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Die Frau in Weiss

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»Sachte, Percival, sachte! Vergißt Du die Tugend von Lady Glyde?«

»Kein Schuß Pulver für die Tugend von Lady Glyde! Ich glaube an Nichts in ihr, als an ihr Geld. Siehst Du denn nicht, wie die Sachen stehen? Allein mag sie noch harmlos genug sein, aber sobald sie und der Vagabonde, der Hartright –«

»Ja, ja, ich sehe schon. Wo ist Mr. Hartright?«

»Außer Landes. Und wenn er eine heile Haut auf seinen Knochen behalten will, so rathe ich ihm, sobald nicht wieder zurückzukommen.«

»Weißt Du es gewiß, daß er außer Landes ist?«

»Ganz gewiß. Ich ließ ihn von dem Augenblicke an, wo er Cumberland verließ, bis zu dem, wo er sich einschiffte, beobachten. O, ich bin vorsichtig gewesen, kann ich Dir sagen! Anna Catherick war zum Besuche bei Leuten, die auf einem Gehöfte nahe bei Limmeridge wohnten. Ich ging selbst zu ihnen, nachdem sie schon wieder entflohen war, und überzeugte mich, daß sie nichts wußten. Ich gab ihrer Mutter einen Brief abzuschreiben und ihn Miß  Halcombe zu schicken, in welchem sie mich von jedem schlechten Beweggrunde frei sprach, als ich die Tochter unter Aufsicht gestellt hatte. Ich habe schon so viel Geld ausgegeben, um sie aufzufinden, daß ich nicht daran denken mag. Und trotz Allem erscheint sie plötzlich hier und entgeht mir wieder auf meinem eignen Grund und Boden! Wie kann ich wissen, wen sie noch sonst sehen oder mit wem sie noch sonst sprechen mag? Der Hartright, der spionirende Schuft, kann zurückkommen, ohne daß ich es erfahre, und schon morgen Gebrauch von ihr machen –«

»Nein, Percival, das wird er nicht! So lange ich hier bin, und jenes Frauenzimmer in unserer Nachbarschaft, verpflichte ich mich, sie vor Mr. Hartright aufzufinden, selbst wenn er zurückkommen sollte. Ich sehe! ja, ja, ich sehe! Die erste Nothwendigkeit ist die, Anna Catherick aufzufinden, um das Uebrige kannst Du Dich beruhigen. Deine Frau ist hier in Deinen Händen. Miß Halcombe ist unzertrennlich von ihr und darum ebenfalls in Deinen Händen; und Mr. Hartright ist außer Landes. Diese unsichtbare Anna ist Alles, woran wir für’s Erste zu denken haben. Du hast Deine Erkundigungen eingezogen?«

»Ja, ich bin bei ihrer Mutter gewesen; ich habe das ganze Dorf durchstöbert, und Alles ohne Erfolg.«

»Kann man sich auf ihre Mutter verlassen?«

»Ja.«

»Sie hat einmal Dein Geheimniß verrathen?«

»Sie wird es nicht zum zweitenmale versuchen.«

»Warum nicht? Ist ihr eigenes Interesse damit verbunden, sowohl wie das Deinige?«

»Ja, eng damit verknüpft.«

»Es freut mich um Deinetwillen, Percival, das zu hören. Laß den Muth nicht sinken, mein Freund. Unsere Geldangelegenheiten lassen mir reichlich Zeit, in der ich mich umschauen kann, wie ich Dir schon sagte; und vielleicht bin ich morgen glücklicher in meinen Nachforschungen nach Anna Catherick, als Du heute gewesen bist. Noch eine letzte Frage, ehe wir schlafen gehen.«

»Was ist es?«

»Dies: Als ich nach dem Boothause ging, um Lady Glyde zu benachrichtigen, daß die kleine Schwierigkeit wegen der Unterschrift aufgeschoben sei, führte der Zufall mich zu rechter Zeit hin, um ein fremdes Frauenzimmer auf sehr verdächtige Weise von Deiner Frau scheiden zu sehen. Aber der Zufall ließ mich nicht nahe genug heran kommen, um das Gesicht der Fremden deutlich zu unterscheiden. Ich muß wissen, woran ich unsere unsichtbare Anna zu erkennen habe. Wie sieht sie aus?«

»Wie sie aussieht? Nun! das will ich Dir mit zwei Worten beschreiben. Sie ist ein krankes Ebenbild meiner Frau.«

Der Stuhl knarrte und der Pfeiler bebte abermals. Der Graf war wieder aufgesprungen – diesmal vor Erstaunen.

