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Herz und Wissen

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Capitel XXXVI

Es war Carmina unmöglich, in ihrer jetzigen Gemüthsverfassung ihr einsames Zimmer aufzusuchen, deshalb ging sie nach dem Schulzimmer, wo sie Miß Minerva allein antraf, da die beiden Mädchen der Hausordnung gemäß zu ihrem Diner Toilette machten.

Sie beschrieb ihrer Freundin den Besuch bei ihrer Tante und das Zusammentreffen mit dem Musiklehrer und schloß: »Schelten Sie mich nicht, ich will meine Thorheit nicht entschuldigen.«

»Hätte Mr. Le Frank nach seiner Begegnung mit Ihnen das Haus verlassen«, antwortete Miß Minerva, »so würde ich nicht so besorgt sein, aber daß er zu Ihrer Tante gegangen ist, gefällt mir nicht – besonders nicht nach dem, was Sie mir über die Veränderung in deren Benehmen gegen Sie gesagt haben. Sie besitzen eine lebhafte Phantasie, Carmina Sind Sie sicher, daß dieselbe Ihnen keinen Streich gespielt hat?«

»Vollkommen sicher.«

»Wollen Sie mir behilflich sein, mich dessen ebenso sicher zu fühlen?« fragte die Gouvernante, die noch nicht ganz befriedigt war. »Ihre Tante pflegt gewöhnlich, wenn die Kinder essen, auf einige Minuten hierher zu kommen. Bleiben Sie hier und sprechen Sie in meiner Gegenwart etwas mit ihr, damit ich selbst urtheilen kann.«

Dann kamen die Mädchen herein. Die vollkommene Toilette Maria’s strahlte den vollkommenen Charakter derselben zurück und dieselbe erfüllte die Pflichten der Höflichkeit mit der an ihr gewohnten glücklichen Wahl des Ausdrucks: »Liebe Carmina, es ist in der That ein Vergnügen, Dich wieder in unserm Schulzimmer zu sehen. Wir sind so besorgt um Deine Gesundheit, aber dies herrliche Wetter ist jedenfalls günstig für Dich und Papa hält Mr. Null für einen sehr gescheiten Doctor.« Da die kleine Zo mit finsterem Gesichte dabeistand, so fragte Carmina dieselbe, was sie habe, und das Kind antwortete, düster den Hund auf der Decke ansehend: »Ich wollte, ich wäre Tinker.« Maria lächelte holdselig. »Aber Zo, was für ein sonderbarer Wunsch! Was würdest Du denn thun, wenn Du Tinker wärst?« Mit der Miene größten Interesses zeigte Zo auf den Hund, der sich beim Hören seines Namens erhoben hatte und sich nun schüttelte. »Er braucht sich nicht zu kämmen, wenn er ausgeht«, bemerkte sie, »und man sieht es nicht, wenn seine Nägel schmutzig sind. Und dann« – dies flüsterte sie Carmina in’s Ohr – »hat er keine Gouvernante.«

Das Essen erschien und nach demselben Mrs. Gallilee. Maria sprach das Tischgebet, aber die beim Essen immer gierige Zo vergaß Amen zu sagen, und als Carmina, die hinter ihrem Stuhle stand, sie daran erinnerte, rief sie »Amen«, fügte indeß sofort flüsternd hinzu: »wirklich schrecklich!« Mrs. Gallilee betrachtete ihre Nichte wie eine von der Straße hereingekommene Aufdringliche und äußerte dann: »Du solltest Dich lieber vor dem Essen anziehen, damit Du den Wagen nicht warten zu lassen brauchst.«

Dies hörend, legte Zo Messer und Gabel hin und sagte, sich umsehend: »Frage, ob ich mitkommen darf.« Mrs. Gallilee aber antwortete auf die dahingehende Frage Carmina’s »Nein, die Kinder sollen gehen, mein Mädchen wird Dich begleiten.«

Beim Verlassen des Zimmers warf Carmina der Gouvernante einen Blick zu, den diese, die die Veränderung in Mrs. Gallilee’s Benehmen bemerkt hatte, ohne eine Erklärung dafür zu haben, erwiderte.

