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Herz und Wissen

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Capitel XXXVIII

Nach zwei Regentagen klärte sich das Wetter wieder auf.

Es war ein ruhiger sonniger Sonntagsmorgen. Das flache Land um Benjulia’s Wohnung zeigte sich an diesem klaren Herbsttage von seiner besten Seite, und sogar die finstere Häuslichkeit des Doktors reflektierte gewissermaßen die Veränderung zum Bessern. Als Benjulia an diesem Morgen aufstand, zeigte er sich seinem Haushalte von einer bei ihm ziemlich ungewohnten Seite, nämlich als gut aufgelegter Hausherr, und setzte sogar seinen schweigsamen Diener durch den Versuch, eine Melodie zu pfeifen, in Erstaunen. »Wenn Du lustig aussehen kannst, dann thue es«, sagte er zu demselben. »Ich werde mir heute einen Feiertag machen!«

Er hatte nach unablässigem Arbeiten, während dessen er sein Laboratorium nicht verlassen, an seinem schrecklichen Arbeitstische gegessen und sich nur gelegentlich eine Stunde Schlaf auf dem Flur gegönnt hatte, eine Reihe von Experimenten beendigt und Resultate erzielt, auf die er sich unbedingt verlassen konnte. Dadurch war er der Lösung jenes geheimen Problems in Bezug auf Gehirnleiden, das bis jetzt der Forschung der Aerzte in der ganzen civilisirten Welt gespottet hatte, um einen Schritt näher gekommen, und wenn er in demselben Maße Fortschritte machte, gehörte vielleicht schon in einem Monate sein Name zu denen, die unter den Aerzten in den Annalen der Entdeckung unsterblich bleiben.

Seine Arbeiten hatten ihn so vollständig in Anspruch genommen, daß ihm erst heute am Sonntag Morgen nach Beendigung seines Frühstücks die Briefe, welche ihm Mrs. Gallilee gebracht hatte, wieder einfielen. Er sah sie durch, fand in denselben aber nicht die geringste Andeutung von dem geheimnißvollen Krankheitsfalle, den Ovid in Montreal behandelt hatte. Da ihn aber trotzdem noch Zweifel beunruhigten, blieb ihm, um dieselben verscheuchen zu können, weiter nichts übrig, als sich direct mit seinem Freunde in Canada in Verbindung zu setzen.

Ehe er aber das Haus verließ, um seinen Feiertag zu einem Spaziergange nach dem Central-Telegraphen-Bureau in London zu benutzen, gab er der Köchin Anweisung, bei seiner Rückkehr um drei Uhr das Essen fertig zu haben, und schärfte ihr noch besonders Pünktlichkeit ein, da er seit achtundvierzig Stunden kein regelmäßiges Mahl zu sich genommen hatte. Die erst neulich engagierte Köchin, eine kleine derbe Person mit rothem Haar und lebhafter Gesichtsfarbe, empfand ebenso wie der Bediente den Einfluß der guten Laune ihres Herrn. Zum ersten Mal, seit sie im Hause war, sah er sie an; ein Zwinkern zeigte sich verstohlen in seinen traurigen grauen Augen; er nahm einen staubigen alten Lichtschirm von einem Wandtische und machte ihr denselben zum Geschenke. »Da«, sagte er mit seinem trockenen Humor, »verdirb Dir nicht den Teint am Herde.« Dieses ihr von ihrem Herrn erwiesene außerordentliche Compliment legte die Köchin, die ein sanguinisches Temperament hatte und viel Romane las, in ihrer eigenen romantischen Weise aus; und als er mit grinsendem Lächeln, seinen dicken Stock auf den Boden stoßend, aus der Thür ging, erhellte ein ganz neuer Gedanke ihr Gemüth.

