Die Erfindung des ewigen Juden

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IX

Als wir in die Hermannstraße zogen, war ich acht Jahre alt und Schüler der zweiten Klasse in der Volksschule. Vier Jahre lang gingen die Kinder jeglicher Herkunft, wenn sie keine Privatschulen besuchten, damals in diese Schule. Dann trennten sich die Schulwege der Gleichaltrigen. Die Arbeiterkinder blieben in der Volksschule, während die Kinder der unteren Angestellten und Beamten zur Mittelschule, wie damals die Realschule hieß, und die Kinder der höheren Angestellten und Beamten und die der meisten Selbstständigen zur Oberrealschule oder zum Gymnasium wechselten. Elternhaus, Schulart und Ausbildung sorgten damals viel mehr noch als heute für die Erhaltung der sozialen Unterschiede. Kein Arbeiter konnte damals davon träumen, seine Kinder zum Gymnasium zu schicken oder gar studieren zu lassen. Schon darum nicht, weil er das Schulgeld gar nicht bezahlen konnte. Daran änderte sich auch in den Hitlerjahren nichts. Nur die katholische Kirche hat begabte Knaben aus armen Familien mit Stipendien oder Aufnahme in ihre Klosterschulen gefördert. Jedenfalls verschwand zum Ende des vierten Schuljahres ein Drittel der Schüler meiner Klasse, allesamt Söhne besser gestellter Familien, die nun die Mittel- oder Oberschule besuchten. Übrig blieben wir Hinterhauskinder. Zwei Mitschüler, die in den vier Jahren nie das Schreiben, Lesen und Rechnen erlernt hatten, wurden in die Hilfsschule geschickt. Der Rest der Klasse blieb für weitere vier Jahre beisammen.

Anders als die meisten Väter der Hinterhauskinder, die vor Hitler den linken Arbeiterparteien nahegestanden hatten oder sogar Mitglieder der sozialdemokratischen oder der kommunistischen Partei gewesen waren und ihre Überzeugungen auch unter der Einwirkung der allgegenwärtigen Propaganda des Systems nicht so schnell aufgaben, schlossen sich ihre Kinder nach meiner Erinnerung ziemlich rasch Hitler und seinen Ideen an. Dahin wirkte vor allem die politische Indoktrination in der Volksschule, wo die Lehrer erstaunlich schnell Parteiabzeichen trugen und die Standpunkte der Hitlerpartei vortrugen. Jüdische Lehrer gab es schon lange nicht mehr. Sie waren bald nach dem Beginn des Hitlerregimes aus dem Schuldienst entlassen worden. Die Nazidoktrin erfasste rasch alle Fächer. Ganz gleich, ob in Deutsch, Geschichte, Heimat- oder Erdkunde: Immer stand der Versailler Vertrag im Vordergrund, die Gebiete, die Deutschland damals abtreten musste, die riesigen Reparationen, die ihm auferlegt wurden und jahrzehntelang bezahlt werden sollten, die Kolonien, die ihm weggenommen worden waren. Der Weltkrieg 1914-1918, den Deutschland vorgeblich nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in der Heimat, durch die von den linken Parteien angezettelten Streiks der Rüstungsarbeiter, verloren hatte. Die Novemberverbrecher, die Verräter, Juden zumeist, die den Waffenstillstand erzwungen und die Republik eingeführt hatten. Im Felde unbesiegt, lautete die Parole, die uns Schülern immer wieder eingetrichtert wurde.

