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Die Frau in Weiss

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XV

Der Gang dieser Erzählung führt mich auf seiner ununterbrochen fortschreitenden Bahn von unserem verheiratheten Leben fort dem Ende entgegen.

In vierzehn Tagen waren wir alle Drei wieder nach London zurückgekehrt; und der Schatten des kommenden Kampfes schlich sich über uns hin.

Marianne und ich trugen Sorge, Laura über die Ursache, welche uns so schnell zurückzukehren trieb – die Nothwendigkeit nämlich, uns des Grafen zu versichern – in Unwissenheit zu erhalten. Wir waren jetzt im Anfange des Monat Mai, und des Grafen Contract über das Haus in Forest Road würde im Juni abgelaufen sein. Falls er denselben erneute (und dies anzunehmen hatte ich Gründe, die ich in Kurzem nennen werde), konnte ich ziemlich sicher sein, daß er mir nicht entwischen würde. Falls er jedoch meine Erwartungen täuschte und das Land verließe – dann hätte ich keine Zeit zu verlieren, indem ich mich nach Kräften für die Begegnung mit ihm waffnete.

In der ersten Fülle meines neuen Glückes hatte ich Augenblicke gehabt, in denen mein Entschluß wankte – Augenblicke, in denen ich mich versucht fühlte zufrieden zu sein, jetzt, da das höchste Streben meines Lebens durch den Besitz von Laura’s Liebe erfüllt war. Zum erstenmale dachte ich zagend an die Größe des Wagnisses; an die gegnerischen Verhältnisse, die sich mir in den Weg stellten; an das schöne Versprechen unseres neuen Lebens und an die Gefahr, in die ich das Glück bringen mochte, das wir uns so schwer erworben. Ja! daß ich es ehrlich bekenne. Auf kurze Zeit ging ich in der süßen Führung der Liebe von dem Ziele ab, dem ich unter strengerer Zucht und trüberen Tagen treu geblieben war. Unschuldigerweise hatte Laura mich von diesem Pfade abgeleitet – und unschuldigerweise war sie bestimmt, mich auf ihn zurückzuführen.

Zu Zeiten brachten unzusammenhängende Träume der furchtbaren Vergangenheit in dem Geheimnisse des Schlafes ihr die Ereignisse zurück, von denen ihr Gedächtniß wachend alle Spur verloren. Eines Abends (kaum zwei Wochen nach unserer Vermählung) als ich sie betrachtete, wie sie schlummernd dalag, sah ich Thränen langsam durch ihre geschlossenen Augenlider quellen und hörte sie leise  Worte murmeln, welche mir sagten, daß ihr Geist zu der unheilvollen Reise von Blackwater Park zurückgekehrt sei.

Diese unbewußte Aufforderung, die so rührend und so ehrfurchteinflößend wurde durch die Heiligkeit ihres Schlafes, durchfuhr mich wie eine Flamme. Am folgenden Tage kehrten wir nach London zurück – und dies war der Tag, an dem mein Entschluß zehnfach verstärkt wieder in mir auflebte.

Die erste Nothwendigkeit war, Etwas über den Mann zu erfahren. Bis jetzt war mir seine wahre Lebensgeschichte ein undurchdringliches Geheimniß.

Ich begann mit solchen spärlichen Erkundigungsquellen, wie sie mir zu Gebote standen. Die wichtige Aussage Mr. Frederick Fairlie’s (welche Marianne erhalten hatte, indem sie meine ihr im Winter ertheilten Weisungen befolgte) erwies sich als nutzlos für den besondern Zweck, aus dessen Gesichtspunkte ich ihn jetzt betrachtete. Während ich dieselbe las, überlegte ich nochmals die Mittheilungen, welche Mrs. Clements mir über die Reihe von Betrügereien gemacht hatte, durch die man Anna nach London gelockt und sie dort dem Interesse des Verrathes geopfert hatte. Auch hier wieder hatte der Graf sich nicht offenbar compromittirt; auch hier war er für jeden practischen Zweck für mich unerreichbar.

Ich wandte mich zunächst zu Mariannen’s Tagebuche in Blackwater Park. Auf meinen Wunsch las sie mir nochmals eine Stelle aus demselben vor, in welcher es sich um ihre frühere Neugierde in Bezug auf den Grafen handelte und um die wenigen Einzelheiten, welche sie sich über ihn zu verschaffen vermocht hatte.

