsel.«

»Gibt ja nur die eine«, lachte Benny und reckte beide Daumen in die Höhe. »Ist aber ’ne coole Idee! Da können wir billig einkaufen. Whisky, Aquavit, Gin …« Er brach ab und fing die Dose auf, die Erik ihm zuwarf.

Ungewöhnlich warme Tage hatten in Cuxhaven, Döse, Duhnen und Sahlenburg für volle Strände gesorgt. Auch das Freibad Steinmarne war gut besucht. Julia und ihre Freunde lagen etwas abseits des Beckens auf ihren Handtüchern und ließen das Duschwasser auf der Haut trocknen, mit dem sie das Meersalz abgespült hatten. Erik hatte kaltes Bier vom Kiosk geholt, das er jetzt verteilte.

»Auf der Seeteufel gibt es genug Platz«, fuhr er fort, nachdem er seine Bierdose geöffnet und einen Schluck genommen hatte. »Geräumige Kabine, sechs Kojen. Pantry mit Kühlschrank. Toilette, Dusche – alles vom Feinsten. Wir können auf dem Boot übernachten.«

»Und die Mädels können was Leckeres kochen.« Benny kicherte. Julia warf ihm einen unwilligen Blick zu. »Das glaubst du. Aber mal abgesehen davon, dass Kathi und ich euch sicher nicht bedienen werden, weiß ich nicht, ob ich überhaupt mitkommen will. Ich fühle mich auf einem Boot nicht besonders wohl.«

Katharina sah sie an. »Wirst du seekrank?«

»Das wohl nicht. Jedenfalls nicht auf einem größeren Schiff. Aber wenn es zu sehr schaukelt … Ich weiß nicht. Wir können doch mit der Wappen von Hamburg fahren.«

»Langweilig.« Erik winkte ab. »Stundenlang zwischen Rentnern sitzen? Auf der Seeteufel sind wir unter uns. Außerdem ist es richtig geil, wenn die Yacht gut im Wind liegt und mit fast zehn Knoten durch die Wellen schießt. Wir könnten in fünf Stunden auf der Insel sein.«

»Und wenn kein Wind ist? Oder zu viel Wind? Sturm? Regen? Gewitter?«

»Ach Jule,« stöhnte Erik. »Miesmachen gilt nicht. Ohne Wind können wir natürlich nicht segeln, da bleiben wir im Hafen. Bei schlechtem Wetter auch. Dann fahren wir eben eine Woche später. Oder im nächsten Monat. Aber die Seewettervorhersage fürs Wochenende ist richtig gut.«

»Wir könnten erst mal einen kleinen Törn machen«, schlug Katharina vor. »Zur Insel Neuwerk oder … nach … Brunsbüttel. So ’ne Art Probe. Ohne Übernachtung. Dann sehen wir weiter. Vielleicht gefällt es Jule ja. Nach Helgoland können wir immer noch.«

»Aber nicht zu lange aufschieben«, wandte Benny ein. »Zollfreien Einkauf gibt’s nur da. Jeder kann eine Stange Zigaretten mitbringen. Und die Flasche Jack Daniel’s gibt’s für unter zwanzig Mark. Für die Mädels …«

»Mark?« Erik grinste. »Ich musste gerade das Bier mit dem Teuro bezahlen. Neunzig Cent die Dose. Letztes Jahr waren es noch eine Mark zwanzig.«

Benny verdrehte die Augen. »Ja, ich meine natürlich Euro. Beim Umrechnen haben die bestimmt was draufgeschlagen. Aber der Einkauf ist immer noch günstig. Auch für euch.« Er nickte Katharina und Julia zu. »Parfüm zum Beispiel. Meine Mutter hat neulich auf Helgoland ihr Chanel soundso für unter hundert … äh, Euro gekauft. Letztes Jahr hat mein Alter in Cuxhaven dafür hundertfünfundsiebzig Mark hingeblättert.«

»Wir machen aber keine Einkaufstour«, wandte Katharina ein. »Oder?«

Erik leerte seine Bierdose und drückte sie zusammen. »Nee. Ich dachte mehr so an ein … Gemeinschaftserlebnis.« Sein Blick streifte Julia. »Wo man sich ein bisschen näherkommt. Drei Tage auf einem Boot – das schweißt zusammen.«

Julia befiel die Ahnung, Erik könnte dabei weniger an Kameradschaft gedacht haben. Er war schon länger mit Katharina zusammen. Aber hin und wieder hatte sie Blicke von ihm registriert, in denen mehr als nur freundschaftliche Verbundenheit zu lesen gewesen war. Andererseits – wenn sie zu viert auf der Segelyacht wären, gäbe es keine Möglichkeit … »Wie ist das eigentlich auf dem Boot?«, fragte sie. »Haben Kathi und ich eine eigene Kabine?«

»Es gibt drei mal zwei Kojen«, erklärte Erik. »Die sind durch einen … Also die sind getrennt.« Er grinste anzüglich. »Aber man könnte ja mal was ausprobieren.«

»Wie meinst du das?« Katharina hatte sich aufgerichtet und warf mit einer Handbewegung ihr langes dunkles Haar über die Schultern.