Einzelheiten über die abgetretenen Gebiete, über die verlorenen Kolonien und die gewonnenen Schlachten, über die U-Boot-Kommandanten, die Jagdflieger-Asse und Stoßtruppführer an der Westfront gehörten ebenso zum Lernpensum der Volksschüler wie, zweiter Schwerpunkt des Unterrichts, Aufzählungen der menschlichen Rassen und ihrer Eigenschaften. Rassenkunde war schon 1933 als Pflichtfach eingeführt worden. Die Geschichte von den jüdischen Kriegsgewinnlern und den von Juden geführten linken Parteien, die Deutschland den Sieg genommen hatten, war nahtlos verbunden mit der zentralen Botschaft des Regimes, die zwischen den Ariern als der hellen und schöpferischen Rasse und den Juden als der finsteren und schmarotzerischen Gegenrasse unterschied. Den Juden, die durch genetische Vermischung den Ariern die schöpferische Kraft nehmen und die Weltherrschaft erringen wollten. Wer genau zu den arischen Völkern zählte, ist im Unterricht nie recht deutlich geworden. Viel später habe ich erfahren, dass dieser Begriff eigentlich in den Sprachwissenschaften angesiedelt war. Arier, so lernten wir damals, das waren die Griechen, die Römer und jedenfalls die Germanen im Norden und ihre Nachfahren. Eine Doktrin also, in der die Mehrheit der Menschheit ebenso wie Jahrtausende alte Kulturen gar nicht vorkamen. Immer nur die Arier und die Juden. Die Germanen, die zur Zeit des Römischen Reiches noch in den Wäldern Mittel- und Nordeuropas gelebt hatten, wie Walter Löwenberg trocken feststellte. Er wusste nicht, dass Hitler selbst sich bei verschiedenen Gelegenheiten über den Germanenkult seiner Anhänger lustig gemacht hat. Das antike Hellas und das römische Imperium stellte er, der verkannte Künstler, weit über die frühen Waldbewohner des Nordens. Freilich waren die Griechen und die Römer in seinen Augen Arier, Abkömmlinge also der mythischen indogermanischen Rasse, die einst aus dem Nirgendwo nach Europa gekommen sein sollte. Eine Ethnie, die von den Forschern nie zweifelsfrei verortet werden konnte.

Später, in der zweijährigen Handelsschule, in der die meisten Lehrer promovierte Studienräte waren, habe ich die Rassendoktrin der Nationalsozialisten dann auch in pseudowissenschaftlicher Verpackung kennengelernt. Am Kern der Argumentation hat das indessen nicht viel geändert. Drei simple Glaubenssätze haben Hitlers Weltbild in der Sicht dieser Lehrer ausgemacht, wenn ich das damals richtig verstanden habe. Erstens: Die These vom Fehlen des Nahrungsspielraums für ein weiteres Wachstum der deutschen Bevölkerung in ihren damaligen Grenzen als Grundlage eines künftigen Eroberungskrieges im Osten. Zweitens: Die These, dass der internationale Handel ein Nullsummenspiel, der Gewinn des Einen der Verlust des Anderen sei, als Grundlage der Forderung nach wirtschaftlicher Autarkie des Deutschen Reichs. Autarkie, die Eroberungskriege zu führen erlaubte, die der Gewinnung neuer Nahrungs- und Rohstoffquellen im Osten gelten würden. Autarkie, die es den Gegnern nicht noch einmal erlauben würde, das Deutsche Reich mit überlegenen Ressourcen niederzuproduzieren. Drittens: Die These vom ewigen Kampf der Arten, in simplifizierender Manier auf menschliche Völker und Rassen übertragen und in einen irrationalen Judenhass getränkt. Verballhornte und auf den Kopf gestellte Sätze der Wissenschaft und Literatur des 19. Jahrhunderts, die in der Fachwelt längst als Aberglaube abgetan waren. Aber das habe ich erst viele Jahre später verstanden. Immer ging es darum, der einen ethnisch verstandenen Gruppe, den Nichtariern, naturbedingte Minderwertigkeit und der anderen, den Ariern, Höherwertigkeit zuzuweisen und aus solchen willkürlichen Wertungen das Recht herzuleiten, um der Reinheit der eigenen, der höherwertigen Rasse willen die als minderwertig genommenen Rassen auszugrenzen oder gar auszurotten. Worin die Unterschiede in der sozialen und kulturellen Wertigkeit beider Gruppen bestanden, wurde von Hitler und seinen Nachbetern an keiner Stelle schlüssig erklärt. Die Höher- und Minderwertigkeit wurde einfach behauptet oder mit der schlichten Zuweisung positiv oder negativ besetzter menschlicher Eigenschaften begründet. Den Juden, einer kleinen, über die ganze Welt verstreuten Glaubensgemeinschaft, wurden - ungeachtet der Tatsache, dass sie die Bibel geschrieben und große Philosophen, Komponisten, Schriftsteller und Wissenschaftler hervorgebracht hatten - kulturelle Leistungen einfach abgesprochen. Stattdessen traten sie in Hitlers Horrorbild als Schmarotzer auf, als Krankheitserreger, die sich in den arischen Volkskörper einzunisten und ihn zu zerstören trachteten. Und die Gebildeten unter seinen Gefolgsleuten trugen die antisemitischen Vorurteile mit Hilfe pseudowissenschaftlicher Analogieschlüsse aus der Biologie und in der Sprache der Tier- und Pflanzenzucht vor. Diese Mühe machte sich Dr. Graf nicht, mein Klassenlehrer in der Handelsschule, der, überzeugter Anhänger Hitlers, oft in der braunen Parteiuniform im Unterricht erschien und in den Deutschstunden mit großer Begeisterung über frühmittelalterliche Epen dozierte. Die Juden, erklärte er immer wieder, seien solcher Schöpfungen nicht fähig. Sie seien allenfalls zu kommerziellen, nicht aber zu kulturellen Leistungen in der Lage. Das Schachern, nicht die schöpferische Tat sei ihr naturgegebenes Talent.

