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Die Frau in Weiss

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Fortsetzung der Aussage Walter Hartright’s

XII

Mein erster Impuls, nachdem ich Mrs. Catherick’s sonderbaren Brief gelesen, war der, ihn zu vernichten. Die harte, schamlose Verderbtheit des ganzen Schreibens, von Anfang bis zu Ende – der abscheuliche Eigensinn, mit dem sie darauf bestand, mich mit einem Unglücke in Verbindung zu bringen, für das ich in keiner Weise verantwortlich war, und mit einem Todesfalle, den zu verhüten ich mein Leben gewagt hatte – widerten mich in dem Grade an, daß ich im Begriffe war, den Brief zu zerreißen, als mir eine Betrachtung einfiel, die mich bewog, lieber noch ein wenig mit seiner Vernichtung zu warten.

Diese Berücksichtigung hatte durchaus gar Nichts mit Sir Percival zu thun. Die mir gemachten Mittheilungen über ihn enthielten wenig mehr als die Bestätigung meiner eigenen Vermuthungen.

Er hatte das Verbrechen begangen, wie ich es erwartet hatte, und der Umstand, daß Mrs. Catherick in keiner Weise der Abschrift des Kirchenregisters, welche in Knowlesbury bewahrt wurde, Erwähnung that, bestärkte mich in meiner vorher gefaßten Ueberzeugung, daß Sir Percival nothwendigerweise Nichts von dem Dasein derselben und somit von den Folgen, die dasselbe für ihn haben mußte, gewußt haben konnte. Mein Interesse an der Fälschung war jetzt zu Ende; und mein einziger Zweck, indem ich den Brief aufbewahrte, war, ihn für die Zukunft zu benutzen, um das einzige noch für mich übrige Geheimniß aufzuklären, nämlich wer eigentlich Anna Catherick’s Vater gewesen. Ihre Mutter hatte in ihrem Briefe ein paar Bemerkungen fallen lassen, die mir hierin dienlich sein konnten, sobald Sachen von unmittelbarer Wichtigkeit mir Muße ließen, mich damit zu beschäftigen. Ich verzweifelte nicht daran, mir Gewißheit über diesen Punkt verschaffen zu können; ich hatte Nichts von meinem Interesse verloren, zu ermitteln, wer der Vater des armen Wesens sei, das jetzt in Mrs. Fairlie’s Grabe zur Ruhe gelegt war.

Demzufolge versiegelte ich den Brief und legte ihn in mein Taschenbuch, um ihn zur Hand zu haben, sobald die Zeit gekommen sein würde, die Sache wieder aufzunehmen.

Der folgende Tag war mein letzter in Hampshire. Sobald ich abermals vor der Behörde zu Knowlesbury und bei der vertagten Untersuchung erschienen, konnte, ich frei sein, um mit dem Nachmittag- oder Abendzuge nach London zurückzukehren.

Mein erster Gang des nächsten Morgens war, wie gewöhnlich, nach der Post. Der Brief von Marianne war dort, aber mir schien, als man ihn mir in die Hand gab, daß er sich ungewöhnlich leicht anfühlte. Ich öffnete das Couvert voll Besorgniß. Es lag Nichts als ein kleiner, einmal zusammengelegter Papierstreifen darin. Die wenigen eiliggeschriebenen, halbverwischten Zeilen, die derselbe enthielt, waren folgende:

»Komm zurück, so schnell Du kannst. Ich bin genöthigt gewesen, unsere Wohnung zu verlassen. Komm nach Gowers Walk, Fulham (Numero fünf). Ich werde Dich erwarten. Beunruhige Dich nicht um uns: wir sind Beide wohl und in Sicherheit. Aber komm zurück.

Marianne.«

Die Nachricht – eine Nachricht, die ich sofort mit einem Versuche neuer Anschläge von Seiten Graf Fosco’s in Verbindung brachte – überwältigte mich förmlich. Ich stand athemlos mit dem zerknitterten Papiere in der Hand da. Was hatte sich zugetragen? Welche schlaue Schändlichkeit hatte der Graf in meiner Abwesenheit entworfen und ausgeführt? Seit Mariannens Brief geschrieben, war eine Nacht vergangen – es mußten noch viele Stunden vergehen, ehe ich zu ihnen zurückkehren konnte – es konnte sich bereits inzwischen ein Unglück ereignet haben. Und hier, so viele Meilen von ihnen entfernt, hier mußte ich bleiben – zur Verfügung, doppelt zur Verfügung des Gesetzes!