»Was!!!« rief er aus.

»Denke Dir meine Frau nach einer schweren Krankheit mit einem Anfluge von Geistesverwirrung, und Du hast Anna Catherick,« antwortete Sir Percival.

»Sind sie mit einander verwandt?«

»Nicht im Geringsten.«

»Und doch einander so ähnlich?«

»Ja. Worüber lachst Du?« rief Sir Percival aus.

»Vielleicht über meine eigenen Gedanken, mein bester Freund. Sieh mir meinen italienischen Humor nach, gehöre ich nicht der berühmten Nation an, welche die Vorstellungen des Polichinel erfand? Schön, schön, schön, ich werde Anna Catherick erkennen, wenn ich sie sehe, und somit genug für heute Abend. Beruhige Dich, Percival. Schlafe, mein Sohn,·schlafe den Schlaf des Gerechten und sieh, was ich für Dich thun werde, wenn das Tageslicht kommt, um uns Beiden zu helfen. Ich habe meine Pläne und Projekte hier in meinem großen Kopfe. Du sollst diese Wechsel bezahlen und Anna Catherick finden, mein heiliges Ehrenwort darauf, daß Du es sollst! Bin ich nun ein Freund, den man im besten Winkel des Herzens tragen sollte, oder nicht? Verdiene ich jene Geldvorschüsse, an die Du mich auf so zartfühlende Weise vorhin erinnertest? Was Du auch thun mögest, verletze nie wieder meine Gefühle. Erkenne sie an, Percival, und ahme sie nach, wenn Du kannst! Ich vergebe Dir nochmals! Gieb mir noch einmal die Hand. Gute Nacht!«

Kein Wort wurde weiter gesprochen. Ich hörte den Grafen die Thür der Bibliothek schließen und Sir Percival die Eisenstangen vor die Fensterläden legen. Es hatte die ganze Zeit hindurch geregnet. Meine Glieder waren durch die so lange unverändert gebliebene, gezwungene Lage krampfhaft zusammen gezogen und durch die Nässe und Kälte wie erstarrt. Als ich zuerst mich zu rühren versuchte, war die Anstrengung so schmerzhaft, das ich genöthigt war, es aufzugeben. Ich versuchte es zum zweitenmale, und es gelang mir, mich auf dem nassen Dache auf meine Knie zu erheben.

Als ich an die Wand kroch und mich an derselben aufrichtete, schaute ich zurück, und sah, wie sich das Fenster in des Grafen Ankleidezimmer erhellte. Mein sinkender Muth flackerte wieder in mir auf und fesselte meine Blicke an sein Fenster, während ich mich Schritt für Schritt an der Mauer wieder zurückschlich. Die Uhr im Thurme schlug das Viertel nach ein Uhr, als ich meine Hände auf die Fensterschwelle meines Zimmers legte. Ich hatte Nichts gesehen oder gehört, das mich vermuthen ließ, daß irgend Jemand meinen Rückzug entdeckt hätte.

– – – – – – – – – – –
Den 6. Juli.

Acht Uhr. Die Sonne steht hell an dem klaren Himmel. Ich bin keinen Augenblick im Bette gewesen, habe nicht ein einziges Mal meine müden matten Augen geschlossen. Durch dasselbe Fenster, durch das ich gestern Abend auf die Finsterniß hinausschaute, blicke ich jetzt in die helle Stille des Morgens.

Ich zähle die Stunden, welche verflossen sind, seitdem ich den Schutz dieses Zimmers verließ, nach meinen Empfindungen – und diese Stunden erscheinen mir wie Wochen.

Wie kurze Zeit und doch wie lang für mich – seit ich in der Finsterniß hier zu Boden sank, bis auf die Haut durchnäßt, starr an allen Gliedern, kalt bis ins Mark, ein nutz- und hülfloses, angstergriffenes Geschöpf.

Ich weiß kaum, wann ich wieder zu mir kam. Ich erinnere mich kaum, wann ich mich in mein Schlafzimmer zurückschleppte, ein Licht anzündete und (zuerst mit einer sonderbaren Ungewißheit darüber, wo ich danach suchen müßte) mir trockene Kleider holte, um mich wieder zu erwärmen. Ich erinnere mich wohl, Alles dies gethan zu haben, aber nicht, wann es geschah.