Umgeben von jüdischen Verwandten, an denen ich keine der Eigenschaften entdecken konnte, die ihnen von der Nazidoktrin angedichtet wurden, war ich als Knabe und später eigentlich nicht in Gefahr, dem Antisemitismus anzuhängen. Gestehen muss ich freilich, dass ich das „Weltjudentum“ im Sinne von mafiahaft verbundenen jüdischen Kapitalisten, die in London und New York lebten, von wo sie die Weltmärkte beherrschten, eine Weile lang für Wirklichkeit gehalten habe. Und meine jüdischen Verwandten haben dem nicht direkt widersprochen. Vielleicht, weil sie als Kommunisten ohnehin etwas gegen Kapitalisten hatten. Eher aber darum, weil sie mit einem vorlauten Jungen nicht über Juden und Judenfeindlichkeit sprechen wollten. Es war meine Mutter, die mir am Ende geholfen hat, das absurde Bild vom Weltjudentum loszuwerden, das im Zerrbild der Nazipropaganda sowohl den Weltkapitalismus wie den Weltbolschewismus lenkte. Beides bloße Phantasiegebilde, aber keine mafiösen Geheimbünde, in denen eine weltumfassende Verschwörung gegen die Deutschen geplant und in Gang gebracht wurde. Es brauchte Zeit, bis ich das verstanden hatte.

Dass es ein solches „Weltjudentum“ nicht gibt, hat mir, als ich vierzehn Jahre alt war, also erst im Krieg, Pfarrer Merten, ein Mitglied der Bekennenden Kirche, an dessen Konfirmandenunterricht ich damals teilnahm, klarzumachen versucht. Er hat mir in unserem Gespräch, das auf Bitte meiner Mutter zustande kam, zu bedenken gegeben, dass es einigermaßen absurd wäre, wenn verschworene Juden wirklich die Lenker sowohl des Weltkapitalismus als auch des Weltbolschewismus wären, zweier politischer Philosophien und gesellschaftlicher Ordnungen, die einander ganz und gar widersprächen. Im Grunde, sagte Pfarrer Merten, liefe das schlichte Weltbild des Nationalsozialismus auf eine verweltlichte Religion, auf den Glauben an den Kampf des Guten gegen das Böse, des Hellen gegen das Dunkle, des Ariertums gegen das Judentum hinaus. Rasse und Gegenrasse also, wobei die phantasierte Gegenrasse, eine sehr kleine, über die ganze Welt verstreute Menschengruppe, dämonisiert werde, um den behaupteten weltumfassenden Kampf der Rassen überhaupt plausibel erscheinen zu lassen. Das Weltjudentum sei eine antisemitische Fiktion. Das sind meine Worte, die eines Erwachsenen, der sich seiner Jugend erinnert. Pfarrer Merten hat das seinerzeit, jegliches Fach- und Fremdwort vermeidend, in ruhigem Ton vorgebracht, als spräche er über ganz gewöhnliche Dinge. Ich muss gestehen, dass ich damals, als Vierzehnjähriger, nicht sofort fähig war, diesem Appell an meinen Verstand zu folgen, einer Aufforderung, die von einem klugen und mutigen Mann an mich gerichtet wurde und die, wenn man sie in noch einfachere Worte übersetzte, den Ansichten entsprach, die ich zu Hause vernehmen konnte, wenn sich meine Familie über Hitler und seine Reden und Taten unterhielt. Pfarrer Merten hat, ist mir erst später klargeworden, mit seinen Äußerungen viel riskiert. Er muss großes Zutrauen in die Aufrichtigkeit und die Urteilsfähigkeit meiner Mutter gefasst haben. Und in die Verschwiegenheit eines zehnjährigen Knabens, den er kaum kannte. Und dieses Vertrauen habe ich nicht enttäuscht. Andere evangelische Pfarrer sind verraten worden und im Konzentrationslager gelandet.