Die Stelle, auf die ich hier hindeute, erscheint in jenem Theile ihres Tagebuches, wo sie seinen Charakter und seine Persönlichkeit beschreibt. Sie sagt, er habe »seit Jahren nicht mehr den Boden seines Vaterlandes betreten« – habe sich erkundigt, »ob in der Blackwater Park am nächsten gelegenen Stadt sich Italiener aufhielten« – und daß er »Briefe mit allerlei Poststempeln erhalten, worunter einer mit einem großen, officiell aussehenden Siegel gewesen.« Sie ist geneigt zu glauben, daß seine lange Abwesenheit von seinem Geburtslande durch die Annahme zu erklären wäre, daß er ein politischer Flüchtling sei. Auf der anderen Seite dagegen läßt sich diese Idee nicht mit dem Umstande in Einklang bringen, daß er Briefe aus dem Auslande mit »großen, officiell aussehenden Siegeln« erhalten, indem Briefe an politische Flüchtlinge gewöhnlich die letzten sind, welche auf diese Weise die Aufmerksamkeit der Postämter auf sich zu ziehen suchen.

Die Betrachtungen, welche sich mir aus dem Tagebuche aufdrängten, verbunden mit gewissen Ahnungen, die aus ihnen entstanden, ließen mich zu einem Schlusse kommen, an den nicht früher gedacht zu haben mich jetzt Wunder nahm. Ich sagte jetzt zu mir selbst, was Laura einst in Blackwater Park zu Mariannen gesagt und was die Gräfin Fosco, indem sie an der Thüre gehorcht, gehört hatte – der Graf ist ein Spion!

Laura hatte dieses Wort aufs Gerathewohl und in ihrer natürlichen Entrüstung über sein Verfahren gegen sie angewendet. Ich aber that Dies in der wohl erwogenen Ueberzeugung, daß sein Lebensberuf der eines Spions sei. Nach dieser Voraussetzung wurde ein Bleiben in England, so lange nachdem er den Zweck des Complotts erreicht, vollkommen verständlich.

Das Jahr, von dem ich jetzt schreibe, war das der großen Industrieausstellung im Krystall-Palaste in Hyde Park. Ausländer waren in großer Anzahl bereits in England angekommen, und ihre Zahl vermehrte sich noch täglich. Es befanden sich Männer unter uns, welche der unausgesetzte Argwohn ihrer Regierungen durch angestellte Agenten bis an unsere Gestade verfolgen ließ. Meine Muthmaßungen ließen mich keinen Augenblick einen Mann von des Grafen Fähigkeiten und gesellschaftlicher Stellung mit der gewöhnlichen Menge von Spionen vergleichen. Ich hatte ihn im Verdachte, daß er eine offizielle Stellung einnähme; daß das Gouvernement, dem er im Geheimen diente, ihn mit der Organisation und Leitung besonderer Agenten, weiblicher sowohl als männlicher, in diesem Lande beauftragt hatte; und ich glaubte, daß Mrs. Rubelle, welche so zur gelegenen Zeit gefunden worden, um in Blackwater Park die Krankenwärterin zu spielen, aller Wahrscheinlichkeit nach auch eine von diesen Personen war.

Nach der Voraussetzung, daß diese meine Vermuthung auf Wahrheit begründet war, durfte des Grafen Stellung nicht so unangreifbar sein, wie ich mich bisher zu hoffen gescheut. An wen konnte ich mich wenden, um etwas mehr von des Mannes Geschichte und über den Mann selbst zu erfahren, als ich bis jetzt wußte?

In dieser Schwierigkeit fiel mir natürlich ein, daß ein Landsmann, auf den ich mich würde verlassen können, die geeignetste Person sein dürfte, um mir zu helfen. Der erste Mann, an den ich unter diesen Umständen dachte, war zugleich der einzige Italiener, mit dem ich genau befreundet war – mein drolliger kleiner Freund, Professor Pesca.

Der Professor ist in diesen Blättern so lange vom Schauplatze abgetreten, daß er Gefahr gelaufen, ganz und gar vergessen zu sein.

Es ist das nothwendige Gesetz einer Erzählung wie diese, daß die darin betreffenden Personen nur dann erscheinen, wenn der Gang der Ereignisse sie aufnimmt – sie kommen und gehen, nicht nach der Gunst meiner persönlichen Vorliebe, sondern nach dem Rechte ihrer unmittelbaren Verbindung mit den zu erzählenden Ereignissen. Aus diesem Grunde blieb nicht blos Pesca, sondern auch meine Mutter und meine Schwester weit im Hintergrunde der Erzählung zurück. Meine Besuche nach der Villa in Hampstead, meiner Mutter Ueberzeugung von Laura’s Tode, meine Bemühungen, sie und meine Schwester vom Gegentheile zu überzeugen, was mir bei ihrer eifersüchtigen Liebe zu mir nicht gelingen wollte; die peinliche Nothwendigkeit, in Folge dieses ihres Vorurtheils sie über meine Vermählung in Unwissenheit zu lassen – alle diese kleinen Familienereignisse sind unberichtet geblieben, weil sie nicht zum Hauptinteresse der Geschichte gehörten. Was sie noch zu meinen Sorgen hinzufügten, ist Nichts, und meine Täuschung noch bitterer machten – der ruhige Gang der Ereignisse hat sie unerbittlich übergangen.