Es ist schwierig zu sagen, wer von beiden, Carmina oder das Mädchen, sich durch die gezwungene Gesellschaft im Wagen am meisten bedrückt fühlte. Das Mädchen war vielleicht die Bedauernswerthere denn während sich dasselbe wie die übrige Dienerschaft zu Carmina hingezogen fühlte, war es von seiner Herrin gezwungen, die Rolle der Spionin zu spielen und derselben jede Abweichung von der dem Kutscher vorgeschriebenen Route und jeden Verkehr der jungen Dame, es sei mit wem es wolle, zu berichten. Mrs. Gallilee hatte den Reisesack nicht vergessen, und die Erklärungen des Rechtsanwaltes hatten ihr gezeigt, daß die Beaufsichtigung Carmina’s jetzt wie nur je eine Sache von ernstem pecuniären Interesse sei.

Aber neuerliche Ereignisse hatten die Aussicht wenigstens in einer Hinsicht gebessert.

Falls Ovid, wenn er die scandalöse Geschichte von Carmina’s Herkunft erfuhr, von der Verlobung zurücktrat (und seine Mutter wagte wirklich, das zu hoffen!), so war jedenfalls Aussicht vorhanden, daß Carmina bei ihrem sensitiven Temperamente sich das so zu Herzen nehmen könnte, daß sie sich entschlösse, ledig zu bleiben. Theilweise durch die Hoffnung auf Befreiung von ihren gemeinen Sorgen, theilweise durch ihre Unfähigkeit, die Kraft hochherzigen Fühlens bei anderen zu schätzen, verleitet, betrachtete Mrs. Gallilee die künftige Stellungnahme ihres Sohnes als etwas noch durchaus Zweifelhaftes.

Mittlerweile mußte diese schändliche Frucht des Ehebruchs – dieses lebendige Hindernis das den herrlichen Aussichten, die sonst Maria und Zo, um von der Mutter gar nicht zu sprechen, erwarteten, im Wege stand – im Hause bleiben, unter der Obhut und Vorsorge ihrer Pflegerin. Der Verhaßten mußte noch ärztlicher Beistand werden, wenn sie krank war; alle Vorschriften des Doctors mußten befolgt werden. Für ihre Pflege war eine anständige Summe ausgesetzt, und die Vormünder waren verpflichtet, einzuschreiten, wenn sie nicht derselben entsprechend gehalten wurde.

Als Mrs. Gallilee dem Wagen nachsah, in welchem Carmina, die unerträglich reizend und interessant aussah, mit dem ihr gegenüber sitzenden Mädchen – ein Bild des Unbehagens – abfuhr, nahmen ihre Gedanken eine ganz eigene Form an: »Anderen Wagen mit anderen Mädchen stoßen Zufälle zu; meinem Wagen mit ihr nicht! Meine Pferde wird heute nichts erschrecken; und so dick mein Kutscher auch ist, kein Anfall wird, ihn auf dem Bocke zustoßen!«

Und richtig; der Wagen kam um die bestimmte Zeit wieder – und das Mädchen hatte nichts zu berichten.

Während dessen hatte Miß Minerva ihres Versprechens nicht vergessen, und als sie mit den Kindern von dem Spaziergange heimkehrte, war eine Wohnung für Teresa gemietet, welche von Mrs. Gallilee’s Hause in fünf Minuten zu Fuß zu erreichen war.

Da Carmina und die Gouvernante die Veränderung in Mrs. Gallilee’s Benehmen der Aussicht auf die unwillkommene Rückkehr Teresa’s zuschrieben, so rieth Miß Minerva der ersteren, so lange sie es noch könne, ihre alte Freundin wissen zu lassen, daß dieselbe bei ihrer Ankunft in London ein Heim erwarte. Und Carmina schickte daher noch an demselben Abend ein Telegramm nach Rom, welches» ja ihre Amme vielleicht noch vor der Abreise erreichte, und worin sie derselben, alles Weitere bis zu ihrer Ankunft verschiebend, die Adresse der Wirthin angab, bei welcher sie absteigen sollte.

Capitel XXXVII

Zu Carmina’s größter Befriedigung war es am folgenden Tage schlechtes Wetter, und der unaufhörlich hernieder strömende Regen machte es unmöglich, sie wieder im Wagen auszuschicken; aber es war dennoch ein ereignißvoller Tag. Mr. Gallilee zeigte sich an diesem regnerischen Nachmittage seiner Frau gegenüber selbstständig!