Ich weiß kaum, zu welchem Vergessen meiner Verpflichtungen meine Angst und Besorgniß mich nicht hingerissen haben würden, wäre nicht der beruhigende Einfluß meines Zutrauens zu Mariannen da gewesen. Mein absolutes Vertrauen zu ihr war die einzige Rücksicht hienieden, die mir half, mich zu fassen, und mir den Muth gab, zu warten. Die vertagte Untersuchung war das erste Hinderniß, das sich meinem freien Handeln in den Weg stellte. Ich stellte mich bei derselben zur bestimmten Stunde ein, da meine Anwesenheit im Zimmer für die gerichtlichen Formalitäten erforderlich war; doch war ich, wie sich’s herausstellte, nicht genöthigt, meine Aussage zu wiederholen. Dieser unnöthige Verzug war schwer zu ertragen, obgleich ich mir alle Mühe gab, meine Ungeduld zu bemeistern und dem gerichtlichen Verfahren mit möglichster Aufmerksamkeit zu folgen.

Der Rechtsanwalt des Verstorbenen, Mr. Merriman, war aus London herübergekommen und befand sich unter den Anwesenden, war aber durchaus nicht im Stande, die Zwecke der Untersuchung zu fördern. Er konnte blos sagen, daß er unaussprechlich überrascht und erschüttert, jedoch nicht im Stande sei, irgendwie Licht auf das geheimnißvolle Ereigniß zu werfen. Er schlug von Zeit zu Zeit Fragen vor, welche dann von dem Leichenbeschauer an die Zeugen gerichtet wurden, die jedoch ohne alle Erfolge blieben. Nach einer geduldigen Untersuchung, welche beinahe drei Stunden währte und die jede denkbare Quelle der Auskunft erschöpfte, sprachen die Geschworenen das bei plötzlichen Todesfällen übliche Erkenntniß aus. Sie fügten dem förmlichen Urtheile noch eine Bemerkung hinzu, daß keine Belege für die Art und Weise, in der die Schlüssel genommen worden, vorhanden, und daß der Zweck, zu welchem der Verstorbene in die Sacristei gegangen, unerklärt geblieben. Dies schloß die Untersuchung. Es wurde dem gerichtlichen Repräsentanten des Todten überlassen, für dessen Beerdigung zu sorgen, und die Zeugen durften abtreten.

Entschlossen, keine Minute länger zu verlieren, ehe ich nach Knowlesbury ginge, bezahlte ich meine Rechnung im Gasthofe und bestellte mir einen Fiacre, um desto schneller dort anzulangen. Ein Herr, welcher hörte, wie ich den Befehl ertheilte, und sah, daß ich allein fahren würde, unterrichtete mich, daß er in der Nähe von Knowlesbury wohne und frug, ob ich etwas dawider haben würde, den Wagen und die Ausgabe für denselben mit ihm zu theilen. Ich nahm seinen Vorschlag wie eine Sache an, die sich von selbst versteht.

Unsere Unterhaltung während der Fahrt drehte sich natürlich um den einen Gegenstand des Ortsinteresses.

Mein neuer Bekannter war einigermaßen mit dem Advocaten des verstorbenen Sir Percival bekannt und hatte mit demselben eine Unterhaltung über dessen Vermögensangelegenheiten und den nächsten Erben gehabt. Sir Percival’s Verlegenheiten waren in der ganzen Umgegend so wohl bekannt, daß sein Advocat aus der Nothwendigkeit eine Tugend machte und die Sache unumwunden eingestand. Er war gestorben, ohne ein Testament zu hinterlassen, und selbst, falls er ein solches gemacht, so besaß er kein persönliches Eigenthum, über welches er testamentarisch hätte verfügen können, indem seine Gläubiger bereits das ganze Vermögen verschlungen, das ihm seine Frau zugebracht hatte. Der Erbe des Besitzthums (da Sir Percival keine Leibeserben hinterließ) war der Sohn eines Vetters von Sir Felix Glyde, ein Officier in der königlichen Marine. Er sollte sein Erbtheil tief verschuldet finden; doch konnte es sich mit der Zeit davon erholen, und falls »der Capitain« sparsam war, so konnte er vor seinem Tode doch noch ein reicher Mann werden.