Auf dem Wege zum Telegraphenamte gab Benjulia Ovid’s Briefe in der Wohnung Mrs. Gallilee’s ab, deren Besuch zu erwidern er nach seiner neulichen Erfahrung nicht die Absicht hatte. Hätte er ihr die Briefe persönlich zurückgestellt, so würde er die Gelehrte in nicht sehr anmuthiger Laune getroffen haben. Nachdem dieselbe erst am vorigen Abend Carmina und die Gouvernante zusammen getroffen hatte, ohne auch nur errathen zu können, was sie mit einander verhandelt haben mochten, waren Beide heute Morgen schon wieder zusammen. Maria und Zoe waren mit ihrem Vater zur Kirche und Miß Minerva war wegen Kopfwehs zu Haus geblieben. Für ein Dazwischentreten ihrerseits hatte sie zu dieser Stunde und unter diesen Verhältnissen keinen plausiblen Grund und dachte nun allen Ernstes daran, das Salair für einen Monat zu opfern und die Gouvernante ohne Weiteres zu entlassen.

Auf dem Telegraphenamte sandte Benjulia folgendes Telegramm an Mr. Morphew: »Hatte der Patient, den Ovid in Montreal behandelte, ein Gehirnleiden? – Ja oder nein.« Und nachdem er Vorsorge getroffen, daß ihm die Antwort von seinem Club aus übermittelt würde, machte er sich wieder auf den Heimweg und war fünf Minuten vor drei Uhr wieder zu Hause.

Als es drei schlug, klingelte er. Der Bediente erschien, aber ohne Essen.

»Ich habe den Hammelbraten zu drei Uhr bestellt«, sagte der Doctor, der seine Feiertagslaune hier gebrauchen konnte, mit erschreckender Ruhe. »Wo ist derselbe?«

»In zehn Minuten wird das Essen fertig sein, Herr Doctor.«

»Warum ist es jetzt noch nicht fertig?«

»Die Köchin bittet, sie zu entschuldigen, Herr Doctor. Sie hat sich heute etwas verspätet.«

»Und weshalb hat sie sich verspätet, wenn ich fragen darf?«

Diese Art zu fragen von Seite seines Herrn, der einmal einen Diener, der durch das Oberlicht des Laboratoriums zu blicken versucht hatte, buchstäblich aus dem Hause geworfen und ein Dienstmädchen, welches an einem Tage zweimal vergessen hatte, die Thür zu schließen, das Haus binnen einer halben Stunde hatte verlassen heißen, ließ den sonst so unbeweglichen, schweigsamen Diener erzittern.

»Du hast wohl mit ihr geliebelt«, fragte der Doctor mit derselben höflichen Gelassenheit.

»Einer solchen Handlung bin ich unfähig, Herr Doctor!« antwortete der durch eine solche Zumuthung gekränkte Diener. »Sie hat Geschichten gelesen.«

»Das genügt«, sagte Benjulia, wie von dieser Erklärung höchst befriedigt mit dem Kopfe nickend. »Ich werde warten.«

Und während er wartete – zehn Minuten – eine Viertelstunde – und noch fünf Minuten – schienen seine Gedanken eine höchst amüsante Richtung angenommen zu haben; denn als der Bediente das Essen brachte, waren seine dünnen Lippen noch durch das schreckliche Lächeln auseinandergezogen.

Beim Zerlegen stellte sich heraus, daß der Braten nicht gar war. Und zu diesem, zu jeder anderen Zeit unverzeihlichem Verbrechen sagte der Doctor heute weiter nichts, als: »Nimm ihn wieder fort.«

Er aß Kartoffeln, Brod und Käse, und war, als er damit fertig war, womöglich noch liebenswürdiger als vorher. »Bitte die Köchin zu mir zu kommen«, sagte er.

Die eine Hand auf das klopfende Herz drückend und mit der andern das Taschentuch vor die Augen haltend, trat die Köchin ein.

»Weshalb weinst Du?« fragte Benjulia »Ich habe Dich doch nicht gescholten, wie?«

Als die Köchin eine Entschuldigung stammelte, wies der Doctor auf einen Stuhl. »Setze Dich und fasse Dich.«

Schwach durch ihre Thränen lächelnd, setzte sie sich. Sein Benehmen ließ offenbar nur eine Erklärung zu. Es hatte nicht Jede solch schönes Haar und solch einen rosigen Teint. Ob er wohl mit einem Geständniß oder mit einem Kasse beginnen würde?