»Es ist heute ein ganz trauriger Tag«, begann er; und da hiervon keine Notiz genommen wurde, fuhr er ermuthigt fort: »Wenn Du mir erlaubst, es zu sagen, Carmina bedarf einer kleinen Zerstreuung.«

Mrs. Gallilee sah von ihrem Buche auf, aber der Hausherr, der fürchtete, daß er ganz in’s Stocken kommen möchte, wenn er sich wie sonst Zeit nähme, fuhr hastig fort: »Heute Nachmittag findet eine Zaubervorstellung statt; und weißt Du, ich denke, ich könnte Carmina dahin führen. Es würde uns Freude machen, wenn Du mitgingst; es soll ja, wie Du vielleicht selbst gehört hast, viel Wissenschaftliches dabei vorkommen.« Seine Augen rollten in unruhiger Erwartung; sie aber winkte verächtlich nach der Thür zu, und so zog er sich mit der Lebhaftigkeit eines Jünglings zurück. »Jetzt werden wir uns amüsieren«, dachte er bei sich, als er nach oben zu Carmina’s Zimmer ging.

Sie wollten gerade abfuhren, als der Musiklehrer ankam, um seine Stunden zu geben. Mr. Gallilee steckte sofort den Kopf aus dem Wagenfenster und rief demselben vergnügt zu: »Wir gehen zu der Zaubervorstellung! Carmina! siehst Du denn Mr. Le Frank nicht? Er grüßt Dich. Sehen Sie die Zaubereien gern, Mr. Le Frank? Aber sagen Sie den Kindern nichts davon, sie würden sonst enttäuscht sein, die armen Würmer – aber sie müssen die Stunde haben, nicht wahr? Adieu. Doch, was ich noch sagen wollte – wenn Sie einmal Ihren Schirm reparieren lassen wollen, so weiß ich Jemanden, der es billig und gut macht. Schmutziges Wetter, nicht wahr? Fahr’ zu!«

Man begeht einen Irrthum, wenn man nach der allgemeinen Meinung die Eitelkeit zu den leichteren Fehlern der Menschheit rechnet; bedarf dieselbe doch nur eines Antriebes, um zu absoluter Schlechtigkeit zu werden. Der Eitle kann schrankenlos mißtrauisch und diabolisch grausam sein. Nero und Robespierre, das sind die beiden typischen Namen, unter denen uns die Geschichte die beiden eitelsten Menschen, die je existiert haben, vorführt.

Die Eitelkeit des Musiklehrers hatte unter der schlauen Leitung Mrs. Gallilee’s in seiner obscuren Sphäre und innerhalb seiner beschränkten Mittel ihre abscheulichen Eigenschaften entfaltet. Nachdem sein Mißtrauen gegen Carmina einmal angeregt war, überschritt es alle Grenzen. Diesem dreisten Versuche, ihn durch Ueberrumpelung zu versöhnen, konnte nur ein schlechtes Motiv zu Grunde liegen; und wenn er ihrer Worte, ihres Aussehens und Benehmens bei der Begegnung auf der Treppe gedachte, fiel ihm jeder schlechte, wenn auch noch so Unwahrscheinliche Beweggrund ein, den man einem Mädchen von ihrem Alter nur überhaupt zutrauen konnte. Sein sonst so von Betrachtung seines eigenen Ichs und seiner Fähigkeiten eingenommener niedriger Sinn, war jetzt so vollständig von dem Ausmalen aller möglichen Anschläge gegen seine gesellschaftliche und professionelle Stellung absorbiert, daß er nicht einmal im Stande war, den beiden Kindern den gewöhnlichen Unterricht zu geben. Und als Miß Minerva bemerkte, daß er nicht die nöthige Gemüthsruhe zu haben scheine, und meinte, daß es wohl besser sei, die Stunde am anderen Tage fortzusetzen, dankte er ihr nach einem nutzlosen Versuche, ein ruhiges Aeußeres zur Schau zu tragen, und verabschiedete sich.