So sehr ich auch mit dem Gedanken, möglichst schnell nach London zurückzukehren, beschäftigt war, hatten doch diese Mittheilungen (welche sich später als vollkommen richtig herausstellten) einiges Interesse für mich. Mir schien danach, daß ich gerechtfertigt sei, meine Entdeckung von Sir Percival’s Fälschung geheim zu halten. Der Erbe, dessen Rechte er sich angemaßt, war derjenige, dem das Besitzthum jetzt zufiel. Das Einkommen desselben während der letzten dreiundzwanzig Jahre, welches von Rechtswegen ihm hätte zufallen sollen, war von Sir Percival bis auf den letzten Heller vergeudet und unwiederbringlich verloren. Falls ich die Wahrheit bekannt machte, so konnte dieselbe doch keinem Menschen den geringsten Nutzen bringen. Bewahrte ich dagegen das Geheimniß, so schützte mein Schweigen den Ruf des Mannes, welcher Laura durch seine Betrügereien vermocht hatte, ihn zu heirathen. Nur um ihretwillen wünschte ich es geheim zu halten – und um ihretwillen erzähle ich diese ganze Geschichte unter verstelltem Namen.

In Knowlesbury schied ich von meinem zufälligen Reisegefährten und ging dann sofort nach dem Gerichtshause. Wie ich erwartet hatte: es stellte sich Niemand, um die Sache weiter gegen mich fortzusetzen – die nothwendigen Formalitäten wurden durchgemacht, und ich war entlassen. Als ich den Gerichtshof verließ, übergab man mir einen Brief von Mr. Dawson. Derselbe benachrichtigte mich, daß er augenblicklich in Berufspflichten abwesend sei, und wiederholte dann sein Anerbieten allen Beistandes, den er mir zu leisten im Stande sein möge. Ich schrieb ihm wieder, indem ich ihm aufs Wärmste meine Anerkennung seiner vielfältigen Güte gegen mich ausdrückte und mich entschuldigte, dies nicht persönlich gethan zu haben, woran ich durch den Umstand verhindert worden, daß ich in dringenden Geschäften nach London zurückgerufen sei.

Eine halbe Stunde später eilte ich mit dem Schnellzuge nach London zurück.

XIII

Es war zwischen neun und zehn Uhr, ehe ich in Fulham anlangte und den Weg nach Gower’s Walk fand.

Marianne und Laura kamen Beide an die Thür, um mich einzulassen. Ich glaube, wir hatten Alle nicht gewußt, welch’ enges Band uns aneinander knüpfte, bis zu dem Abende, der uns wieder vereinte. Wir begrüßten einander, als ob wir statt weniger Tage Monate lang getrennt gewesen. Mariannens armes Gesicht sah sehr besorgt und elend aus. Ich sah auf den ersten Blick, wer in meiner Abwesenheit alle Gefahr gewußt und alle Besorgnisse gefühlt hatte. Laura’s frohere Blicke und blühenderes Aussehen sagten mir, wie sorgfältig ihr alle Kenntniß des furchtbaren Todes und der wahre Grund ihrer Wohnungsveränderung vorenthalten worden.

 

Die Aufregung des Wegzuges schien sie aufgeheitert und interessirt zu haben. Sie sprach von demselben nur wie von einem glücklichen Gedanken Mariannens; um mich bei meiner Heimkehr durch die Veränderung von der engen, geräuschvollen Straße nach der angenehmen Umgebung von Bäumen, Feldern und dem Fluße zu überraschen. Sie war voller Pläne für die Zukunft – voll von den Zeichnungen, die sie vollendet; von den Käufern, die ich in der Provinz für dieselben gefunden, und von den Schillingen und Sixpencen, die sie gespart hatte und die ihre Börse so schwer machten, daß sie mir dieselbe ganz stolz zum Wägen hingab. Die günstige Veränderung, die während der wenigen Tage meiner Abwesenheit mit ihr vorgegangen, war eine Ueberraschung für mich, auf die ich ganz unvorbereitet war – und das unaussprechliche Glück, dieselbe zu sehen, hatte ich Mariannens Muthe und Mariannen’s Liebe zu danken.

Als Laura uns verlassen und Marianne und ich ohne Rückhalt sprechen konnten, versuchte ich, der Dankbarkeit und Bewunderung, die mein Herz füllten, Ausdruck zu geben. Aber das großherzige Weib wollte mich nicht ausreden lassen. Jenes erhabene Selbstvergessen der Frauen, das so viel giebt und so wenig fordert, wandte alle ihre Gedanken von sich selbst ab mir zu.