Er steckte sich eine Pfeife an, rauchte eine Zeit lang ruhig, die Köchin dabei betrachtend, und sagte dann: »Ich höre, daß Du einen Roman gelesen hast; wie lautet der Titel desselben?«

»Pamela, oder der Lohn der Tugend, Herr Doctor.« Und als er ruhig weiter rauchte, wagte die bis soweit Bescheidene und Zerknirschte, die Augen aufzuschlagen. Er sah sie noch immer an. Bedurfte er einer Ermuthigung? »Der Name des Verfassers steht auf dem Buche. Richardson heißt er.«

»Ja, ja: ich habe von ihm und dem Buche gehört. Ist es interessant?«

»O, Herr Doctor, die Geschichte ist wundervoll! Die einzige Entschuldigung für meine Verspätung —«

»Wer ist Pamela?« unterbrach er sie.

»Ein junges Dienstmädchen Herr Doktor. Ach, ich wollte, ich gliche ihr mehr! Es ward mir ganz weh um’s Herz, als Sie den Hammel zurückschickten: und Ihre Güte, das mangelhafte Braten so hingehen zu lassen —«

»Und was wird mit ihr schließlich in der Geschichte?« fragte Benjulia, wieder ihre Entschuldigung unterbrechend.

»Pamela ist tugendhaft und wird dafür belohnt«, sagte die Köchin mit geziertem Lächeln.

»Wer belohnt sie denn?«

Der Busen der derben kleinen Person begann eine zärtliche Bewegung zu bekunden und sie verdrehte verliebt die Augen.

»Nun«, wiederholte Benjulia, nachdem er wieder einen Mund voll Rauch fortgeblasen hatte; »wer belohnt Pamela?«

»Ihr Herr, Herr Doctor.«

»Wie denn?«

Die Köchin blickte sittsam in den Schooß, während ihr Teint noch lebhafter als gewöhnlich wurde. »Er heirathet sie, Herr Doctor.«

»So?«

Das war Alles, was er sagte. Er war weder erstaunt, noch verwirrt, oder ermuthigt; klopfte die Pfeife aus, stopfte sie wieder und zündete sie wieder an. Aber Richardson hielt das Vertrauen der Köchin zu sich selbst aufrecht; Pamela’s Herr hatte ja auch gezögert, und die Tugend derselben war ja auch nicht so leicht belohnt worden. Sie warf dem Doctor wieder einen Blick zu, aus dem alle Beredtsamkeit des Frauenauges sprach, wie sie in Poesie und Prosa hoch und gerecht gefeiert wird – einen Blick, der sagte: »Heirathe mich, und Du sollst nie wieder ungares Hammelfleisch haben.«

»Sagtest Du mir bei Deiner Ankunft nicht, daß Du keine Verwandten habest?« nahm der Doctor das Gespräch wieder auf, freundlich auf ihre Familienverhältnisse anspielend.

»Ja, ich bin eine Waise, Herr Doctor.«

»Und ehe ich Dich miethete, warst Du eine Zeit lang außer Stelle?«

»Ja, Herr Doktor; meine geringen Ersparnisse waren beinahe zu Ende. Ich war ebenso arm wie Pamela«, fügte sie leise andeutend hinzu.

»Und ebenso tugendhaft«, ergänzte Benjulia; wofür ihm die beredten Augen dankten. Dann stellte er die Pfeife fort und rückte seinen Stuhl näher an den ihrigen – so nahe, daß er mit dem Arme ihre für ihn bereite Taille hätte umfassen können – und sagte dann plötzlich: »Du hast heute Nachmittag nichts Besonderes zu thun und ich habe auch nichts Besonderes vor. Und da Du so gern Geschichten zu lesen scheinst, soll ich Dir eine erzählen?«

 

Die Köchin glaubte in seinem Blick und seinem Benehmen eine plötzliche Veränderung zu bemerken und war gespannt auf das, was kommen würde. Hätte sie den Doktor im Laboratorium bei seiner geheimen Arbeit gesehen, so würde diese Veränderung sie vielleicht behutsam gemacht haben. Er sah jetzt das vor ihm auf dem Stuhle sitzende untergeordnete Wesen ebenso an, wie jene anderen auf seinem Tische ausgestreckten untergeordneten Wesen.