Kann ich mich sogar entsinnen, wann das Gefühl der starren Kälte der glühenden Hitze wich?

Es muß vor Sonnenaufgang gewesen sein, – ja, ich hörte es drei Uhr schlagen. Ich erinnere mich dieser Zeit nach der plötzlichen Helle und Klarheit, nach der fieberhaften Aufregung all’ meiner Kräfte, welche mit ihr kamen. Ich erinnere mich meines Entschlusses, mich zu beherrschen, geduldig eine Stunde nach der andern zu warten, bis sich eine Gelegenheit bieten würde, Laura, ohne Furcht vor der augenblicklichen Entdeckung und Verzweiflung, aus diesem entsetzlichen Orte hinwegzuführen. Ich erinnere mich, wie sich meinem Geiste allmälig die Ueberzeugung aufdrang, daß das, was jene Beiden zusammen gesprochen hatten, uns nicht allein rechtfertigen würde, indem wir das Haus verließen, sondern auch uns mit Waffen der Vertheidigung gegen sie versehen mußte. Ich entsinne mich des Impulses, der mich trieb, ihre Worte, so lange meine Zeit noch mir gehörte, und sie noch frisch in meinem Gedächtnisse waren, schriftlich und genau so aufzubewahren, wie sie gesprochen wurden. Alles dessen erinnere ich mich noch ganz klar: es ist noch keine Verwirrung in meinem Geiste. Ich erinnere mich deutlich, wie ich vor Sonnenaufgang mit Feder, Tinte und Papier aus meinem Schlafzimmer hier hereintrat – wie ich mich an das weit geöffnete Fenster setzte, um möglichst viele kühle Luft zu fühlen – wie ich unaufhörlich immer schneller und schneller schrieb, immer heißer und heißer glühte, immer wacher und wacher wurde, während der schrecklichen Zwischenzeit, ehe es sich im Hause wieder regte, – wie klar es Alles vor mir ist, vom Anfange beim Lampenlichte bis zum Ende auf der vorhergehenden Seite im hellen Sonnenschein des neuen Tages!

Wozu sitze ich noch immer hier? Wozu ermüde ich meine heißen Augen und meinen glühenden Kopf, indem ich noch immer weiter schreibe? Warum lege ich mich nicht nieder und ruhe aus, und suche im Schlafe das Feuer zu löschen, das mich verzehrt? Ich wage nicht, es zu versuchen. Eine nie gefühlte Furcht hat mich ergriffen. Ich ängstige mich um diese Gluth, die mir die Haut austrocknet, und um das Klopfen und Hämmern in meinem Kopfe. Wie kann ich wissen, wenn ich mich niederlege, ob ich die Kraft und die Besinnung haben werde, wieder aufzustehen?

O, der Regen, der Regen – der grausame Regen, der mich in der Nacht erstarrte!

– – – – – – – – – – –

Neun Uhr. Schlug es neun soeben oder acht? Neun, gewiß? Ich schaudere wieder, – schaudere am ganzen Körper in der Sommerluft. Habe ich hier gesessen und  geschlafen? – Ich weiß nicht, was ich gemacht habe.

 

O, mein Gott! werde ich krank?

Krank, zu einer solchen Zeit!

Mein Kopf – ich fürchte so sehr für meinen Kopf. Ich kann schreiben, aber die Zeilen verschwimmen alle in einander. Ich sehe die Wörter. Laura – ich kann Laura schreiben und es lesen. Acht oder neun, was war es?

So kalt, so kalt – o, dieser Regen gestern Abend! Und die Schläge der Uhr; die Schläge, die ich nicht zählen kann, sie schlagen fortwährend in meinem Kopfe –

– – – – – – – – – – –
Anmerkung

(An dieser Stelle fängt das ins Tagebuch Eingetragene an unleserlich zu werden. Die zwei oder drei noch folgenden Zeilen enthalten bloße Bruchstücke von Wörtern, die durch Kleckse und Federstriche entstellt sind. Die letzten Zeichen auf dem Papiere gleichen den Anfangsbuchstaben (L und A) von Lady Glyde’s Namen.