»Es blieb mir nur ein Augenblick vor Abgang der Post,« sagte sie, »sonst hätte ich weniger hastig geschrieben. Du siehst angegriffen und elend aus, Walter – ich fürchte, mein Brief hat Dich ernstlich beunruhigt?«

»Nur im ersten Augenblicke,« erwiderte ich. »Mein Gemüth beruhigte sich durch mein Vertrauen auf Dich, Marianne. Muthmaßte ich recht, indem ich diese plötzliche Wohnungsveränderung einer drohenden Belästigung von Seiten Graf Fosco’s zuschrieb?«

»Vollkommen,« entgegnete sie; »ich habe ihn gestern gesehen und, was noch schlimmer ist, ich habe mit ihm gesprochen.«

»Hast mit ihm gesprochen? Wußte er, wo wir wohnten? Kam er ins-Haus?«

»Ja. Er kam ins Haus, aber nicht hinauf. Laura hat ihn nicht gesehen; sie argwöhnt Nichts. Ich will Dir erzählen, wie es kam; ich glaube und hoffe, daß die Gefahr jetzt vorüber ist. Gestern, als Laura in der Wohnstube unserer alten Wohnung am Tische saß und zeichnete und ich ordnend umherging, kam ich zufällig ans Fenster und sah im Vorbeigehen auf die Straße hinab. Da, auf der gegenüberliegenden Seite der Straße sah ich den Grafen und einen Mann, mit dem er sprach –«

»Bemerkte er Dich am Fenster?«

»Nein – wenigstens glaubte ich es nicht. Ich war zu heftig erschrocken, um es genau zu sehen.«

»Wer war der andere Mann? Ein Fremder?«

»Nein, Walter, kein Fremder. Sowie ich nur wieder athmen konnte, erkannte ich ihn. Er war der Besitzer der Irrenanstalt.«

»Zeigte der Graf ihm das Haus?«

»Nein; sie unterhielten sich, wie wenn sie einander soeben zufällig auf der Straße begegnet wären. Ich blieb am Fenster und schaute hinter der Gardine herum zu ihnen hinunter. Hätte ich mich umgewandt und Laura in diesem Augenblicke mein Gesicht sehen lassen – aber ich danke Gott, daß sie in ihre Zeichnung vertieft war! Sie gingen bald auseinander. Der Mann aus der Irrenanstalt ging nach der einen Seite hin fort und der Graf nach der anderen. Ich fing an zu hoffen, daß sie durch Zufall in die Straße gekommen, als ich den Grafen zurückkommen, uns gegenüber abermals stille stehen, sein Taschenbuch herausnehmen, Etwas auf eine Karte schreiben und dann hinüberkommen und in den Laden unter uns gehen sah. Ich lief an Laura vorbei, ehe sie mich sehen konnte und sagte, ich habe Etwas oben vergessen. Sobald ich aus dem Zimmer war, lief ich auf den Corridor hinunter und wartete – ich war entschlossen, ihn zurückzuhalten, falls er versuchen würde, hinauszukommen. Doch machte er den Versuch nicht. Das Mädchen aus dem Laden kam durch die Verbindungsthür in den Gang hinaus und brachte mir seine Karte – eine große vergoldete Karte mit seinem Namen und einer Krone darüber, und darunter diese Zeilen: ›Theure Dame‹ (ja! der Schurke unterstand sich noch jetzt, mich so anzureden) – ›theure Dame, ich bitte Sie dringend, mir zu gestatten, ein Wort mit Ihnen zu sprechen, das uns Beide sehr ernstlich betrifft.‹ Wenn man in großen Schwierigkeiten überhaupt zu denken im Stande ist, so denkt man schnell. Ich fühlte sogleich, daß es ein unheilvolles Versehen sein könnte, falls ich im Dunkeln bliebe und Dich im Dunkeln ließe, wo ein Mann wie der Graf im Spiele war. Ich fühlte, daß die Ungewißheit über das, was er in Deiner Abwesenheit thun konnte, weit schlimmer zu ertragen wäre – falls ich mich weigerte, ihn zu sehen, als das Zusammentreffen, falls ich in dasselbe willigte. ›Ersuchen Sie den Herrn, im Laden zu warten,‹ sagte ich, ›ich werde sogleich zu ihm kommen.‹ Ich lief hinaus, um meinen Hut zu holen, da ich entschlossen war, ihn nicht im Hause zu mir sprechen zu lassen. Ich kannte seine tiefe, durchdringende Stimme zu gut, und fürchtete, daß Laura dieselbe selbst vom Laden her hören würde. In weniger als einer Minute war ich wieder unten und hatte die Hausthür geöffnet. Er kam aus dem Laden mir entgegen. Da stand er – in tiefer Trauer, mit seiner glatten Stirn und seinem tödtlichen Lächeln; und um ihn her hatten sich ein paar müßige Knaben und Weiber versammelt, die seinen großen Umfang, seine schönen schwarzen Trauerkleider und seinen Spazierstock mit dem Goldknopfe anstierten. Die ganze entsetzliche Zeit in Blackwater kam mir ins Gedächtniß zurück, als ich ihn erblickte. Der ganze alte Widerwille überschlich mich, als er mit einer schwenkenden Bewegung seinen Hut abnahm und mich anredete, wie wenn wir erst gestern auf dem freundschaftlichsten Fuße auseinandergegangen wären.«