Aus demselben Grunde habe ich hier Nichts von dem Troste gesagt, den ich in Pesca’s brüderlicher Zuneigung zu mir fand, als ich ihn nach meiner plötzlichen Rückkehr aus Limmeridge House wiedersah. Ich habe Nichts von der treuen Anhänglichkeit gesagt, mit der mein warmherziger kleiner Freund mir nach dem Einschiffungsplatze folgte, als ich nach Centralamerika absegelte, noch von dem frohen Jubel, mit dem er mich begrüßte, als wir uns das nächste Mal in London wiedersahen. Hätte ich mich berechtigt gefühlt, die Dienstesanerbietungen anzunehmen, die er mir bei meiner Heimkehr machte, so würde er längst wieder in diesen Blättern erschienen sein. Aber, obgleich ich wußte, daß ich mich auf seine Ehre und seinen Muth verlassen durfte, war ich doch nicht ebenso fest überzeugt, daß ich seiner Vorsicht vertrauen dürfe; und nur aus diesem Grunde setzte ich meine Nachforschungen allein fort. Es wird hiermit klar sein, daß Pesca durchaus nicht von mir oder meinem Interesse getrennt gewesen, obgleich er von dem Fortgange dieser Erzählung fern geblieben. Er war mir noch immer ein ebenso treuer und dienstwilliger Freund, wie er es je im Leben gewesen.

Ehe ich Pesca zu meinem Beistande herbeiholte, war es nothwendig, daß ich mich selbst davon überzeugte, mit welch einer Art von Manne ich zu thun habe. Bis zu diesem Augenblicke hatte ich den Grafen Fosco noch nicht ein einziges Mal gesehen.

Drei Tage nach unserer Rückkehr nach London machte ich mich morgens zwischen zehn und elf Uhr allein auf den Weg nach Forest Road, St. John’s Wood. Es war ein schöner Tag– es blieben mir einige Mußestunden – und ich hielt es für wahrscheinlich, daß, falls ich ein wenig wartete, der Graf sich durch das schöne Wetter herauslocken lassen würde. Ich hatte keinen besonderen Grund zu befürchten, daß er mich bei Tage erkennen würde, denn das einzige Mal, daß er mich gesehen, war an jenem Abende gewesen, wo er mir von der Eisenbahn in der Entfernung nach Hause gefolgt war.

 

Es ließ sich Niemand an den vorderen Fenstern des Hauses sehen. Ich ging in eine kleine Nebenstraße hinein, die an der Seite des Hauses hinunter lief, und schaute über die niedrige Gartenmauer. Eins der Fenster in einer hinteren Parterrestube stand offen und über die Oeffnung hin war ein Netz gezogen. Ich sah Niemanden; aber ich hörte im Zimmer erst das laute Zwitschern und Singen der Vögel und dann die tiefe, durchdringende Stimme, mit der Mariannen’s Beschreibung mich vertraut gemacht. »Komm heraus auf meine Finger, meine Piep-Piep-Piepvögelchen!« rief die Stimme. »Komm heraus! Hüpf hinauf! Eins – zwei – drei – und oben. Drei – zwei – eins – und wieder unten! Eins – zwei – drei – zirp – zirp – zirp – ziiiirp!« Der Graf exercirte seine Canarienvögel, wie er sie zu Mariannen’s Zeit in Blackwater Park zu exerciren pflegte.

Ich wartete eine kleine Weile, bis das Singen und Zirpen aufhörte. »Komm und küßt mich!« sagte die tiefe Stimme. Ich hörte ein erwiderndes Zwitschern und Zirpen – ein leises, sanftes Lachen – dann trat eine Stille von einer oder zwei Minuten ein – und darauf wurde die Hausthür geöffnet. Ich wandte mich um und ging zurück. Die erhabene Melodie des Gebetes in Rossini’s »Moses,« von einer wohlklingenden Baßstimme gesungen, erhob sich großartig in der Stille der Vorstadt. Das Pförtchen des Vordergartens öffnete und schloß sich. Der Graf war herausgekommen.