 

Als er nach unten ging, sah er die Thür vom Zimmer Carmina’s, die mit ihrem Onkel abwesend war, halb offen stehen. Er zögerte; die Gouvernante blieb mit den Kindern oben; Mrs. Gallilee war mit ihren wissenschaftlichen Studien beschäftigt; die Dienerschaft hatte um diese Stunde oben nichts zu thun. Nachdem er nach allen Seiten gehorcht hatte, ging er in das Zimmer.

Vielleicht führte sie ein Tagebuch; jedenfalls schrieb und empfing sie Briefe, und wenn er nur ihren Arbeitstisch und die Schubladen offen fand, konnte er die innersten Geheimnisse ihres Lebens erfahren.

Er versuchte erst, das Arbeitspult und dann den Bücherschrank zu öffnen: beide waren verschlossen. Aber die Commode zwischen den Fenstern und die Schublade des Tisches waren unverschlossen, und er durchsuchte beide sorgfältig, ohne durch irgend eine Entdeckung belohnt zu werden. Er nahm die Bücher, die sie auf dem Tische liegen lassen hatte, und schüttelte dieselben. Kein vergessener Brief, keine Notiz war darin. Er sah sich um, lauschte, um sich zu überzeugen, daß Niemand draußen sei, und trat dann in das Schlafzimmer. Er untersuchte den Toilettentisch, öffnete die Thür des Kleiderschrankes – und wiederum war alles Suchen fruchtlos.

Wieder in die Stube gehend, schüttelte er die Faust gegen den Schreibtisch. »Der würde nicht verschlossen sein«, dachte er, »wenn er nicht schändliche Geheimnisse enthielte. Aber ich werde wiederkommen; und sie denkt vielleicht einmal nicht daran, den Schlüssel abzuziehen.« Dann stahl er sich hinaus, die Treppe hinab und kam, ohne Jemandem zu begegnen, aus dem Hause.

Da das schlechte Wetter am folgenden Tage anhielt und Carmina zu Hause blieb, so hatte er keine Gelegenheit, seinen Besuch zu wiederholen.

Der Besuch der Zaubervorstellung hatte Carmina nicht gut gethan. Sie bekam in der schwülen Atmosphäre im Saale Kopfschmerzen, und war zu ermüdet, um bis zum Schluß der Vorstellung zu bleiben. Der arme Mr. Gallilee zog sich in Ungnade in seinen Club zurück, wo ihm heute beim Diner selbst seine unfehlbare gute Laune verließ, so daß er an dem Champagner etwas auszusetzen hatte – wofür er sich nachher aber bei dem Kellner wieder entschuldigte. »Ich habe Sie eben etwas hart angefahren; aber ich war aus dem Geleise – das ist Ihnen auch wohl schon einmal passiert, nicht wahr? Der Wein ist Prima-Qualität; und da das Wetter wirklich zu trostlos ist, so trinke ich, denk’ ich, noch einen Schoppen.«

Aber Carmina’s Elasticität trotzte der Mattigkeit, der Krankheit und dem trüben Tage. Sie hatte einen Brief von Ovid bekommen, worin er ihr eine Montreal aufgenommene Photographie von sich, die ihn im Reiseanzuge darstellte, übersandte. Der muntere Ton, in welchem er schrieb, belebte Carmina’s sinkenden Muth und gab ihr wenigstens für eine Zeit lang das Glück von früher wieder. Die Luft in den canadischen Ebenen, erklärte er, sei wirklich, berauschend; jede Stunde scheine ihm die in London verlorene Lebenskraft zurückzugeben; er schlafe auf dem Boden in freier Luft gesunder, als er je im Bette geschlafen habe. Aber eine Sorge beunruhige ihn: In der schwärmenden Lebensweise, die er jetzt führe, könnten ihm die Briefe nicht folgen, und doch werde er mit jedem Tage begieriger zu hören, daß sie es nicht müde werde, auf ihn zu warten, und daß zu Hause Alles wohl sei.

»Und wozu haben diese meine eitlen Hoffnungen geführt?« – hieß es weiter. »Zu einer Reise eines meiner Führer, eines Indianers, dessen Treue ich auf die Probe gestellt und dessen Eifer ich durch das Versprechen einer Belohnung angefeuert habe.