»Du erinnerst Dich, was er sagte?«

»Ich kann’s nicht wiederholen, Walter. Du sollst sogleich hören, was er über Dich sagte, aber wie er zu mir sprach, kann ich nicht wiederholen. Es war noch schlimmer, als die höfliche Impertinenz seines Briefes. Mir juckten die Hände, ihn zu schlagen, wie wenn ich ein Mann gewesen wäre! Ich konnte sie nur davon abhalten, indem ich unter meinem Tuche seine Karte in Stücke zerriß. Ohne meinerseits ein Wort zu sagen, ging ich vom Hause fort (aus Furcht, daß Laura uns erblicken könne); und er folgte mir, indem er mir fortwährend sanfte Vorstellungen machte. In der ersten Nebenstraße stand ich still und frug ihn, was er von mir verlange. Er verlangte zweierlei. Erstens, falls ich Nichts dagegen hätte, seine Gefühle auszusprechen. Ich schlug es aus, sie anzuhören. Zweitens, die Warnung in seinem Briefe zu wiederholen. Ich frug, weshalb es nöthig sei, sie zu wiederholen. Er verbeugte sich und  lächelte und sagte, er wolle es mir erklären. Diese Erklärung bestätigte vollkommen die Befürchtungen, die ich aussprach, ehe Du uns verließest. Ich sagte Dir, wie Du Dich entsinnen wirst, daß Sir Percival zu eigensinnig sein werde, um den Rath seines Freundes anzunehmen, wo Du im Spiele seiest; und daß vom Grafen keine Gefahr zu fürchten, bis seine eigenen Interessen bedroht und er selbst zum Handeln aufgereizt würde?«

»Ich entsinne mich, Marianne.«

»Nun, so ist es auch richtig gekommen. Der Graf bot ihm seinen Rath an; aber derselbe wurde zurückgewiesen. Sir Percival wollte nur seiner eigenen Heftigkeit, seiner Halsstarrigkeit und seinem Hasse gegen Dich folgen. Der Graf ließ ihm seinen Willen, nachdem er zuvor (für den Fall, daß zunächst seine Interessen bedroht würden) heimlich ausgekundschaftet hatte, wo wir wohnten. Man folgte Dir, Walter, an dem Abende, wo Du von Deiner ersten Reise nach Hampshire zurückkehrtest – eine Strecke von der Station ab waren es die Spione des Advocaten, von da an bis zu unserem Hause aber der Graf selbst. Wie es ihm gelungen, nicht von Dir gesehen zu werden, hat er mir nicht gesagt; aber es war bei jener Gelegenheit und auf diese Weise, daß er uns fand. Nachdem er diese Entdeckung gemacht, ließ er sie unbenutzt, bis er die Nachricht von Sir Percival’s Tode erhielt – und dann begann er, wie ich Dir vorhergesagt hatte, für sich zu handeln, weil er glaubte, daß Du nun zunächst den Mann angreifen würdest, der an dem Complotte des Todten Theil genommen. Er traf sofort seine Vorbereitungen, um mit dem Besitzer der Irrenanstalt in London zusammenzutreffen und ihn an den Ort zu führen, wo sich seine weggelaufene Patientin befinde; in dem Glauben, daß die Folge hiervon, wie sie auch immer enden möge, die sein würde, Dich in endlose gerichtliche Streitigkeiten und Schwierigkeiten zu verwickeln, und es Dir so unmöglich zu machen, Deine Angriffe gegen ihn zu richten. Dies war sein Zweck, wie er mir selbst bekannte. Das Einzige, was ihn im letzten Augenblicke zögern ließ –«