Auf der nächsten Seite des Tagebuches findet sich eine andere Schrift. Es ist die Handschrift eines Mannes, groß, entschlossen, fest und regelmäßig; das Datum ist »Den 7. Juli.« Sie lautet folgendermaßen:)

»(Postscriptum eines aufrichtigen Freundes.)

Die Krankheit unserer vortrefflichen Miß Halcombe hat mir die Gelegenheit zu einem unerwarteten geistigen Genusse verschafft.

Ich meine die Durchsicht dieses interessanten Tagebuches, welche ich soeben beendet habe.

Es sind hier viele hundert Seiten. Ich kann, die Hand aufs Herz gelegt, gestehen, daß jede Seite mich interessirt, erquickt und entzückt hat.

Für einen Mann von meinen Gefühlen ist es unaussprechlich erfreulich, dies sagen zu können.

Bewunderungswürdiges Weib!

Ich meine Miß Halcombe.

Erstaunliche Anstrengung!

Ich meine das Tagebuch.

Ja! Diese Blätter sind erstaunlich. Der Tact, den ich hier finde, die Umsicht, der seltene Muth, die wunderbare Gedächtnißkraft, die genaue Beobachtungsgabe, die bezaubernden Ausbrüche weiblichen Gefühls, haben meine Bewunderung für dieses göttliche Wesen, für diese süperbe Marianne ganz unendlich vermehrt Die Darstellung meines eigenen Charakters ist über alle Beschreibung meisterhaft. Ich bezeuge von ganzem Herzen die Treue des Portraits. Ich fühle, welch einen lebhaften Eindruck ich gemacht haben muß, um in so kräftigen, glänzenden, pastösen Farben dargestellt zu werden. Ich beklage von Neuem die grausame Nothwendigkeit, welche unsere Interessen einander feindlich gegenüberstellt. Wären die Verhältnisse glücklicherer Art gewesen, wie würdig wäre Miß Halcombe meiner gewesen.

Die Gefühle, welche mein Herz bewegen, versichern mich, daß die Zeilen, welche ich soeben geschrieben habe, eine hohe Wahrheit ausdrücken.

Diese Gefühle erheben mich über bloße persönliche Rücksichten. Ich bezeuge auf die unparteiischste Weise die Vortrefflichkeit der Kriegslist, durch welche dieses unvergleichliche Weib bei der heimlichen Unterredung zwischen Percival und mir zugegen war, wie auch die wunderbare Genauigkeit ihres Berichtes über die ganze Unterhaltung von Anfang bis zu Ende derselben.

Diese Gefühle haben mich bewogen, dem unzugänglichen Arzte, der sie behandelt, meine umfassende Kenntniß der Chemie und meine glänzenden Erfahrungen in den noch weit feineren Hülfsquellen, welche die medicinische und magnetische Wissenschaft der Menschheit zu Gebote stellen, anzutragen. Doch hat er es bis jetzt ausgeschlagen, sich meines Beistandes zu bedienen. Elender Mann!

Endlich dictiren jene Gefühle diese Zeilen – dankbare, theilnehmende, väterliche Zeilen. Ich schließe das Buch. Mein strenges Rechtlichkeitsgefühl legt es (vermittelst der Hände meiner Gattin) wieder an seinen Platz auf den Tisch der Schreiberin. Die Ereignisse treiben mich fort. Die Verhältnisse leiten mich zu ernsten Ausgängen. Umfassende Perspectiven des Erfolges öffnen sich vor meinen Blicken. Ich erfülle mein Geschick mit einer Ruhe, die mir selbst fürchterlich erscheint. Nichts als der Tribut meiner Bewunderung ist mein eigen. Ich lege ihn mit huldigender Zärtlichkeit zu Miß Halcombe’s Füßen nieder.

Ich bete für ihre Genesung.

Ich bezeige ihr mein innigstes Bedauern über das unvermeidliche Mißlingen jedes Planes, den sie für das Wohl ihrer Schwester gemacht hat. Zugleich aber bitte ich sie, mir zu glauben, daß die Kenntniß, welche ich ihrem Tagebuche entnommen, in keiner Weise zu diesem Mißlingen beitragen wird. Dieselbe bestärkt mich ganz einfach in dem Plane, den ich mir zuvor gebildet hatte. Ich habe es diesen Blättern zu danken, daß sie die feinsten Empfindungen meiner Natur erweckt haben, weiter Nichts.