»Derselbe bringt diese Zeilen auf die Post nach Quebec und ist mit einer Vollmacht an meine Banquiers versehen, ihm die für mich angekommenen Briefe anzuvertrauen. Ich beginne morgen eine Reise per Canoe und habe nach gehöriger Berathung mit dem Trupp Datum und Ort bestimmt, an welchem mich mein Bote bei seiner Rückkehr wieder treffen wird. Soll ich Dir, mein Lieb, meine liebenswürdige Schwäche gestehen? oder kennst Du mich schon hinreichend, um die Wahrheit zu vermuthen? Ich werde hart versucht, meinen Plänen und Arrangements untreu zu werden – mit dem Indianer nach Quebec zurückzugehen und mit dem ersten Steamer nach England abzudampfen.

»Glaube nicht, mein Herz, daß mich irgendwelche Sorgen über das, was in meiner Abwesenheit vorgeht, beunruhigten! Nein, es ist gerade eins von den Zeichen wiederkehrender Gesundheit, daß ich Gegenwart und Zukunft von der heitersten Seite betrachte. Wenn ich mich versucht fühle zurückzukehren, so geschieht das aus demselben Grunde, der mich so nach Briefen verlangen läßt. Ich möchte etwas von Dir hören, weil ich Dich liebe – möchte auf der Stelle zu Dir eilen, weil ich Dich liebe. Sehnsucht, Unaussprechliche Sehnsucht ist es, was mein Herz einnimmt – nicht Zweifel oder Befürchtungen.

»Aber ich war Arzt, ehe ich Liebhaber wurde, und meine medicinischen Kenntnisse sagen mir, daß ich hier Gelegenheit habe, meine Constitution aus dem Grunde zu stärken und mir mit Gottes Hilfe eine Reserve von Gesundheit und Kraft zu verschaffen, die uns mit einander einem glücklichen Alter entgegen gehen lassen wird. Du sollst mein Weib sein, mein Herz – nicht meine Wärterin. Dieser Gedanke giebt mir Selbstverleugnung genug, den Indianer allein gehen zu lassen.«

Carmina beantwortete diesen Brief sofort, nachdem sie denselben gelesen hatte. Sie wußte allerdings, daß der Indianer längst wieder auf dem Rückwege sein würde, wenn die Post ihre Antwort nach ihrem Bestimmungsort brächte; aber Ovid hatte sie so glücklich gemacht, daß sie sich getrieben fühlte, ohne Verzug zu schreiben, gerade so wie sie ihm sofort geantwortet haben würde, wenn er mündlich mit ihr gesprochen hätte. Als sie aber das Couvert geschlossen und die Adresse geschrieben hatte, stellte sich die nachtheilige Wirkung der Anstrengung ein.

Selbst in der Fülle ihrer Freude war sie sich eines gewissen Mißtrauens zu sich selbst bewußt. Mr. Null, der Doktor hatte, wenn er es auch nicht eingestand, durch Verschreibung einer anderen Medicin einen Mangel an Vertrauen zu der erst verschriebenen, von welcher er so schnelle Resultate erwartet, bekundet, auch hatte er der täglichen Portion Wein, die er bis dahin für genügend gehalten, noch ein Glas hinzugefügt. Wenn Carmina auch nicht an sich verzweifelte, so fühlte sie doch, das; sie klug gethan habe zu schreiben, so lange sie noch wohl genug war, auf den munteren Ton in Ovid’s Briefe einzugehen.

Sie legte sich auf’s Sofa, um zu ruhen, die Photographie in der Hand haltend. Kein Gefühl der Einsamkeit bedrückte sie jetzt; sein Bild war ja die beste Gesellschaft, die sie haben konnte. Draußen klatschten die schweren Regentropfen; im Zimmer tickte die geschäftige Uhr. Träge lauschte sie dem Geräusche, betrachtete ihren Geliebten und küßte sein getreues Ebenbild – so ein friedliches Glück genießend.

Das Oeffnen der Thür war der erste kleine Zwischenfall, der sie störte. Zo lugte in’s Zimmer mit rothem Gesicht, zerzaustem Haar und tintebefleckten Fingern.

»Ich bin wüthend und die Andere auch«, kündigte sie an.