 

Jüdische Mitschüler gab es in unserer Klasse bereits 1933 nicht mehr. Der einzige jüdische Junge, der mit mir 1932 eingeschult wurde, Karl Heinz Süss, war kurz nach dem Beginn des Hitlerregimes mit seinen Eltern nach England ausgewandert. Auf dem Klassenbild, das bei der Einschulung gemacht wurde, sitzt er in der ersten Reihe, und nichts Belangvolles unterscheidet ihn von den anderen Schülern auf dem Bild. In den höheren Klassen meiner Schule wird es damals sicherlich den einen oder anderen jüdischen Schüler gegeben haben, der dann im Unterricht und in den Pausen mancherlei verletzende Erfahrungen machen musste. Jedenfalls in den wenigen Jahren, in denen jüdische Schülerinnen und Schüler noch an staatlichen Schulen geduldet wurden. Nach dem Novemberpogrom 1938 war es nämlich jüdischen Jungen und Mädchen verboten, deutsche Schulen zu besuchen. Sie konnten nur in die Notschule gehen, die von der Jüdischen Gemeinde in einer Baracke in der Mainzer Straße eingerichtet worden war und an der jüdische Lehrer unterrichteten, die aus dem staatlichen Schuldienst entlassen worden waren. Das traf auch meine jüdischen Cousins und Cousinen. Sie, die Kinder armer Leute, konnten und wollten nicht mit ihren Eltern auswandern oder an den Kinderverschickungen nach England und in andere europäische Länder teilnehmen, die vor dem Krieg von jüdischen und nichtjüdischen Einrichtungen in Europa organisiert worden waren und Tausenden jüdischen Kindern das Leben retteten. Sie hatten auch keine Verwandten im Ausland, die sie hätten aufnehmen können. Also gingen sie in die jüdische Notschule in der Mainzer Straße.

Im Religionsunterricht wurde ein Lehrer, dessen Namen ich vergessen habe, der aber jedenfalls der Bekennenden Kirche angehörte, durch ein Mitglied der hitlerhörigen Deutschen Christen, Herrn Henrich, abgelöst. Ein Mann um vierzig, mit Parteiabzeichen am Revers und dem Hitler-Stutzbärtchen, das damals viele Männer trugen. Die Deutschen Christen waren die Vereinigung der regimeergebenen evangelischen Pfarrer. Ihnen standen die Mitglieder der Bekennenden Kirche gegenüber, evangelische Pfarrer, die versuchten, Distanz zum Hitlerregime und seinen kirchen- und menschenfeindlichen Parolen zu halten. Nicht wenige Mutige unter ihnen bezahlten, wie ich erst nach dem Krieg erfahren habe, ihre Haltung mit Verhaftung, Gefängnis und Konzentrationslager. Und manche sind am Galgen oder unter dem Schafott gestorben. Von dieser Spaltung der Evangelischen Kirche habe ich damals natürlich nichts gewusst. Herr Henrich, der den Klassenraum mit „Heil Hitler“ betrat und verließ, ließ nur das Neue Testament und nicht auch das Alte gelten. Dieses sei Juden- und damit Teufelswerk. Es müsse aus deutschen Kirchen, deutschen Bibliotheken und deutschen Häusern ohne Ausnahme verschwinden. Die Geschichte der Juden, die im Alten Testament lang und breit erzählt werde, ginge die Deutschen nichts an. Überdies stecke das Alte Testament voller Lügen, Übertreibungen und Verdrehungen. Jesus Christus sei überdies nicht Jude, sondern Nachkomme germanischer Söldner des Römischen Reiches und damit Arier gewesen, und darum hätten die Juden ihn ermordet. Wiederum blieb nebulös, wer denn nun die Arier und wer die Nicht-Arier waren. Manche Lehrer verwechselten, wie ich viel später lernte, die Gemeinsamkeiten der indoeuropäischen Sprachen mit genetischen Ähnlichkeiten unter den Völkern dieser Sprachgruppe. Im Religionsunterricht von Herrn Henrich spielte das christliche Gebot der Nächstenliebe keine Rolle. Er sprach stattdessen begeistert von Hitler als dem von Gott gesandten Retter der arischen Rasse. Herr Henrich versuchte also, Christentum und Nationalsozialismus unter einen Hut zu bringen. Er stand damit damals sicherlich nicht allein. Ich denke an die vielen Pressefotos mit Würdenträgern der evangelischen und katholischen Kirche, die den rechten Arm zum Hitlergruß ausgestreckt hatten. Beide Kirchen haben in den zwölf Hitlerjahren niemals ex cathedra Proteste gegen die Judenverfolgung vernehmen lassen. Anders als einzelne ihrer Pfarrer und Priester, die ihren Widerstand oft mit dem Leben bezahlen mussten.