»Nur so. Ganz allgemein.« Erik zuckte mit den Achseln. »Wer welche Koje kriegt, entscheiden wir, wenn es so weit ist. Natürlich haben die Damen den Vortritt. Ich dachte allerdings, dass jedes Pärchen …«

»Das hat doch Zeit«, unterbrach Benny ihn. »Ich finde Kathis Vorschlag gut. Erst mal auf ’ne kürzere Fahrt und danach den Trip nach Helgoland. – Braucht man dafür nicht einen Hochseeschifferschein? Hast du den überhaupt?«

»Klar«, gab Erik zurück. »Jedenfalls so gut wie. Donnerstag mach ich die Prüfung.«

»Und einen Tag später willst du mit uns nach Helgoland schippern?« Julia konnte ihre Bedenken nicht verbergen.

Erik winkte ab. »Die Prüfung ist nur theoretisch. Mehr oder weniger Formsache. Mit meinem Sportküstenschifferschein kann ich jetzt schon überall hinfahren. Ist ja eine private Fahrt auf ’ner privaten Yacht. Genug Praxis habe ich. Mach dir keine Sorgen!« Sein Lächeln war strahlend und entwaffnend zugleich. »Wir machen einen Ausflug zur Insel Neuwerk, und wenn es dir nicht zusagt, findet der Helgoland-Törn ohne dich statt. Einverstanden?«

»Okay.« Julia nickte erleichtert. »Tagesausflug ohne Übernachtung – da bin ich dabei.«

Dennoch blieb bei ihr eine Spur Skepsis zurück. Sie nahm sich vor, Katharina zu fragen, was sie von Eriks Plänen hielt. Die Freundin verhielt sich in seiner Gegenwart anders als sonst. Ruhiger und zurückhaltender. Darum musste sie unter vier Augen mit ihr sprechen. Von Benjamin konnte sie kein unvoreingenommenes Urteil erwarten. Er bewunderte seinen Freund und stand ein wenig in dessen Schatten. Das hätte er zwar nie zugegeben, aber ihm fehlte es an Selbstbewusstsein, um sich Eriks Führungsanspruch entziehen zu können. Er kam aus kleinen Verhältnissen; seine Mutter war Verkäuferin in einer Filiale des Bäckers und Konditors Itjen, der Vater arbeitete als Monteur bei der CuxStahl in der Turbinenproduktion. Erik dagegen war mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel zur Welt gekommen. Seine Eltern führten ein großes Hotel, das zu einer bekannten Kette gehörte. Ihnen gehörte eine Villa in Duhnen und ein Geschäftshaus in der Fußgängerzone. Die Mutter, hieß es, hätte hochwertige Immobilien in Hamburg geerbt. Sie hatten viel Geld, aber wenig Zeit für ihren Sohn. In Benny hatte er einen Freund gefunden, der sich seiner schon in der Grundschule angenommen, ihm den Weg durchs Amandus-Abendroth-Gymnasium geebnet und mehr als einmal vor dem Scheitern bewahrt hatte. Dafür musste Erik ihm dankbar sein. Vielleicht war er das auch, andererseits hatte Julia gelegentlich das Gefühl, dass Erik seinem Freund die besseren Noten und das Glück einer intakten Familie neidete.

Katharina unterbrach ihre Gedanken. »Mir ist heiß. Ich geh’ ins Wasser. Wer kommt mit?«

Eine gute halbe Stunde verbrachten die Freunde im klaren Meerwasser des Freibades. Während sie schwammen und tauchten, sich gegenseitig jagten und unter die Wasseroberfläche drückten, fing Julia hin und wieder Eriks Blick auf. Er war schwer zu deuten, eine Mischung aus Bewunderung und neugieriger Erwartung. Obwohl sie sich nun schon länger kannten, hatte sie diesen Ausdruck so noch nie bei ihm gesehen.

Unter der Dusche deutete Julia mit einer Kopfbewegung in Richtung Toiletten und sah ihre Freundin fragend an. Katharina nickte. »Ich komme mit.«

»Wie findest du das?«, fragte sie auf dem Weg. »Ich meine die Idee mit Helgoland.«

»Nicht schlecht«, antwortete Kathi. »War schon lange nicht mehr da. Und so ein Trip zu viert ist bestimmt krass. Wir, also Erik und ich, waren schon ein paar Mal mit der Yacht unterwegs. Zu zweit ist es nicht sooo spannend, weil er ständig mit den Segeln und dem ganzen Zeug und mit Navigation beschäftigt ist. Aber er kann das, hat alles im Griff. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Auf dem Deck in der Sonne zu liegen und aufs Meer hinausschauen – das ist schon megacool. Wenn wir zu viert fahren, haben wir bestimmt jede Menge Fun. Außerdem …« Sie brach ab und sah sich um.