Carmina rief die Kleine zum Sofa und versuchte herauszubringen, wer die Andere sein möge. »O, Du weißt schon«, antwortete Zo mürrisch. »Sie hat mich auf die Knöchel geschlagen Das ist gemein.«

»Still, so etwas darfst Du nicht sagen.«

»Sie wird gleich hier sein«, fuhr Zo fort. »Pass’ nur auf! Sie würde Dich auch auf die Knöchel schlagen – aber Du bist zu groß. Wenn es nicht regnete, würde ich weglaufen.«

Carmina verwies ihre junge Freundin in einer deren Fassungsvermögen angepaßten Form; aber sie hätte gerade so gut in einer fremden Sprache reden können. Die Kleine hatte noch einen Grund zum Davonlaufen.

»Höre!« fing sie wieder an – »kennst Du den Jungen?«

»Welchen Jungen, mein Kind?«

»Der hier manchmal herkommt und den Affen hat, den er für Geld sehen läßt. Zu dem will ich.«

Dies Geständnis; von Zo’s erster Liebe war unwiderstehlich, und Carmina brach in ein Gelächter aus. Aber Zo verlangte entrüstet weiter gehört zu werden. »Ich bin noch nicht fertig!« rief sie. »Der Junge tanzt – sieh’ so.« Und damit warf sie den Kopf in die Höhe, schlug sich auf die Lenden und machte das Tanzen des Jungen nach. »Und manchmal singt er auch«, brach sie wieder in Bewunderung aus. »Ja – ja – ja – bella – vita – ja! Das ist Italienisch, Carmina.«

Während sie im vollen Gange war, öffnete sich die Thür wieder und Miß Minerva erschien. Carmina sah sofort, daß Zo ihre Gouvernante richtig beobachtet hatte, denn die Augenbrauen derselben waren zusammengezogen, die Lippen bleich, und zornig hielt sie den Kopf aufgerichtet. »Carmina!« rief sie scharf, »Sie sollten das Kind nicht ermuthigen.« Dann drehte sie sich um, um die Schwänzerin zu suchen; aber so einfältig Zo auch beim Unterrichte war, in der Freiheit hatte sie ihre intelligenten Momente und in einem solchen war sie aus dem Zimmer entwischt.

Miß Minerva ging zu einem Sessel und fiel wie eine von Müdigkeit Ueberkommene in denselben, so daß Carmina ihr sanft zuredete Sympathische Worte waren aber bei dieser selbstquälerischen Natur weggeworfen.

»Nein«, sagte sie; »ich bin nicht krank. »Schlaflose Nächte; Morgens ein störrisches Kind lehren und durchweg bei abscheulicher Laune – das ist, was mir fehlt.« Sie sah Carmina an. »Sie scheinen ja heute auffallend besser zu sein. Hat der einfältige Null wirklich einmal etwas Gutes fertig gebracht?« Jetzt fiel ihr Auge auf den geöffneten Schreibtisch und den Brief. »Oder haben Sie gute Nachrichten bekommen?«

»Ovid hat von sich hören lassen«, antwortete Carmina, deren angeborenes Zartgefühl sie die noch in ihrer Hand befindliche Photographie verbergen ließ.

Die bleiche Farbe der Gouvernante verwandelte sich nach und nach in ein dumpfgraues Weiß, und beim Hören des Namens Ovid krampften sich ihre lose im Schooße gefalteten Hände zusammen. Als aber diese leichte Bewegung vorüber war, rührte sie sich nicht mehr. Nachdem Carmina etwas gewartet hatte, wagte dieselbe zu sprechen. »Frances, Sie haben mir noch nicht die Hand gegeben.«

Miß Minerva sah langsam auf, behielt aber die Hände gefaltet im Schooße. »Wann kommt er zurück?«

Ebenso ruhig, wie gefragt worden, antwortete Carmina: »Noch nicht – leider nicht.«

»Das thut mir auch leid.«

»Es ist edel von Ihnen, daß Sie das sagen, Frances.«

»Nein, das ist es nicht. Ich denke dabei an mich, und nicht an Sie. Ich wollte, Sie wären schon verheirathet«, setzte sie plötzlich in gedämpftem Tone hinzu.

Es entstand eine Pause, die Miß Minerva zuerst wieder unterbrach. »Verstehen Sie mich?« fragte sie.