Er ging über den Weg hinüber und nach der westlichen Grenze des Regent’s Park zu. Ich blieb auf meiner Seite der Straße ein wenig hinter ihm zurück und nahm dieselbe Richtung.

Marianne hatte mich auf seine hohe Gestalt, seine ungeheure Corpulenz und seine auffallenden Trauerkleider vorbereitet – nicht aber auf des Mannes Frische, Munterkeit und Lebenskraft. Er trug seine sechzig Jahre, als ob es keine vierzig gewesen wären. Er schlenderte dahin, den Hut ein wenig auf der einen Seite tragend, mit einem leichten, munteren Schritte, indem er seinen großen Stock schwang, vor sich hin summte und von Zeit zu Zeit mit süperber Herablassung an den Häusern und Gärten zu beiden Seiten hinauf und hinab blickte. Hätte man einem Fremden gesagt, es gehöre diesem Manne die ganze Nachbarschaft, so würde dies den Fremden nicht im Geringsten überrascht haben. Er sah sich nicht ein einziges Mal um; er nahm anscheinend keine Notiz von mir, noch von sonst Jemandem, der an ihm an seiner Seite der Straße vorbeiging – ausgenommen hin und wieder, wenn er mit einer Art leichter, väterlicher guter Laune die Kindermädchen und Kinder anlächelte, die ihm begegneten. Auf diese Weise führte er mich immer weiter, bis wir an eine Colonie von Kaufläden außerhalb der westlichen Terrassen des Parkes kamen.

Hier trat er in einen Pastetenbäckerladen (wahrscheinlich um eine Bestellung zu machen) und kam augenblicklich mit einem kleinen Fruchttörtchen in der Hand wieder heraus. Ein italienischer Knabe mit einer Drehorgel, auf welcher sich ein jämmerlicher, verschrumpfter Affe befand, spielte vor dem Laden. Der Graf stand still, biß ein Stück für sich selbst aus dem Törtchen und überreichte das Uebrige mit ernster Miene dem Affen. »Mein armer kleiner Bursch!« sagte er mit grotesker Zärtlichkeit; »Du siehst hungrig aus. Im heiligen Namen der Menschheit überreiche ich Dir etwas Frühstück!« Der Orgelspieler wagte ein jammervolle Bitte um einen Penny an den wohlthätigen Fremden. Der Graf zuckte verächtlich die Achseln – und ging weiter.

Wir kamen zu den Straßen und der besseren Classe von Kaufläden zwischen dem New-Road und der Oxford Straße. Der Graf unterbrach seinen Weg abermals und trat in einen kleinen Optikerladen, der eine Anzeige im Fenster hatte, daß drinnen Ausbesserungen aus das Sorgfältigste ausgeführt würden. Er kam wieder heraus und hatte ein Opernglas in der Hand; dann ging er ein paar Schritte weiter und stand wiederum still, um einen vor einem Notenladen stehenden Opernzettel zu lesen. Er that dies aufmerksam, überlegte einen Augenblick und rief dann ein leeres Cabriolet an, das vorbeifuhr. »Zum Billetverkauf der Oper,« sagte er zu dem Kutscher und fuhr davon.

Ich ging hinüber und sah meinerseits den Opernzettel an. Die angekündigte Oper war »Lucrezia Borgia« und die Vorstellung sollte an demselben Abende stattfinden. Das Opernglas in der Hand des Grafen, sein sorgfältiges Lesen des Zettels und sein Befehl an den Cabrioletkutscher – ließen mich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er ein Zuhörer der Vorstellung zu sein beabsichtigte. Ich hatte Gelegenheit, indem ich mich an einen der Decorationsmaler des Theaters, mit dem ich in früheren Zeiten bekannt gewesen, wandte, für mich und einen Freund Billete für’s Parterre zu erhalten. Es war wenigstens eine Aussicht vorhanden, daß der Graf mir und einem Gefährten leicht unter den Zuschauern sichtbar sein würde, und in diesem Falle hatte ich ein Mittel, noch an diesem Abende, zu erfahren, ob Pesca seinen Landsmann kenne oder nicht.

Dieser Gedanke entschied sofort über die Art und Weise, in der ich meinen Abend hinbringen würde. Ich verschaffte mir die Billete und gab auf meinem Heimwege ein paar Worte an den Professor in seiner Wohnung ab. Ein Viertel vor acht Uhr kehrte ich zurück, um ihn mit mir in die Oper zu nehmen. Mein kleiner Freund war in einem Zustande der unbeschreiblichsten Aufregung, mit einer festlichen Blume im Knopfloch und dem größten Opernglase unter dem Arme, das ich je gesehen.