»Nun?«

»Es ist hart, es eingestehen zu müssen, Walter – und doch muß es sein! Ich war der Gegenstand seiner Rücksicht. Ich habe keine Worte, Dir zu sagen, wie tief dieser Gedanke mich demüthigt – aber die eine Schwäche in jenes Mannes eisernem Charakter ist die wirkliche Bewunderung, welche er für mich fühlt. Ich habe, um meiner Selbstachtung willen, mich so lange wie möglich bemüht, Dies nicht zu glauben; aber seine Blicke und Handlungen zwingen mich zu der beschämenden Ueberzeugung, daß es Wahrheit ist. Die Augen jenes Ungeheuers von Schlechtigkeit wurden feucht, während er zu mir sprach – ja, Walter! Er erklärte, daß in dem Augenblicke, wo er dem Irrenarzte das Haus zeigte, er meines Jammers gedachte, wenn ich von Laura getrennt würde, und der Verlegenheit, falls man mich dafür zur Rechenschaft zöge, daß ich ihre Flucht bewerkstelligt hatte – und daß er um meinetwillen das Schlimmste riskirte, das Du ihm thun könntest. Das Einzige, worum er bat, war, daß ich mich des Opfers erinnern und Deiner Unbesonnenheit Einhalt thun möge – aus Rücksicht für mich selbst, eine Rücksicht, die er vielleicht nicht zum zweiten Male zu nehmen im Stande würde. Ich traf keine solche Uebereinkunft mit ihm, ich wäre lieber gestorben. Aber glaube ihm oder nicht – ob es nämlich wahr oder unwahr sei, daß er den Doctor unter einem Vorwande fortgeschickt – jedenfalls ist es gewiß, daß ich den Mann ihn verlassen sah, ohne ein einziges Mal nach unseren Fenstern oder auch nur nach unserer Straßenseite hinüberzublicken.«

»Ich glaube es wohl, Marianne. Die besten Menschen sind im Guten nicht consequent, – wie sollten es da die Schlimmsten im Bösen sein? Zu gleicher Zeit aber habe ich ihn im Verdacht, Dich blos mit Etwas erschreckt zu haben, was er in Wirklichkeit gar nicht ausführen kann. Ich bezweifle, daß er im Stande ist, uns jetzt, da Sir Percival todt und Mrs. Catherick frei von allem Zwange ist, durch den Besitzer der Irrenanstalt Schwierigkeiten oder Unannehmlichkeiten zu bereiten. Doch laß mich weiter hören. Was sagte der Graf von mir?«

»Er sprach von Dir zuletzt. Seine Augen wurden klarer und härter, und sein Wesen, wie es mir früher oft erschienen war – es veränderte sich in jene Mischung erbarmungsloser Entschlossenheit und theatralischen Hohnes, durch den er so unergründlich wird. ›Warnen Sie Mr. Hartright,‹ sagte er mit seiner hochtrabendsten Miene. ›Er hat es mit einem Manne von Klugheit zu thun, einem Manne, der den Gesetzen und Gebräuchen der Gesellschaft mit seinen großen dicken Fingern ein Schnippchen schlägt, falls er sich mit mir messen will. Hätte mein armer verstorbener Freund meinen Rath angehört, so wäre die Leichenschau mit Mr. Hartright’s Körper vorgenommen – Aber mein armer verstorbener Freund war halsstarrig. Sehen Sie! Ich betraure seinen Verlust – im Innern meiner Seele und auswendig auf meinem Hute. Dieser unbedeutende Flor drückt Gefühle aus, die ich Mr. Hartright zu achten auffordere. Dieselben können sich in unermeßliche Feindseligkeit verändern, falls er sie zu stören wagt. Sei er zufrieden mit Dem, was er erlangt hat – mit Dem, was ich ihm und Ihnen um Ihretwillen ungestört lassen will. Sagen Sie ihm (mit meiner Empfehlung), daß, falls er mich anrührt, er es mit Fosco zu thun haben wird. Nach volksthümlicher Redeweise benachrichtige ich ihn, daß Fosco vor gar Nichts zurückscheut! Theure Dame, guten Morgen.‹ Seine kalten, grauen Augen hefteten sich auf mein Gesicht – er nahm feierlich seinen Hut ab – verbeugte sich entblößten Hauptes – und ging.«

»Ohne umzukehren? Ohne sonst noch Etwas hinzuzufügen?«

»An der Ecke der Straße wandte er sich um, machte eine Bewegung mit der Hand und legte sie dann theatralisch auf seine Brust. Darnach verlor ich ihn aus dem Gesichte. Er verschwand in der entgegengesetzten Richtung unseres Hauses, und ich eilte zu Laura zurück. Ehe ich noch wieder im Hause anlangte, war ich schon zu dem Entschlusse gekommen, daß wir fort müßten. Das Haus war (namentlich in Deiner Abwesenheit) jetzt, da der Graf es entdeckt hatte, anstatt ein Zufluchtsort zu sein, ein Ort der Gefahr für uns. Wäre ich Deiner Rückkehr gewiß gewesen, so würde ich es bis zu derselben verschoben haben. Aber ich wußte Nichts mit Gewißheit und handelte daher sofort nach meinem Impulse. Du hattest, ehe Du uns verließest, davon gesprochen, daß Du um Laura’s Gesundheit willen eine ruhigere Nachbarschaft und reinere Luft suchen möchtest. Ich brauchte sie blos hieran zu erinnern und vorzuschlagen, daß wir Dich überraschten und Dir Mühe ersparten, indem wir den Umzug während Deiner Abwesenheit hielten, um sie mit dem größten Eifer darauf eingehen zu sehen. Sie half mir, Deine Sachen einpacken – und sie hat sie alle hier in Deiner neuen Arbeitsstube wieder hergeordnet.«