Einem Wesen, das gleicher Empfindungen fähig ist, wird diese einfache Aussage Alles erklären und Alles bei ihm entschuldigen.

Miß Halcombe ist ein Wesen, das gleicher Empfindungen fähig ist.

In dieser Ueberzeugung zeichne ich mich

Fosco.«

Die Aussage von Frederick Fairlie Esqre zu Limmeridge House. 3

Es ist das große Unglück meines Lebens, daß man mich nicht in Ruhe lassen will. Wozu – frage ich jeden Menschen – wozu plagt man mich? Kein Mensch beantwortet mir diese Frage, und kein Mensch läßt mich in Ruhe. Verwandte, Freunde und Fremde – Alle vereinigen sich, um mich zu plagen. Was habe ich gethan? Ich frage mich und frage meinen Diener Louis fünfzigmal des Tages: was habe ich gethan? Keiner von uns Beiden weiß es. Höchst unbegreiflich!

Die letzte Plage, mit der man mich verfolgt hat, ist die, daß man von mir verlangt, diese meine Aussage niederzuschreiben. Ist nun wohl ein Mensch in meinem beklagenswerthen Zustande von Nervenschwäche im Stande, Aussagen zu schreiben? Wenn ich diese außerordentlich vernünftige Einwendung mache, so sagt man mir, daß gewisse sehr ernste Begebenheiten in Bezug auf meine Nichte sich mit meiner Wissenschaft zugetragen haben, und ich deshalb die geeignete Person bin, dieselben zu beschreiben. Falls ich mich weigere, mich der von mir geforderten Anstrengung zu unterziehen, droht man mir mit Folgen, an die ich nicht denken kann, ohne mich vollkommen niedergeschmettert zu fühlen. Aber es ist wirklich ganz unnöthig, mir zu drohen. Durch den traurigen Zustand meiner Gesundheit und betrübende Familiensorgen geschwächt, ist mir aller Widerstand unmöglich. Wer bei mir auf einer Sache besteht, übervortheilt mich ungerechterweise, und ich gebe augenblicklich nach. Ich will versuchen (mit Protest) mir soviel mir möglich ins Gedächtniß zurückzurufen, und soviel ich kann (ebenfalls mit Protest) niederzuschreiben; und wessen ich mich nicht erinnere oder was ich nicht schreibe, muß Louis sich für mich und statt meiner erinnern und niederschreiben. Er ist ein Esel, und ich bin ein kranker Mann, und wir werden wahrscheinlich allerlei Versehen zusammen begehen. Wie unbeschreiblich demüthigend.

Man verlangt, daß ich mich der Data erinnere. Gerechter Himmel! Ich habe das in meinem ganzen Leben noch nicht gethan – wie soll ich jetzt damit anfangen?

Ich habe Louis gefragt. Er ist doch nicht ein ganz so großer Esel, wie ich bisher geglaubt. Er erinnert sich ungefähr bis auf einen oder zwei Tage des Datums des Ereignisses, und ich erinnere mich der Personen. Das Datum war entweder der fünfte, sechste oder siebente Juli; und der Name (meiner Ansicht nach ein unbeschreiblich ordinärer) war Fanny.

Am fünften, sechsten oder siebenten Juli lag ich in meinem gewöhnlichen Zustande in meinem Ruhesessel, umgeben von den mannichfaltigen Kunstgegenständen, die ich in der Absicht, den Geschmack der Barbaren meiner Nachbarschaft zu bilden, gesammelt habe. Das heißt, ich hatte die Photographien meiner Gemälde, Kupferstiche, Münzen und so weiter um mich herumliegen, die ich nächster Tage (die Photographien meine ich, wenn mir nur die abscheuliche, schwerfällige englische Sprache erlauben wollte, überhaupt Etwas zu meinen) dem Institute zu Carlisle (schauerlicher Ort!) in der Absicht zu schenken gedenke, den Kunstsinn seiner Mitglieder (lauter Gothen und Vandalen) zu bilden. Man sollte denken, daß ein Mann, der im Begriffe sei, seinen Landsleuten eine große nationale Wohlthat zu erzeigen, der letzte Mann von der Welt sein dürfte, den man gefühlloserweise mit den Unannehmlichkeiten seiner Familiensorgen plagte. Aber hierin würde man sich täuschen, in meinem Falle.