»Bist Du fertig?« frug ich.

»Richtig-Alles-richtig,« sagte Pesca.

Wir machten uns auf den Weg nach dem Theater.

XVI

Die letzten Noten der Ouvertüre wurden gespielt und die Plätze im Parterre waren alle gefüllt, als Pesca und ich anlangten.

Doch blieb noch reichlich Raum für uns in dem Stehplatze, der sich um das Parterre zog – genau der Ort, der für den Zweck, der mich in die Vorstellung führte, am Geeignetsten war. Ich ging zuerst an die Barrière, welche uns von dem Sperrsitz trennte und sah mich hier nach dem Grafen um. Er war nicht dort. Als ich zurück und im Stehplatze entlang ging, erblickte ich ihn im Parterre. Er hatte einen vortrefflichen Platz – ungefähr den zwölften oder vierzehnten vom Ende der Bank und nur drei Reihen hinter den Sperrsitzen. Ich stellte mich genau in gerader Linie mit ihm auf und Pesca stand an meiner Seite. Der Professor wußte noch Nichts von dem Zwecke, um dessentwillen ich ihn in das Theater gebracht und war etwas erstaunt darüber, daß wir nicht näher zur Bühne herangingen.

Der Vorhang ging in die Höhe, und die Oper begann.

Während des ganzen ersten Aufzuges blieben wir an unserem Platze; der Graf war so sehr in die Musik und die Aufführung vertieft, daß er auch nicht einen zufälligen Blick in unsere Richtung warf. Keine Note von Donizetti’s reizender Musik entging ihm. Da saß er, hoch über seine Nachbarn empor ragend, indem er von Zeit zu Zeit lächelte und beifällig mit seinem großen Kopfe nickte. Wenn die Leute neben ihm beim Schlusse irgend einer Arie applaudirten (worauf ein englisches Publikum stets versessen ist), ohne im Geringsten auf die unmittelbar sich anschließende Musik des Orchesters Rücksicht zu nehmen, schaute er sich mit einer Miene mitleidiger Gegenvorstellung nach ihnen um und hielt eine Hand mit einer Bewegung wie höflicher Bitte in die Höhe. Bei den feineren Gesangsstellen und den zarteren Musikphrasen, welche von Anderen nicht applaudirt wurden, schlugen seine dicken Hände, die mit makellos sitzenden schwarzen Handschuhen bekleidet waren, sanft zum Zeichen der fein gebildeten Schätzung eines musikalischen Mannes ineinander. Bei solchen Gelegenheiten summte sein sanfter Beifall: »Bravo! Bra–v–a!« wie das Schnurren einer großen Katze durch die Stille. Seine unmittelbaren Nachbarn – derbe, frische Landleute, die sich erstaunensvoll im modischen London sonnten – begannen, seinem Beispiele zu folgen. Mancher Ausbruch des Beifalls ging an diesem Abende im Parterre von dem sanften Zusammenschlagen der schwarz behandschuhten Hände aus. Jenes Menschen gefräßige Eitelkeit verschlang diesen seiner kritischen Ueberlegenheit gezollten Tribut mit einem Anscheine des größten Hochgenusses. Ein Lächeln nach dem andern schwebte über sein dickes Gesicht. Er schaute während der Pausen in der Musik in heiterer Zufriedenheit mit sich selbst und seinen Nebenmenschen um sich. »Ja! ja! diese barbarischen Engländer lernen Etwas von mir. Hier, dort, überall bin ich – Fosco – ein Einfluß, den man fühlt, ein Mann, der über Alle erhaben steht!« Falls je ein Gesicht gesprochen hat, so sprach das seinige jetzt, und jenes waren seine Worte.

Der Vorhang fiel nach dem ersten Akte, und das Publikum stand auf, um sich umzuschauen. Dies war der Zeitpunkt, auf den ich gewartet hatte – der Augenblick, wo ich sehen wollte, ob Pesca ihn kenne.

Er erhob sich mit den Uebrigen und schweifte großartig, mit seinem Opernglase über die Inhaber der Logen hin. Zuerst hatte er den Rücken uns zugewandt, bald aber drehte er sich herum und betrachtete die Logen über uns, wobei er für ein paar Minuten sich seines Glases bediente – dann nahm er es hinweg, fuhr jedoch fort, hinaufzublicken. Dies war der Augenblick, den ich wählte, Pesca’s Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken, da jetzt sein ganzes Gesicht voll nach uns gewendet war.