»Vielleicht sind Sie mir dazu behilflich«, antwortete Carmina.

»Wenn Sie mit ihm verheirathet wären, möchte auch wohl mein unruhiger Geist zur Ruhe kommen – der Kampf würde dann vorüber sein.«

Sie stand auf und ging ruhelos im Zimmer auf und ab, denn die leidenschaftliche Bewegung, die sie entschlossen niedergehalten hatte, begann zu mächtig zu werden.

»Ich habe die letzte Nacht an Sie gedacht«, begann sie plötzlich wieder. »Sie sind ein sanftes Wesen, aber Sie haben Muth gezeigt, als die kaltblütige Anmaßung Ihrer Tante Sie aufbrachte. Wissen Sie, was ich in Ihrer Stelle thun Winde? Ich würde hier nicht zahm warten, bis er zu mir zurückkäme, sondern ich würde selbst zu ihm gehen. Carmina! Carmina! gehen Sie fort aus diesem schrecklichen Hause!« Dicht vor dem Sofa blieb sie stehen. »Lassen Sie mich Sie ansehen. Ha! ich glaube, Sie haben selbst daran gedacht?«

»Das habe ich.«

»Und was sagte ich? Sie arme kleine Gefangene, Sie haben ja den rechten Muth in sich! Ich wollte, ich könnte Ihnen etwas von meiner Kraft abgeben.«

Der halbspöttische Ton, in welchem sie gesprochen hatte, verließ sie; ihre durchdringenden Augen wurden trübe; die harten Züge wurden weich, und auf die Kniee fallend, schlang sie die geschmeidigen Arme um Carmina und küßte dieselbe. »Sie holdes Kind!« – und dann brach sie in leidenschaftliches Weinen aus.

Aber selbst jetzt bekundete sich die unabhängige stolze Natur des Weibes. Sie drängte Carmina auf das Sofa zurück. »Sehen Sie mich nicht an! sprechen Sie nicht mit mir«, stieß sie hervor. »Lassen Sie es mich erst überwunden haben.«

Sie erstickte das Schluchzen das ihr in die Kehle kam. Dann sah sie, noch auf den Knieen liegend, auf und schauderte; ein geisterhaftes Läche1n verzog ihre Lippen und sie sagte: »Ach, was für Narren sind wir! Wo ist das Lavendelwasser, Ihr Lieblingsmittel bei brennendem Kopfe?« Ehe aber Carmina ihr noch behilflich sein konnte, hatte sie die Flasche gefunden, befeuchtete ihr Taschentuch mit der Flüssigkeit und band sich dasselbe um den Kopf. »Ja«, bemerkte sie dann, als ob sie über den alltäglichsten Gegenstand geplaudert hätten, »ich glaube, Sie haben Recht, dies ist das beste Parfüm von allen.« Dann sah sie nach der Uhr. »Ja zehn Minuten wird das Essen für die Kinder fertig sein, und ich muß und will Ihnen noch sagen, was ich zu sagen habe. Es ist vielleicht das Letzte, womit ich all Ihre Freundlichkeit erwidern kann, Carmina.«

 

Nachdem sie wieder auf ihrem Sofa Platz, genommen, fuhr sie fort: »Ich kann nichts dafür, wenn ich Sie erschrecke; ich muß Ihnen sagen, daß mir die Aussicht nicht gefällt. Je eher wir Beide getrennt sind – o, nur für eine Zeit lang! – desto besser für Sie. Nach dem, was ich die letzte Nacht durchgemacht habe – doch nein, ich will nicht in’s Einzelne gehen, sondern nur wiederholen, was ich schon früher gesagt habe – trauen Sie mir nicht. Ich meine das so, Carmina! Ihre Hochherzigkeit soll Sie nicht irreführen, wenn ich es verhindern kann. Wenn Sie erst glückliche Frau sind und er mir noch weiter. entrückt ist als sogar jetzt, dann gedenken Sie Ihrer häßlichen übellaunigen Freundin und lassen Sie mich zu Ihnen kommen. Nun genug hiervon! Ich habe Ihnen noch andere Besorgnisse zu gestehen. Sie kennen Ihre alte Amme ja genau, während ich sie nur einen oder zwei Tage gesehen habe; aber dieselbe ist nach meinem Urtheil eine Frau, deren Liebe zu Ihnen sich bei sehr geringfügiger Herausforderung in tigerische Zärtlichkeit verwandeln kann. Sie schreiben beständig an sie; weiß sie, was Sie gelitten haben? Haben Sie ihr die Wahrheit gesagt?«