 

»Wie kamst Du auf den Gedanken, hierher zu ziehen?«

»Durch meine Unkenntniß anderer Theile von London. Ich fühlte die Nothwendigkeit, möglichst weit von unserer alten Wohnung fortzugehen; und ich kannte Fulham etwas, weil ich hier früher einmal in Pension war. Ich schickte in der Hoffnung, daß diese Pension noch existirte, einen Boten an die Besitzerin derselben ab. Die Schule existirte, jedoch unter der Leitung der Töchter meiner alten Lehrerin, welche indessen, nach dem in meinem Briefe ausgesprochenen Wunsche, dieses Logis für mich mietheten. Es war gerade vor Abgang der Post, als der Bote mit der Adresse des Hauses zurückkam. Wir zogen nach dem Dunkelwerden fort – und langten ganz unbemerkt hier an. Habe ich recht gethan, Walter? Habe ich Dein Vertrauen auf mich gerechtfertigt?«

Ich antwortete ihr mit der Wärme und Dankbarkeit, die ich in Wirklichkeit fühlte. Aber der sorgenvolle Ausdruck verließ ihr Gesicht noch immer nicht, während ich sprach, und ihre erste Frage, nachdem ich geendet, bezog sich auf Graf Fosco.

Ich sah, daß sie jetzt in veränderter Weise an ihn dachte. Es entschlüpfte ihr kein neuer Ausbruch des Zornes gegen ihn, keine neuen Bitten an mich, den Tag der Vergeltung an ihm zu beschleunigen. Ihre Ueberzeugung, daß jenes Mannes hassenswerthe Bewunderung für sie wirklich aufrichtig war, schien um das Hundertfache ihren Argwohn seiner unergründlichen Hinterlist und ihre tiefgewurzelte Furcht vor der boshaften Energie und Wachsamkeit all seiner Fähigkeiten vermehrt zu haben. Ihre Stimme wurde leiser, ihr Wesen zögernd, und ihre Augen lasen mit einer eifrigen Angst in den meinigen, als sie mich frug, was ich über seinen Auftrag an mich denke, und was ich demnächst zu thun beabsichtige.

»Es sind seit meiner Unterredung mit Mr. Kyrle erst wenige Wochen vergangen, Marianne,« sagte ich. »Als er und ich von einander schieden, waren meine letzten Worte über Laura zu ihm folgende: ›Ihres Onkels Haus soll sich in Gegenwart Aller, die dem falschen Begräbnisse folgten, öffnen, um sie aufzunehmen; die Lüge, welche ihren Tod angiebt, soll öffentlich und auf Befehl des Hauptes der Familie von dem Grabsteine wieder vertilgt werden; und die beiden Männer, welche ihr so bitteres Unrecht angethan, sollen mir für ihr Verbrechen Rede stehen, wenngleich die Gerechtigkeit, die zu Gerichte sitzt, machtlos ist, sie zu verfolgen.‹ Der eine dieser Männer ist außer meinem Bereiche. Der Andere lebt, und mein Entschluß lebt.«

Ihre Augen leuchteten, und die Farbe stieg in ihre Wangen. Sie sagte Nichts. Doch sah ich in ihrem Gesichte, wie ihre ganze Sympathie sich an die meinige schloß.

»Ich verhehle weder Dir noch mir,« fuhr ich fort; »daß unsere Aussichten im höchsten Grade zweifelhaft sind. Die Gefahren, denen wir bisher bereits ausgesetzt gewesen, waren vielleicht Kleinigkeiten im Vergleich mit denen, die uns noch in Zukunft drohen – aber dennoch soll der Versuch gewagt werden, Marianne. Ich bin nicht so unbesonnen, mich mit einem Manne wie Graf Fosco messen zu wollen, ehe ich nicht wohl auf ihn vorbereitet bin. Ich habe Geduld gelernt; ich kann warten. Wir wollen ihn glauben lassen, daß seine Botschaft an mich ihre Wirkung gehabt; wollen ihn Nichts von uns hören oder erfahren lassen; wir wollen ihm volle Zeit geben, sich sicher zu fühlen – und sein eigener prahlerischer Charakter wird, wenn ich mich nicht sehr in ihm getäuscht habe, den Erfolg beschleunigen. Dies ist ein Grund, um zu warten; aber ich habe noch einen wichtigeren. Meine Stellung, Marianne, Dir und Laura gegenüber, muß noch fester sein als sie jetzt ist, ehe ich unsere letzte Chance versuche.«

Sie beugte sich mit einem Blicke der Ueberraschung zu mir herüber.