»Kennst Du den Mann da?« frug ich.

»Welchen Mann, lieber Freund?«

»Den großen, corpulenten Mann, der dort mit dem Gesicht uns zugewandt steht.«

Pesca erhob sich auf seine Fußspitzen und sah sich den Grafen an.

»Nein,« sagte er. »Der dicke Mann ist mir unbekannt. Ist er berühmt? Warum zeigst Du ihn mir?«

»Weil ich besondere Gründe habe zu wünschen, Etwas über ihn zu erfahren. Er ist ein Landsmann von Dir und heißt Graf Fosco. Kennst Du den Namen?«

»Nicht im Geringsten, Walter. Der Name sowohl wie der Mann ist mir fremd.«

»Bist Du ganz sicher, daß Du ihn nicht kennst? Sieh ihn noch einmal an – recht aufmerksam. Ich will Dir, wenn wir das Theater verlassen, sagen, weshalb mir so sehr daran liegt. Warte! Laß’ mich Dir hier hinauf helfen, damit Du ihn besser siehst.«

Ich half dem kleinen Mann auf die Kante der Plattform steigen, auf der sich die Parterresitze befinden. Hier war ihm seine kurze Gestalt kein Hinderniß: er konnte über die Köpfe der Damen hinwegsehen, die am äußeren Ende der Bank saßen.

Ein schlanker, blondhaariger Mann, den ich bisher nicht bemerkt hatte – ein Mann mit einer Narbe auf seiner linken Wange – schaute Pesca aufmerksam an, als ich ihn auf die Plattform stellte, und dann, der Richtung von Pesca’s Augen folgend, blickte er den Grafen noch aufmerksamer an. Vielleicht hatte er unsere Unterhaltung gehört, und dieselbe hatte, wie ich mir vorstellte, seine Neugierde erregt.

Unterdessen heftete Pesca seine Blicke aufmerksam auf das große, lächelnde Gesicht, das ihm gerade gegenüber ein wenig aufwärts gekehrt war.

»Nein,« sagte er, »ich habe diesen großen, dicken Mann in meinem ganzen Leben noch nie mit meinen zwei Augen erblickt.«

Während er sprach, blickte der Graf herunter nach den Parterrelogen hinter uns zu.

Die Blicke der beiden Italiener begegneten sich.

Im Augenblicke vorher war ich nach Pesca’s wiederholter Versicherung überzeugt gewesen, daß er ihn nicht kannte. Im Augenblicke nachher war ich ebenso fest überzeugt, daß der Graf Pesca kannte!

Ihn kannte – und, was noch seltsamer war – ihn zugleich fürchtete! Die Veränderung, die mit dem Gesichte des Schurken vorging, war nicht zu verkennen. Die bleierne Blässe, die sich in einer Secunde über sein gelbes Antlitz zog, das plötzliche Erstarren all’ seiner Züge, das verstohlene Forschen seiner kalten, grauen Augen, die stille Unbeweglichkeit seines ganzen Körpers – alles Dies sprach deutlich genug. Eine tödtliche Furcht hatte ihn an Leib und Seele ergriffen – und sein Erkennen Pesca’s war die Ursache derselben!

Der schlanke Mann mit der Narbe auf der Wange stand noch immer neben uns. Er hatte anscheinend seinen Schluß aus der Wirkung gezogen, die Pesca’s Anblick auf den Grafen gemacht, wie ich den meinigen. Er war ein stiller, gentlemännisch aussehender Mann, dem Anscheine nach ein Ausländer, und sein Interesse an unserem Verfahren drückte sich durchaus nicht auf beleidigende Weise aus.

Was mich selbst betrifft, so war ich so erstaunt über die Veränderung in des Grafen Gesichte und über die so ganz unerwartete Wendung der Ereignisse, daß ich nicht wußte, was ich zunächst thun oder sagen sollte. Pesca rief mich zu mir selbst zurück, indem er an seinen früheren Platz an meiner Seite zurücktrat und zuerst wieder sprach.