Meine Mutter, der ich die von Herrn Henrich vertretene Auffassung zu erklären versuchte, schüttelte den Kopf und fragte mich, wie sich das christliche Gebot der Nächstenliebe, das nach der Heiligen Schrift für alle Menschen Gültigkeit besitze, mit dem Rassenwahn Hitlers und seiner Gefolgsleute vertrüge. Wie wohl die abfälligen Reden über die „Humanitätsduselei“ jener, die gegen die Verfolgung von Juden und anderen unschuldigen Menschen waren, mit dem Wort Jesu in Einklang zu bringen seien. Ob man sich Christus in einer SA- oder SS-Uniform vorstellen könne. Ob Jesus und die Apostel irgendwann, irgendwo von Ariern gesprochen hätten. Wer das überhaupt sei, diese Arier. Natürlich wusste ich auf diese Fragen keine Antwort. Trotzdem: Jesus Christus als Wegbereiter Hitlers, das kam auch mir, dem damals Zehnjährigen, sehr seltsam vor. Hitler selbst sprach nie von Christus, sondern, vor allem im Krieg, von der „Vorsehung“, und später, als seine Sache längst verloren war, vom „Allmächtigen“, der ihm den Weg weise. Manchen Menschen soll dabei ein Schauer den Rücken hinuntergelaufen sein.

Die meisten unserer Lehrer waren zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Meist Teilnehmer des Ersten Weltkriegs, in einem Lehrerseminar schnell mit dem nötigsten Wissen versehen und als völkisch und national Gesinnte im Schuldienst belassen, während die jüdischen Lehrer und die mit sozialdemokratischer oder gar kommunistischer Vergangenheit unmittelbar nach dem Beginn des Hitlerregimes mit Hilfe des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ entlassen oder pensioniert worden sind. Das habe ich als Erstklässler erlebt, und einiger der damals entlassenen Lehrer und Lehrerinnen erinnere ich mich noch gut.

Für uns waren die im Dienst belassenen Lehrer alte Männer in mausgrauen Konfektionsanzügen, denen wir wenig Respekt entgegenbrachten. Wir haben sie nicht als Vorbild für unser eigenes späteres Leben betrachtet. Der einzige Lehrer, der kein Parteiabzeichen trug und in eher legerer Kleidung im Klassenraum erschien, war Herr Zincke, der Zeichenlehrer. Der Name Hitler kam ihm niemals über die Lippen. Er sah sich erkennbar als Künstler, als Maler und Zeichner, der den Frondienst in der Schule offenbar auf sich nahm, weil er vom Verkauf seiner Werke nicht leben konnte. Später, nach dem Krieg, habe ich einige Male im Kunstverein Ausstellungen seiner kleinen Aquarelle und Zeichnungen besucht, informeller Werke, und ich habe mich gefragt, ob er auch in der Hitlerzeit schon solche ungegenständlichen Gebilde ausstellen konnte. Denn dem Geschmack Hitlers und seiner Banausen entsprachen solche Bilder nicht. Sie galten als artfremde Machwerke. Herr Zincke verschaffte sich wie die anderen Lehrer mit dem Rohrstock Respekt. Sie schlugen den Schülern, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatten, zu spät zum Unterricht erschienen oder mit dem Nachbarn in der Schulbank schwatzten und lachten, vor der Klasse mit dem Weidenstock auf das Gesäß oder auf die Handflächen. Dafür hatte jeder Lehrer sein eigenes Reglement, und so wussten wir Schüler, was uns bei unseren kleinen Delikten jeweils erwartete. Herrn Zinckes Spezialität war, dass er mit seinem Stock fest auf die Handrücken schlug, und das tat sehr, sehr weh. Man versteht, dass er bei den Schülern unbeliebt war. Gut zeichnen hat keiner von uns gelernt. Unsere Lehrer waren, ganz gleich welchen Alters, ganz und gar unsportliche Leute, und ihr Sportunterricht bestand denn auch nur darin, dass die Schüler auf Kommando mit der Trillerpfeife in der Turnhalle oder auf dem Schulhof in Dreierreihen auf- und abmarschierten oder simple Übungen an Reck und Barren vollzogen, während sie daneben standen. Sie waren in einer Zeit groß geworden, in der es als unschicklich galt, als erwachsener Mann Sport zu treiben. Wenn es nicht Reiten, Fechten, Golf oder Tennis war. Sportarten, die allein in den oberen Schichten betrieben wurden.