»Es war einmal ein Herr und ein Mädchen, die wir A und B nennen wollen«, begann Benjulia. Die Köchin, die neben dem Romanlesen auch eifrig das Theater besuchte, athmete bei der versteckten Anspielung, die sie in diesem Anfange sah, erleichtert auf, und das ermuthigende Lächeln erschien wieder.

»Wir alle haben unsere Sorgen im Leben, und so erging es auch der B«, fuhr Benjulia fort. »Sie war lange außer Stelle und hatte keine Eltern, die sie unterstützen konnten, denn sie war eine Waise. So mußte sie ihre geringen Ersparnisse fast gänzlich zusetzen.«

Hier nahm die Köchin ihr Taschentuch heraus und bedauerte die arme B von ganzem Herzen; es war ja auch zu bejammernswerth.

»Aber wer »Pamela« liest, weiß, daß die Tugend ihres Lohnes sicher ist. Im Haushalte des A traten Verhältnisse ein, die es ihm nothwendig machten, eine Köchin zu, engagieren. Er nahm also eine Zeitung, entdeckte darin eine Annonce, durch welche die B eine Stelle suchte; fand in dieser eine junge reizende Person und engagierte sie.«

Er pausierte und fragte dann: »Und was that A dann wohl?«

Da konnte die Köchin nicht länger an sich halten; sie sprang von ihrem Stuhle auf und warf die Arme um den Nacken des Doctors. Dieser aber wiederholte, als ob nichts geschehen wäre: »Und was that er dann?« Er griff in die Tasche – gab der B den Lohn für einen Monat – und setzte sie vor die Thür. Du unverschämtes Frauenzimmer! erst machst Du mir mein Essen zu spät, verdirbst mir das Hammelfleisch und dann fällst Du mir noch um den Hals! Da ist Dein Geld und nun fort!«

Mit starren Augen und weit aufgerissenem Munde stand die Köchin da, wie in Stein verwandelt, und sah ihn an. Im nächsten Augenblicke aber machte sich ihr Zorn in einem wüthenden Aufschrei Luft. Sie stürzte nach dem Tische und ergriff ein Messer. Doch Benjulia riß ihr dasselbe aus der Hand, fiel dann, durch den gelungenen Scherz vollständig überwältigt, auf seinen Stuhl zurück und brach – was seine ältesten Freunde noch nie bei ihm gesehen hatten – in ein schallendes Gelächter aus. »Das war wirklich ein Feiertag!« rief er. »Schade, daß ich nicht Jemanden habe, der das Vergnügen mitgenießen kann.«

Bei diesem Lachen und diesen Worten erkältete ein Entsetzen die Wuth der Köchin in ihrer größten Hitze. Die diabolische Freude des Doctors hatte etwas Unmenschliches. Selbst er fühlte das wilde Entsetzen in den auf ihm ruhenden Augen.

»Was ist Dir?« fragte er. Sie murmelte etwas Unverständliches vor sich hin – und schlich, vor ihm zurückweichend, nach der Thür. Als sie sich dem Fenster näherte, ging draußen ein Mann nach der Hausthür zu an demselben vorüber. Sie zeigte auf denselben und sagte: »Da haben Sie Jemand, der das Vergnügen mitgenießen kann.«

Beim Oeffnen der Thür erschien der Bediente in der Halle und hinter demselben ein Herr, eine ängstlich höfliche Persönlichkeit, der voll Unruhe das geisterhafte Gesicht der an ihm vorbeirennenden Köchin ansah und dann zu Benjulia sagte: »Ich fürchte, ich komme zu ungelegener Zeit. Bitte um Entschuldigung; ich werde wiederkommen.«

»Treten Sie näher«, sagte der Doctor abwesend, nach der Halle hin blickend und an etwas ganz Anderes denkend.