 

»Wie der dicke Mann glotzt!« rief er aus. »Glotzt er mich an? Bin ich etwa berühmt? Wie kann er mich kennen, wenn ich ihn nicht kenne?«

Ich heftete meine Augen noch immer fest auf den Grafen. Ich sah, wie er sich zum ersten Male wieder bewegte, als Pesca herabstieg, und zwar so wandte, daß er den kleinen Mann an seinem niedrigeren Platze nicht aus dem Gesichte verlor. Ich war neugierig zu sehen, was sich ereignen würde, wenn sich Pesca’s Aufmerksamkeit von ihm abzöge, und frug deshalb Pesca, ob er unter den anwesenden Damen in den Logen einige seiner Schülerinnen sehe. Pesca erhob augenblicklich sein großes Opernglas und schweifte langsam mit demselben über den oberen Theil des Theaters hin, indem er mit der größten Gewissenhaftigkeit nach Schülerinnen suchte.

Sowie er sich auf diese Weise beschäftigt zeigte, wandte der Graf sich um, ging an den Personen vorüber, die auf der entgegengesetzten Seite von dem Platze, an dem er stand, saßen, und verschwand in der Mittelpassage des Parterres. Ich faßte Pesca am Arm und zog ihn zu seinem unaussprechlichen Erstaunen mit mir nach dem Hintergrunde des Parterres herum, um den Grafen abzufassen, ehe er an die Thür würde gelangen können. Ziemlich zu meinem Erstaunen eilte der schlanke Mann uns voraus, indem er einem Aufenthalte aus dem Wege ging, der dadurch verursacht wurde, daß einige Personen auf unserer Seite ihre Plätze verließen, wodurch Pesca und ich verhindert wurden, unsern schnellen Lauf fortzusetzen. Als wir in der Vorhalle anlangten, war der Graf verschwunden – und der Ausländer mit der Narbe ebenfalls.

»Komm nach Hause,« sagte ich; »komm nach Hause, Pesca, nach Deiner Wohnung. Ich muß allein mit Dir sprechen – und zwar sofort.«

»Güte du meine Güte!« rief der Professor in einem Zustande des beispiellosesten Erstaunens aus; »was in aller Welt ist los!«

Ich schritt schnell dahin, ohne zu antworten. Die Umstände, unter welchen der Graf das Theater verlassen, brachten mich auf den Gedanken, daß seine unbegreifliche Sorge, Pesca zu entwischen, ihn zu noch ferneren, äußersten Mitteln schreiten lassen möge. Er konnte, indem er London verließe, auch mir entwischen. Ich zweifelte an der Zukunft, falls ich ihm nur einen Tag der Freiheit ließe, um nach Gefallen zu handeln. Und ich zweifelte an dem Ausländer, der uns vorausgeeilt, und den ich im Verdacht hatte, daß er ihm absichtlich hinausgefolgt war.

Unter diesem doppelten Argwohne brauchte ich nicht lange Zeit, um Pesca mit Dem bekannt zu machen, was ich wollte. Sobald wir allein in seinem Zimmer waren, vermehrte ich seine Verwirrung und sein Erstaunen noch um das Hundertfache, indem ich ihm ebenso deutlich, wie ich es hier beschrieben, auseinandersetzte, welchen Zweck ich im Auge habe.

»Lieber Freund, was kann ich thun?« rief, der Professor, indem er mir mit kläglicher Miene beide Hände entgegenstreckte. »Teufel-zum-Teufel! Wie kann ich Dir helfen, Walter, wenn ich den Mann nicht kenne?«

»Er kennt Dich – er fürchtet Dich – er hat das Theater verlassen, um Dir zu entgehen. Pesca! es muß ein Grund dafür vorhanden sein. Schau in Dein eigen Leben, ehe Du nach England kamst, zurück. Du verließest Italien, wie Du mir selbst gesagt hast, aus politischen Gründen. Du hast dieser Gründe niemals gegen mich Erwähnung gethan, und ich frage auch jetzt nicht nach ihnen. Ich bitte Dich nur, Deine Erinnerungen zu wecken und zu sagen, ob Dir dabei nicht eine Ursache einfällt für das Entsetzen, das Dein Anblick jenem Manne verursachte.«

Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen brachten diese harmlosen Worte genau dieselbe Wirkung auf Pesca hervor, die Pesca’s Anblick auf den Grafen gehabt hatte. Das rosige Gesicht meines kleinen Freundes wurde in einem Augenblicke kreideweiß, und er zog sich, am ganzen Leibe zitternd, langsam von mir zurück.

»Walter!« sagte er. »Du weißt nicht, was Du verlangst.«

Er sprach düster – und sah mich an, als ob ich ihm plötzlich eine uns Beiden drohende verborgene Gefahr gezeigt hätte. In weniger als einer Minute war er so verschieden von dem fröhlichen, lebhaften, drolligen Mann meiner früheren Erfahrung geworden, daß ich, falls er mir in diesem Zustande auf der Straße begegnet wäre, ihn sicher nicht erkannt hätte.