»Wie kann sie fester werden?« frug sie.

»Das will ich Dir sagen, wenn die Zeit kommt,« entgegnete ich. »Bis jetzt ist sie noch nicht gekommen, und vielleicht kommt sie niemals. Ich mag vielleicht zu Laura auf immer darüber schweigen, und selbst zu Dir muß ich jetzt noch schweigen, bis ich sehe, daß ich rechtschaffener- und redlicherweise sprechen kann. Doch wollen wir den Gegenstand fallen lassen. Ein Anderer hat noch dringenderes Recht an unsere Beachtung. Du hast Laura – hast sie mitleidsvoll über ihres Mannes Tod in Unwissenheit gelassen –?«

»O Walter, muß sie es nicht noch lange bleiben?«

»Nein, Marianne. Es wird besser sein, daß Du es ihr jetzt sagst, als daß der Zufall, gegen den es uns unmöglich ist, uns zu verwahren, es ihr später verriethe. Verschone sie mit den Einzelheiten – bereite sie sehr sorgfältig darauf vor – aber sage ihr, daß er todt ist.«

»Du hast noch außer dem Grunde, den Du angiebst, einen, der Dich wünschen läßt, sie von dem Tode ihres Mannes zu unterrichten, Walter?«

»Ja.«

»Einen Grund, der mit dem Gegenstande in Verbindung steht, dessen wir noch nicht weiter erwähnen wollen? – dessen vielleicht zu Laura niemals erwähnt werden soll?«

Sie sagte diese letzten Worte mit bedeutungsvollem Ausdrucke, und mit einem ebensolchen gab ich ihr die bejahende Antwort.

Sie erbleichte – und schaute mich eine Weile mit einer traurigen, zögernden Theilnahme an. Eine ungewohnte Zärtlichkeit zitterte in ihren dunklen Augen und verlieh ihren festen Lippen einen weicheren Ausdruck, als sie zur Seite auf den leeren Sessel blickte, in welchem die geliebte Gefährtin all unserer Freuden und Schmerzen gesessen hatte.

»Ich glaube, ich verstehe Dich,« sagte sie. »Ich glaube, ich bin es Dir und ihr schuldig, ihr den Tod ihres Mannes mitzutheilen, Walter?«

Sie seufzte und hielt einen Augenblick meine Hand fest in der ihrigen – dann ließ sie dieselbe plötzlich sinken und verließ das Zimmer. Am folgenden Tage wußte Laura, daß sein Tod sie freigegeben, und daß der Irrthum und das Unglück ihres Lebens mit ihm begraben seien.

Sein Name wurde unter uns nicht mehr erwähnt. Wir vermieden fortan die geringste Annäherung an den Umstand seines Todes; und ebenso gewissenhaft enthielten Marianne und ich uns jeder Erwähnung jenes anderen Gegenstandes, dessen wir für’s Erste nicht wieder zu gedenken übereingekommen waren. Derselbe war deshalb uns nicht weniger gegenwärtig – er wurde im Gegentheil durch die Zurückhaltung, die wir uns auferlegt, noch lebendiger erhalten. Wir beobachteten Beide Laura aufmerksamer denn je; einmal wartend und hoffend, dann wieder wartend und fürchtend – bis die Zeit käme.

Allmälich kehrten wir wieder zu unserer gewohnten Lebensweise zurück. Ich nahm die tägliche Arbeit wieder auf, welche ich durch meine Abwesenheit in Hampshire unterbrochen hatte. Unsere neue Wohnung kostete mehr als die kleinere und weniger bequeme, welche wir verlassen hatten; und die Nothwendigkeit verdoppelter Anstrengungen wurde noch durch das Zweifelhafte unserer ferneren Aussichten vermehrt. Es konnten sich dringende Fälle ereignen, die unser kleines Vermögen beim Banquier erschöpfen würde, und die Arbeit meiner Hände mochte am Ende das Einzige sein, worauf wir für unseren Unterhalt rechnen durften. Es war für unsere Stellung nothwendig, daß ich mich nach einer festeren und einträglicheren Beschäftigung umsah, als mir bisher zu Theil geworden – eine Nothwendigkeit, welcher nachzukommen ich mich jetzt nach Kräften bemühte.