Der Herr trat ein. »Mein Name ist Mool«, sagte er. »Ich hatte die Ehre, Sie auf einer von Mrs. Gallilee’s Gesellschaften zu treffen.«

»Das ist sehr wohl möglich. Ich selbst erinnere mich nicht. Setzen Sie sich.«

Benjulia dachte noch immer an etwas Anderes, und während Mr. Mool in Verwirrung Platz nahm, ging ersterer nach der Thür, öffnete dieselbe und sagte: »Entschuldigen Sie mich eine Minute. Ich werde sofort wieder hier sein.«

Dann ging er nach der zur Küche führenden Treppe und rief dem Hausmädchen zu: »Ist die Köchin unten?«

»Jawohl, Herr Doctor.«

»Was macht sie?«

»Sie weint.«

Mit enttäuschter Miene wandte sich der Doktor wieder um. Gerade als der Besuch erschienen, war im der Gedanke gekommen, daß die Köchin ein des Studiums werther Fall sein möchte. Eine heftige, moralische Erschütterung übt manchmal eine ernstliche Wirkung auf das Gehirn aus. Doch sie hatte Erleichterung im Weinen gefunden; ihr Gehirn war also in Ordnung, und damit hatte sie aufgehört, ihn zu interessieren.

Capitel XXXIX

Sie sehen ganz erhitzt aus«, sagte der Doctor in herzlichem Tone zu seinem Besucher, als er wieder in’s Zimmer trat. »Nehmen Sie einen Trunk. Altes englisches Ale vom Faß.« Dabei schenkte er mit gastfreundlicher Zuvorkommenheit die perlende Flüssigkeit in einen großen Krug.

Mr. Mool war von der guten Laune des Doctors – die qualitativ durch die Erinnerung an die Scene mit der Köchin noch vermehrt worden – des höchsten und angenehmsten überrascht. »Ich wohne in der Vorstadt an dieser Seite Londons, Herr Doctor«, erklärte er, »und habe von meinem Hause bis hier einen hübschen Spaziergang gehabt. Wenn ich Sie gerade am Sonntag besuche, so geschieht das, weil ich die Woche über von Geschäften in Anspruch genommen werde —«

»Schon recht. Ein Tag ist so gut wie der andere, vorausgesetzt, daß man mich nicht stört; und Sie stören mich jetzt nicht. Rauchen Sie?«

»Nein, ich danke«

»Ist es Ihnen nicht unangenehm, wenn ich rauche?«

»Ich habe es sogar gern, Herr Doctor.«

»Sehr liebenswürdig von Ihnen. Wie, sagten Sie, sei Ihr werther Name?«

»Mool.«

Benjulia sah ihn argwöhnisch an. »Sie sind kein Arzt – wie?«

»Ich bin Rechtsanwalt.«

Nun war eins von den wenigen allgemeinen Vorurtheilen, die Benjulia mit seinen untergeordneteren Mitmenschen theilte, das gegen die Advokaten. Seine Feiertagslaune mußte wirklich ihren Gipfelpunkt erreicht haben, wenn er einem solchen, ihm fremden, erlaubte, in seinem Zimmer zu bleiben und mit ihm zu sprechen!

»Herren Ihres Berufes«, meinte er, »machen Leuten, die sie nicht kennen, nie Besuche ohne dabei besondere Absichten zu verfolgen. Sie wünschen etwas von mir, Mr. Mool. Um was handelt es sich?«

»Ich nahm mir die Freiheit, bei Ihnen vorzukommen, infolge einer kürzlich von Mrs. Gallilee in meinem Bureau gemachten Behauptung«, sagte Mr. Mool, den sein professioneller Takt warnte, die Zeit mit einleitenden Phrasen zu vergeuden.

»Halt!« rief Benjulia. »Ich muß sagen, Ihr Anfang gefällt mir nicht. Ist es nothwendig, den Namen dieser alten V—l zu erwähnen?« Er gebrauchte eine Bezeichnung, die den Rechtsanwalt frappierte.

»Wirklich, Herr Doctor!«

»Das heißt, Sie müssen durchaus von ihr sprechen?«

»Nun, sagen wir, daß ich das meinte«, antwortete Mr. Mool lächelnd.