Indessen da ruhte ich, von meinen Kunstschätzen umgeben und auf einen ruhigen, ungestörten Vormittag hoffend. Weil ich aber auf einen ruhigen Vormittag hoffte, kam natürlich Louis herein. Es war sehr natürlich, daß ich frug, wie zum Henker er sich unterstehe, herein zu kommen, wenn ich nicht geklingelt hätte. Ich fluche selten – es ist eine so gemeine Angewohnheit – aber als Louis mir mit einem Grinsen antwortete, glaube ich, daß es ebenfalls natürlich war, wenn ich ihn dafür verwünschte. Jedenfalls that ich es.

Diese scharfe Behandlungsweise bringt, wie ich bemerkt habe, Leute von den niederen Classen stets wieder zur Besinnung. Und sie brachte Louis wieder zur Besinnung. Er hatte die Güte, das Grinsen einzustellen und mich zu benachrichtigen, daß »ein junges Frauenzimmer« draußen sei, das mich zu sprechen wünsche. Dann fügte er mit der unerträglichen Geschwätzigkeit von Dienern hinzu, daß es Fanny sei.

»Wer ist Fanny?«

»Lady Glyde’s Jungfer, Sir.«

»Was will Lady Glyde’s Jungfer von mir?«

»Sie hat einen Brief, Sir –«

»Nimm ihn ihr ab.«

»Sie weigert sich, ihn irgend Jemandem als Ihnen selbst zu geben, Sir.«

»Wer schickt den Brief?«

»Miß Halcombe, Sir.«

Sowie ich Miß Halcombe’s Namen hörte, ergab ich mich. Es ist meine Gewohnheit, mich Miß Halcombe stets ohne Widerrede zu ergeben. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß dies Lärm spart. Ich ergab mich also auch bei dieser Gelegenheit. Theure Marianne!

»Laß Lady Glyde’s Jungfer herein kommen, Louis. Halt! Knarren ihre Schuhe?«

Ich war gezwungen, diese Frage zu thun, denn knarrende Schuhe erschüttern meine  Nerven stets für den Rest des Tages. Ich hatte mich darein ergeben, das »junge Frauenzimmer« zu sehen, nicht aber darein, mir durch ihre Schuhe die Nerven erschüttern zu lassen. Selbst meine Duldung hat ihre Grenzen.

Louis erklärte entschieden, daß ich mich auf ihre Schuhe verlassen könne – ich machte ihm ein Zeichen mit der Hand, und er führte sie herein. Brauche ich zu sagen, daß sie ihre Verlegenheit dadurch ausdrückte, daß sie den Mund schloß und durch die Nase athmete? Dem Philosophen, welcher die weibliche menschliche Natur der niedern Classen studirt hatte, gewiß nicht.

Ich muß jedoch dem Mädchen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ihre Schuhe knarrten in der That nicht. Aber warum haben alle dienenden »jungen Frauenzimmer« feuchte Hände? Warum haben sie alle dicke Nasen und harte Wangen? Und warum haben ihre Gesichter stets etwas so betrübend Unfertiges, namentlich bei den Augenwinkeln herum?·Ich selbst bin nicht kräftig genug, um über dergleichen tief nachzudenken, aber ich frage sachverständige Leute, die hierin glücklicher sind als ich: warum haben wir keine Mannichfaltigkeit in unserem »Jung-Frauenzimmer«-Nachwuchs?

»Sie haben einen Brief für mich von Miß Halcombe? Haben Sie die Güte, legen Sie ihn auf den Tisch, aber stoßen Sie Nichts um. Wie befindet sich Miß Halcombe?«

»Ganz wohl, ich danke, Sir.«

»Und Lady Glyde?«

Ich erhielt keine Antwort. Das Gesicht des »jungen Frauenzimmers« nahm ein unfertigeres Aussehen denn je an und ich glaube, sie fing an zu weinen; wenigstens weiß ich ganz gewiß, daß ich etwas Nasses in ihren Augen bemerkte. Thränen oder Transpiration? Louis (den ich soeben darüber befragt habe) ist der Meinung, daß es Thränen waren. Er gehört ihrer Classe an und muß es daher am besten wissen. Sagen wir also Thränen.