Ganz anders bei Herrn Hagelauer, einem jungen, schlanken, drahtigen Lehrer, der eines Tages samt seinem Sportrad mit Rennlenker als Neuling in die Schule kam. Er, vielleicht fünfundzwanzig Jahre alt, erschien in SA-Uniform in der Klasse. So etwas hatte es bis dahin in der Schule noch nie gegeben. Wenn ich nicht irre, war er sogar ein SA-Führer unteren Ranges. Natürlich ein überzeugter Nationalsozialist, ein Verehrer Hitlers. Das wurde in allem deutlich, was er im Unterricht sagte. Ich erinnere mich freilich gar nicht mehr daran, in welchen Fächern - außer Sport - er unterrichtete. Die Nazidoktrin wurde im Grunde in allen Fächern verbreitet, selbst in Musik oder Turnen. So forsch unser neuer, junger Lehrer auch auftrat: Sein breites Gesicht, die niedrige Stirn, die dunklen Haare und die dicken Brillengläser gemahnten nicht unbedingt an die blonden nordischen Recken, von denen er im Unterricht sprach. Darin glich er den meisten Naziführern, Hitler eingeschlossen. Wahrscheinlich wäre Herr Hagelauer - wie Hitler - von den Rassenforschern jener Jahre nicht der nordischen, sondern der dinarischen Rasse zugeordnet worden. Die Nazis hatten für alles ein Kästchen. Bei Herrn Hagelauer mussten sich alle Schüler zum Sportunterricht umkleiden und, winters wie sommers, in Turnhemd, Turnhose und Turnschuhen erscheinen. Auch er wählte diese Bekleidung, und er nahm beim Fußball, Handball und anderen Wettbewerben als einfaches Mitglied der einen oder anderen Mannschaft teil. Ich weiß nicht, was sich seine sportfremden Kollegen gedacht haben, als sie von seinen Unziemlichkeiten erfuhren. Als Zeugnisnote in Sport erhielt jeder Schüler, der engagiert an diesen Spielen teilnahm, eine Eins, die beste Note. Ich brauche nicht zu erklären, dass Herr Hagelauer der beliebteste Lehrer in meiner Klasse war. Er und nicht die älteren Lehrer verkörperte für uns die neuen Zeit, von der nun überall die Rede war. Eine Zeit, die Körperkult höher als klassische Bildung schätzte.

Nach dem Krieg habe ich dann Herrn Hagelauer als Inhaber einer Bratwursttheke in der Stadt wiedergesehen und überlegt, ob ich ihn begrüßen und ihm die Hand schütteln sollte. Ich habe das nicht getan, weil ich ihn wieder in seiner SA-Uniform vor mir stehen sah und an die vielen Menschen dachte, die in den Hitlerjahren von SA-Leuten gequält und ermordet worden waren. Offenbar war er wegen seiner Aktivität in der SA nach Kriegsende nicht wieder in den Schuldienst aufgenommen worden. Andere freilich, die Schlimmeres auf dem Kerbholz hatten, Richter, Staatsanwälte oder Ministerialbeamte, kehrten damals unbehelligt in den Staatsdienst zurück. Auch die Mehrheit der Lehrer, die uns jahrelang mit den Naziparolen gefüttert hatten. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, was sie ihren Schülern nun, nach dem Krieg und der Niederlage, erzählten.

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