»Dann fahren Sie fort und erledigen Sie, bitte, die Sache schnell. Sie machte also eine Behauptung in Ihrem Bureau – heraus damit, Verehrtester. Hat dieselbe etwas mit mir zu thun?«

»Sonst würde ich mir nicht die Freiheit genommen haben, Herr Doctor.« Und dann erzählte Mr. Mool kurz und klar Alles, was zwischen ihm und Mrs. Gallilee vorgegangen war.

Beim Beginn des Berichtes stellte Benjulia ärgerlich die Pfeife bei Seite und war auf dem Punkte, den Advokaten zu unterbrechen. Aber er wurde anderer Meinung, beherrschte sich und hörte ihn schweigend an.

»Ich hoffe, Herr Doctor«, so schloß Mr. Mool, »daß Sie mein Motiv nicht falsch auffassen werden. Es ist die reine Wahrheit, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich für das Wohlergehen Miß Carmina’s interessiere. Ich hegte für ihre Eltern die aufrichtigste Achtung und Zuneigung. Sie kannten dieselben ja auch; es waren gute Leute. Es wird Ihnen sicherlich leid thun, wenn Sie ein falsches Gerücht unüberlegt wiederholt haben. Wollen Sie mir nicht behilflich sein, das Andenken der Mutter von diesem abscheulichen Flecke zu reinigen?«

Nachdem Benjulia eine Zeit lang schweigend geraucht hatte, sagte er endlich: »Sie sind ein Mann in mittleren Jahren, und ich nehme an, daß Sie einige Erfahrung mit den Frauen gemacht haben.«

Mr. Mool erröthete. »Ich bin verheirathet, Herr Doctor«, entgegnete er ernst.

»Sehr wohl, dann haben Sie also Erfahrung – von einer Art. Wissen Sie, wie geschickt die Frau den Mann nehmen kann, wenn er nicht bei Laune ist und sie etwas von ihm haben will; wie sie ihn so lange plagt, bis er Alles zu thun im Stande ist, damit sie ihn nur in Ruhe läßt? Auf solche Weise kam ich dazu, Mrs. Gallilee das zu sagen, was sie Ihnen erzählt hat.«

Nach einigen Zügen aus der Pfeife fuhr er wieder fort:

»Ich behaupte nicht, ein Interesse für das Mädchen zu empfinden; wenn Sie übrigens das, was ich Ihnen jetzt sagen will, zu ihren Gunsten verwerthen können, thun Sie es. Dieser Scandal begann mit dem Renommieren eines meiner Studiencollegen in Rom, den es ärgerte, daß ich und noch Jemand ihn auslachten, als er sich für den Liebhaber Mrs. Graywell’s ausgab. Derselbe bot uns eine Wette an, daß wir noch an demselben Abend die Frau allein in seinem Zimmer sehen sollten. Und hinter einem Vorhange versteckt, sahen wir sie dort. Ich bezahlte das Geld, welches ich verloren hatte, und verließ Rom bald darauf. Der Andere weigerte sich zu zahlen.«

»Aus welchem Grunde?« fragte Mr. Mool begierig.

»Weil sie einen dichten Schleier trug und das Gesicht nicht zeigte.«

»Das war ein stichhaltiger Einwand, Herr Doctor!«

»Mag sein; ich für meine Person war nicht der Ansicht. Denn ich hatte Mrs. Graywell zwei Stunden vorher auf der Straße getroffen, wo sie einen Anzug von damals auffallender Farbe – einer Art Seegrün – mit einem dazu passenden Hute getragen hatte, den jeder ansah, weil derselbe nicht halb so groß war wie die damaligen großen Modehüte. Es war ganz dieselbe auffallende Kleidung und dieselbe große Figur und jeder Irrthum ausgeschlossen, als ich sie wieder im Zimmer meines Collegen sah. Deshalb bezahlte ich die Wette.«

»Wissen Sie noch den Namen des andern Herrn, der sich weigerte zu bezahlen?«

»Er hieß Egisto Baccani.«

»Haben Sie seitdem wieder etwas von ihm gehört?«

»Jawohl. Derselbe kam in politische Verwickelungen und floh wie die Uebrigen nach England; wo er sich, wie sie alle, seinen Unterhalt durch Sprachunterricht verschaffte. Er schickte mir seinen Prospect – so erfuhr ich wieder etwas von ihm.«