»Ja.«

»Ohne Rückhalt?«

»Ohne jeden Rückhalt.«

»Glauben Sie nicht, Carmina, daß es ernste Folgen haben kann, wenn die Alte nach London kommt und Sie und Ihre Tante sieht, und daß Ihre Stellung zwischen Beiden eine derartige werden könnte, daß sie dieselbe bei aller Tapferkeit nicht ertragen könnten, auch wenn Sie zehnmal stärker wären, als Sie sind?«

Carmina fuhr auf dem Sofa auf, außer Stande zu sprechen Miß Minerva gab ihr indeß Zeit, sich zu fassen.

»Ich rege Sie nicht um nichts aus«, fuhr Letztere nach einem nochmaligen Blicke auf die Uhr fort; »sondern habe etwas Hoffnungsvolles vorzuschlagen, Ihre Freundin Teresa besitzt Energie, wilde Energie. Benutzen Sie dieselbe; sie wird Alles thun, was Sie von ihr wünschen. Nehmen Sie sie mit nach Canada!«

»O Frances!«

Miß Minerva zeigte auf den auf dem Pulte liegenden Brief. »Hat er Ihnen gesagt, wann er zurückkommt?«

»Nein. Er sieht ein, wie wichtig es für ihn ist, sich vollständig zu erholen, und geht weiter und weiter. Seine Briefe läßt er sich von und nach Quebec senden.«

»Dann brauchen Sie nicht zu besorgen, an einander vorbeizufahren. Gehen Sie nach Quebec und warten Sie dort auf ihn.«

»Ich würde ihn erschrecken.«

»Sie nicht!«

»Was könnte ich ihm aber sagen?«

»Was Sie ihm sagen müßten, wenn Sie so schwach wären, hier auf ihn zu warten. Glauben Sie, daß seine Mutter seine Gefühle berücksichtigen wird, wenn er zurückkommt, um Sie zu heirathen? Ich wiederhole nochmals, daß ich nicht in’s Blaue hinein spreche; ich habe Alles erwogen und weiß, wie Sie entkommen und der Verfolgung trotzen können. Sie haben Geld genug; Teresa, die Sie von ganzer Seele liebt, wird für Sie sorgen – also gehen Sie! Ihretwegen und seinetwegen, gehen Sie!«

Da die Uhr schlug, erhob sich die Gouvernante und nahm das Taschentuch ab. »Still!« sagte sie plötzlich. »Ist das nicht das Rauschen eines Kleides unten auf dem Flur?« « Rasch nahm sie eine Medicinflasche, um einen Vorwand für ihre Anwesenheit zu haben. Das Rauschen kam näher und gleich darauf öffnete Mrs. Gallilee – die auf dem Wege zu dem Mahl der Kinder im Schulzimmer war – die Thür.

Dieselbe wußte sofort, welchen Zweck die Flasche haben sollte und sagte: »Es ist meine Sache, Carmina Medicin zu geben. Sie haben Ihr Geschäft im Schulzimmer.«

Damit nahm sie die Flasche und ging zu Carmina. Ehe Miß Minerva das Zimmer verließ, wandte sie sich noch einmal um und sah in den hinter dem Sofa hängenden Spiegel Mrs. Gallilee’s Gesicht, als diese und Carmina einander ansahen.

Die Mädchen warteten auf ihr Essen – Maria in friedlicher Geduld; so, unter die Deckel der Schüsseln guckend und mit Wollust den Duft von geschmorten Aalen einziehend. Erstere empfing die unglückliche Gouvernante mit ihrem stets bereiten Lächeln: »Wir wurden wirklich fast schon besorgt um Sie, liebe Miß Minerva. Verzeihen Sie die Bemerkung, Sie sehen so entschlossen aus.«

»Ja«, antwortete Miß Minerva abwesend, als ob sie nicht mit Maria, sondern mit sich selbst spräche; »ich bin auch entschlossen.«