Ausgenommen wenn ihnen durch das veredelnde Werk der Kunst alle Aehnlichkeit mit der Natur genommen ist, bin ich entschieden gegen Thränen. Thränen werden von der Wissenschaft als eine Absonderung bezeichnet. Ich kann nun wohl begreifen, daß eine Absonderung gesund oder ungesund sein kann, aber von einem poetischen Gesichtspunkte aus vermag ich ihnen kein Interesse abzugewinnen. Vielleicht ist dies, da meine eignen Absonderungen alle in der größten Unordnung sind, ein Vorurtheil von mir. Doch dem sei, wie ihm wolle: ich benahm mich bei dieser Gelegenheit voll Rücksicht und Gefühl. Ich schloß meine Augen und sagte zu Louis:

 

»Versuche zu erfahren, was sie meint.«

Louis versuchte, und das »junge Frauenzimmer« versuchte, und es gelang ihnen, sich einander in dem Grade zu verwirren, daß mich die Dankbarkeit verpflichtet, zu gestehen, daß sie mich wirklich amüsirten. Ich denke, das nächste Mal, daß ich in gedrückter Laune bin, lasse ich sie Beide wieder zu mir kommen. Ich habe dieser Absicht soeben zu Louis erwähnt; sonderbarerweise scheint sie ihn unangenehm zu berühren. Armer Narr!

Doch erwartet man hoffentlich nicht von mir, daß ich wiederhole, was meiner Nichte Kammerjungfer zur Erklärung ihrer Thränen vorbrachte, und wie mein schweizer Kammerdiener Dies in’s Englische übertrug? So Etwas ist offenbar unmöglich. Es mag mir vielleicht gelingen, meine eignen Eindrücke und Gefühle wiederzugeben. Wird dies genügen? Bitte, sage man Ja!

Mir ist, als ob sie damit angefangen hätte, mir (durch Louis) zu erzählen, daß ihr Herr sie aus dem Dienste ihrer Herrin entlassen habe. (Man bemerke, bitte, den seltsam unzusammenhängenden Bericht des »jungen Frauenzimmers«. War es meine Schuld, daß sie ihre Stelle verloren hatte?) Nach ihrer Entlassung sei sie in’s Wirthshaus gegangen, um dort die Nacht zuzubringen. (Bin ich ein Gastwirth, daß sie des Wirthshauses gegen mich zu erwähnen brauchte?) Zwischen sechs und sieben Uhr sei Miß Halcombe zu ihr gekommen, um ihr Adieu zu sagen, und habe ihr zwei Briefe gegeben – einen an mich und einen an einen Herrn in London. (Ich bin doch kein Herr in London – zum Henker mit dem Herrn in London!) Sie habe beide Briefe sorgfältig in ihren Busen gesteckt (was geht mich ihr Busen an?); sie sei sehr unglücklich gewesen, als Miß Halcombe sie wieder verlassen; sie habe nicht das Herz gehabt, einen Bissen oder Tropfen zu genießen, bis es beinah Schlafenszeit gewesen, und da, kurz vor neun Uhr, habe sie gedacht, sie wolle eine Tasse Thee trinken. (Bin ich für diese gemeinen Unschlüssigkeiten verantwortlich, die mit Kummer anfangen und mit Thee enden?) Gerade, als sie den Topf gewärmt (ich schreibe die Worte auf Louis’ Verantwortung, welcher sagt, er weiß, was sie bedeuten, und sich erbietet, sie zu erklären, aber ich verbiete es ihm aus Grundsatz) – gerade, als sie den Topf gewärmt, habe sich die Thür geöffnet, und sie sei wie angedonnert gewesen (wieder ihre eigenen Worte, die diesmal sogar für Louis ebenso unverständlich waren, wie für mich), als sie Ihro Gnaden die Frau Gräfin in’s Zimmer habe treten sehen. Ich schreibe den Titel, welchen meiner Nichte Kammerjungfer meiner Schwester beilegte, mit einem Gefühle wahren Hochgenusses. Meine arme liebe Schwester ist ein widerwärtiges Geschöpf, das einen Ausländer geheirathet hat. Um jedoch wieder zur Jungfer zurückzukommen: die Thür öffnete sich, und Ihro Gnaden die Frau Gräfin trat herein, und das »junge Frauenzimmer« war wie angedonnert. Höchst merkwürdig!

Ich muß wirklich ein wenig ausruhen, ehe ich fortfahre. Wenn ich ein paar Minuten mit geschlossenen Augen gelegen haben werde, und Louis meine armen Schläfen mit etwas Eau de Cologne gebadet hat, mag ich im Stande sein, meine Aufgabe fortzusetzen.