»Haben Sie den Prospect noch?«

»Der ist längst zerrissen.«

Mr. Mool schrieb den Namen in sein Notizbuch und fragte: »Weiter können Sie mir nichts sagen?«

»Nein, nichts.«

»Empfangen Sie dann meinen besten Dank, Herr Doctor Guten Morgen.«

»Wenn Sie Baccani auffinden, so lassen Sie mich es wissen. Wollen Sie nicht noch einen Schluck Ale? Sehen Sie Mrs. Gallilee bald?«

»Ja – wenn ich Baccani finde.«

»Spielen Sie je mit Kindern?«

»Ich habe selbst fünf zum Spielen«, antwortete Mr. Mool.

»Fragen Sie doch nach dem jüngsten Mädchen, wenn Sie Mrs. Gallilee besuchen – wir nennen sie Zo; legen Sie derselben den Finger auf das Rückgrat – hier, eben unter dem Halse, und drücken Sie die Stelle – so. Und wenn sie sich windet, so sagen Sie ihr, der große Doctor ließe grüßen.«

Bei seiner Rückkehr nach seiner Wohnung war Mr. Mool überrascht, einen offenen Wagen vor dem Gartenthore halten zu sehen, in welchem ein elegant gekleidetes Mädchen auf dem Rücksitze saß, die ihn mit unruhigem Aussehen betrachtete und zu ihm sagte: »Wollen Sie die Güte haben, Miß Carmina zu sagen, daß wir wirklich nicht länger warten dürfen?«

Die Unruhe des Mädchens spiegelte sich auf Mr. Mool’s Gesichte wieder, denn derselbe sagte sich, daß dieser Besuch Carmina’s in seiner Privatwohnung keinen gewöhnlichen Anlaß haben könne, und er fürchtete, daß Mrs. Gallilee mit derselben von ihrer Mutter gesprochen haben könnte.

Als er aber noch vor seinem Eintritt in den Salon Carmina mit seiner Frau und seinen Töchtern sprechen hörte, verschwand diese Besorgniß.

»Kann ich eben ein Wörtchen mit Ihnen sprechen?« fragte Carmina.

Er führte sie in sein Arbeitszimmer. Sie war schüchtern und verwirrt, aber durchaus nicht ärgerlich oder bekümmert.

»Wenn es schönes Wetter ist«, sagte sie, »schickt mich meine Tante jeden Tag im Wagen aus. Und da wir hier vorüberfuhren, so dachte ich, ich könnte Sie um etwas fragen.«

»Gewiß, meine Liebe. Fragen Sie, so viel Sie wollen.«

»Es handelt sich um gesetzliche Sachen. Meine Tante sagt, sie habe jetzt die Autorität über mich, die mein seliger Vater früher gehabt habe. Ist das wahr?«

»Jawohl.«

 

»Wie lange ist sie meine Vormünderin?«

»Bis Sie einundzwanzig Jahr alt sind.«

Aus Carmina’s Gesicht verschwand der Anflug von Farbe. »Also vielleicht noch mehr als drei Jahre des Leidens!« sagte sie traurig.

»Des Leidens? Was meinen Sie damit, liebes Fräulein?«

Sie wurde noch bleicher und antwortete eine Zeit lang nicht. Dann sagte sie zaghaft: »Noch eins möchte ich wissen. Würde meine Tante noch meine Vormünderin bleiben, wenn – wenn ich mich verheirathete?«

»In diesem Falle«, antwortete der Rechtsanwalt, die Augen ernst und forschend auf sie richtend, »wäre Ihr Gatte der Einzige, dem eine Autorität über Sie zustände. Das sind ziemlich sonderbare Fragen, Carmina. Wollen Sie mir nicht Ihr Vertrauen schenken?«

Sie ergriff in plötzlicher Bewegung seine Hand und küßte dieselbe.

»Ich muß fort!« sagte sie. »Ich habe den Wagen schon zu lange warten lassen.«

Damit eilte sie hinaus, ohne sich noch einmal umzusehen.