 

»Außerdem?«

»Ich möchte Erik den Spaß nicht verderben. Er will die neue Yacht seines Vaters vorführen und zeigen, was er kann. Wenn ich dagegen bin, ist er wahrscheinlich sauer. In letzter Zeit lief’s nicht so gut bei uns, wir hatten ein paar Mal Streit. Nach dem Helgoland-Trip ist er bestimmt wieder besser drauf. Ich habe nächste Woche Urlaub, dann wollen wir uns ein paar schöne Tage machen.«

»Dann soll das so eine Art Paartherapie werden?« Julia schüttelte unbewusst den Kopf. »Ich glaube nicht, dass es funktioniert.«

»Vielleicht doch.« Kathi sah ihre Freundin bittend an. »Es ist jedenfalls eine Chance. Für Erik ist diese Tour total wichtig. Auch dass ihr dabei seid. Zusammen werden wir unseren Spaß haben. Komm mit, Jule! Es ist nicht gefährlich. Und es kostet nichts.«

Julia spürte, wie sehr Katharina am Gelingen des Vorhabens lag. »Also gut«, sagte sie schließlich, »ich überleg’s mir. Wenn es mir bei unserer Probefahrt auf dem Boot gefällt, komme ich mit.«

Am Abend vor dem geplanten Ausflug nach Neuwerk rief Katharina an. »Wegen unseres Segeltörns«, erklärte sie. »Wir fahren doch schon morgen nach Helgoland. Es gibt nur noch drei schöne Tage. Danach wird es kühl und regnerisch und bleibt voraussichtlich längere Zeit unbeständig. Wann wir dann noch fahren können, ist ziemlich ungewiss. Deshalb möchte Erik nicht warten. Mit Benny hat er schon gesprochen, er ist dabei. Du kommst doch auch mit, oder?«

Julia zögerte mit einer Antwort. Einerseits reizte sie das Abenteuer. Die Wettervorhersage fürs Wochenende war gut. Eigentlich sprach nichts gegen den Törn. Andererseits war ihr die Vorstellung, zwei Nächte in der Koje einer Segelyacht zuzubringen, nicht ganz geheuer. »Ich weiß nicht, Kathi. Das kommt jetzt ein bisschen überraschend.«

»Du hast es mir versprochen«, drängte Katharina. »Bitte, Jule. Lass mich jetzt nicht hängen!«

Julia atmete tief durch und schob ihre Bedenken beiseite. Was sollte schon schiefgehen? Sie waren zu viert. Erik besaß einen Segelschein und konnte mit der Yacht umgehen. Zur Not konnten sie ja immer noch umkehren. »Also gut. Ich bin dabei. Wann und wo treffen wir uns?«

Katharina stieß einen kleinen Freudenschrei aus. »Um halb zwei am Yachthafen. Wir wollen pünktlich los. Wegen der Tide. Man muss kurz vor Hochwasser starten, damit einen das fallende Wasser mitnimmt. Sonst dauert die Überfahrt zu lange. Erik und ich sind schon früher da und bereiten alles vor. Du brauchst nichts weiter mitzubringen. Nur ein bisschen Kosmetik und was zum Anziehen.« Sie kicherte. »Abends landen wir garantiert bei Krebs.«

Die Erinnerung an ihren ersten Besuch in einer Diskothek ließ Julia lächeln. Während eines Schulausflugs hatten sie, Kathi und eine dritte Freundin sich heimlich in die Helgoländer Disco abgesetzt, bei Falcos Out oft the dark laut mitgesungen und sich bei My heart will go on mit Celine Dion romantischen Gefühlen hingegeben. Sogar auf eine heftige Knutscherei hatte Julia sich eingelassen. Mit einem Typen, an dessen Namen sie sich nicht mehr erinnerte. Nur daran, dass er nach Leberwurst geschmeckt hatte.

»Okay. Alles klar. Ich bin pünktlich am Yachthafen.« Julia verabschiedete sich von Katharina und wandte sich ihrem Kleiderschrank zu. So wenig wie möglich mitzunehmen und trotzdem gut auszusehen, war nicht so leicht. Auch auf die Frage, was sie ihrer Mutter erzählen sollte, hatte sie noch keine Antwort. Die Wahrheit würde sie ihr nicht zumuten. Am besten wäre wohl die bewährte Ausrede, ihre Freundin Steffi in Bad Bederkesa besuchen und dort übernachten zu wollen.

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