»Vergieb, falls ich Dich unabsichtlich erschreckt und Dir Schmerz verursacht habe,« sagte ich. »Bedenke, welch’ bitteres Unrecht meine Frau vom Grafen Fosco erfahren hat. Bedenke, daß dies Unrecht niemals wieder gut gemacht werden kann, falls ich nicht die Mittel in meine Gewalt bekomme, ihn zu zwingen, ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich sprach in ihrem Interesse, Pesca! – ich bitte Dich nochmals, mir zu vergeben – weiter kann ich Nichts sagen.«

Ich stand auf, um zu gehen. Er hielt mich zurück, ehe ich bis zur Thür war.

»Warte,« sagte er; »Du hast mich vom Kopf bis zu den Füßen erschüttert. Du weißt nicht, wie und warum ich mein Vaterland verlassen. Laß mich Fassung gewinnen – laß mich nachdenken, wenn ich kann.«

Ich kehrte an meinen Platz zurück. Er schritt auf und ab und sprach unzusammenhängend in seiner eigenen Sprache zu sich selbst. Nachdem er einige Male auf und ab gegangen, kam er plötzlich zu mir heran und legte seine kleinen Hände mit einer seltsamen Innigkeit und Feierlichkeit auf meine Brust.

»Bei Deinem Leben und Deiner Seele, Walter,« sagte er, »giebt es keine andere Art und Weise, diesen Mann zu fassen, als den zufälligen Weg durch mich?«

»Keine andere,« entgegnete ich.

Er verließ mich wieder, öffnete die Zimmerthür, blickte vorsichtig in den Corridor hinaus; schloß die Thür wieder und kam zurück.

»Du hast Dir das Recht über mich gewonnen, Walter,« sagte er, »an dem Tage, wo Du mir das Leben rettetest. Es gehörte von jenem Augenblicke an Dir, falls es Dir gefiele, es zu nehmen. Nimm es jetzt. Ja! ich meine, was ich sage. Meine nächsten Worte werden, so wahr ein Gott über uns ist, mein Leben in Deine Hände gehen.«

Sein Zittern und der Ernst, mit dem er diese merkwürdigen Worte sagte, brachten in mir die Ueberzeugung hervor, daß er die Wahrheit sagte.

»Erinnere Dich an Dies!« fuhr er fort, indem er in der Heftigkeit seiner Aufregung seine Hand gegen mich schüttelte. »Ich halte in meinem eigenen Geiste keinen Faden zwischen jenem Manne, Fosco, und der Vergangenheit, die ich um Deinetwillen mir zurückrufen will. Falls Du den Faden findest, so behalte ihn für Dich – sage mir Nichts – auf meinen Knieen bitte und beschwöre ich Dich, laß mich in Unkenntniß, laß mich in Blindheit über die ganze Zukunft, wie ich es jetzt bin!«

Er sprach noch ein paar hastige, unzusammenhängende Worte – und schwieg wieder.

Ich sah, daß die Anstrengung, sich bei einer Gelegenheit, die zu ernster Natur war, um ihm den Gebrauch der drolligen Ausdrücke und Wendungen seines gewöhnlichen Wörterverzeichnisses zu gestatten, auf Englisch auszudrücken, noch bedeutend die Schwierigkeit vergrößerte, die er überhaupt dabei fühlte, mit mir zu sprechen. Da ich in der ersten Zeit unseres vertrauten Umganges gelernt hatte, seine Sprache zu lesen und zu verstehen (wenngleich nicht zu sprechen), schlug ich ihm jetzt vor, sich seiner Muttersprache zu bedienen, während ich etwaige Fragen auf Englisch an ihn richten würde. Er ging hierauf ein. In seiner wohlklingenden Sprache – wobei seine heftige Bewegung sich in dem fortwährenden Arbeiten seiner Züge, in der Wildheit und Hast seiner ausländischen Gebehrden, nie aber in lauteren Tönen verrieth – hörte ich jetzt die Worte, welche mich für den letzten Kampf waffneten, der mir in diesen Blättern zu berichten übrig bleibt.4

4Es ist nicht mehr als billig, hier zu erwähnen, daß ich das, was Pesca mir mittheilte, mit den sorgfältigen Weglassungen wiederhole, welche die ernste Natur des Gegenstandes und mein eigenes Pflichtgefühl gegen meinen Freund von mir verlangen. Meine ersten und letzten Verheimlichungen dem Leser gegenüber sind diejenigen, welche die Vorsicht in diesem Theile der Erzählung unbedingt nöthig macht.