Ihro Gnaden die Frau Gräfin – nein. Ich bin allerdings im Stande fortzufahren, nicht aber, aufrecht zu sitzen. Ich will mich zurücklegen und dictiren. Louis hat eine entsetzliche Aussprache, aber er kennt die englische Sprache und kann sie schreiben. Wie außerordentlich bequem!

Ihro Gnaden die Frau Gräfin erklärte ihr unerwartetes Erscheinen im Wirthshause, indem sie zu Fanny sagte, sie bringe ihr, noch ein paar kleine Aufträge, welche Miß Halcombe in ihrer Eile vergessen habe. Das »junge Frauenzimmer« war sehr gespannt, diese Aufträge zu hören, aber die Gräfin schien nicht geneigt, ihr hierüber Aufschluß zu geben, bis Fanny ihren Thee getrunken haben würde (das sieht der Widerwärtigkeit meiner Schwester sehr ähnlich!). Ihro Gnaden war ganz außerordentlich gütig und rücksichtsvoll dabei (sieht meiner Schwester nicht im Geringsten ähnlich) und sagte: »Ich bin überzeugt, mein gutes Mädchen, daß Sie sehr einer Tasse Thee bedürfen. Unsere Aufträge können warten, bis Sie sich gestärkt haben. Kommen Sie; wenn Sie durchaus nicht anders wollen, so werde ich den Thee machen und eine Tasse mittrinken.« Das, glaube ich, waren die Worte, in denen das »junge Frauenzimmer« in großer Aufregung sich in meiner Gegenwart ausdrückte. Jedenfalls bestand die Gräfin darauf, den Thee zu machen, und trieb dann ihre lächerliche Ostentation der Herablassung so weit, daß sie selbst eine Tasse nahm und das Mädchen zwang, die andere zu nehmen. Das Mädchen trank den Thee; und dann – ihrem eigenen Berichte zufolge – feierte sie die außerordentliche Gelegenheit dadurch, daß sie in fünf Minuten zum erstenmale in ihrem Leben wie todt in Ohnmacht fiel. Ich bediene mich abermals ihrer eigenen Worte. Louis meint, sie seien von einer noch bedeutenderen Absonderung von Thränen begleitet gewesen. Doch kann ich hierüber selbst Nichts bestimmen. Die Anstrengung des Zuhörens war vollkommen genug für mich, und meine Augen waren geschlossen.

Wo blieb ich stehen? Ach ja – sie wurde ohnmächtig, nachdem sie eine Tasse mit der Gräfin getrunken, ein Verfahren, das mich möglicherweise interessirt hätte, wäre ich ihr Arzt gewesen; da aber dies nicht im Geringsten der Fall war, langweilte es mich blos unbeschreiblich, und das war Alles. Als sie nach ungefähr einer halben Stunde wieder zu sich kam, lag sie auf dem Sopha, und es war Niemand bei ihr außer der Wirthin. Die Gräfin, der es zu spät wurde, um noch länger im Wirthshause zu bleiben, war fortgegangen, sowie sie gesehen, daß das Mädchen sich erholte; und die Wirthin war dann so freundlich gewesen, sie hinauf zu führen und ihr zu helfen, sich ins Bett zu legen. Sobald sie allein geblieben, habe sie nach den Briefen in ihrem Busen gefühlt (ich bedaure, daß ich dieses Gegenstandes zum zweitenmale zu erwähnen habe), die auch beide dort gewesen, obgleich in einem sehr zerknitterten Zustande. Sie habe in der Nacht Schwindel gefühlt, sei aber am Morgen wohl genug gewesen, um abreisen zu können. Sie hatte den Brief an jenen höchst gleichgültigen Fremden, den Herrn in London, auf die Post und jetzt den anderen an mich in meine Hände gegeben, wie man ihr befohlen hatte. Dies sei die einfache Wahrheit, und obgleich sie sich für keine absichtliche Nachlässigkeit tadeln könne, so fühlte sie sich doch sehr beunruhigt und sehr des Rathes bedürftig. Hier, meint Louis, habe sie die Absonderungen wiederholt. Wohl möglich, doch ist es von unendlich größerer Wichtigkeit, daß hier ebenfalls ich die Geduld verlor, meine Augen öffnete und mich dazwischen legte.

»Und worauf läuft alles Dies hinaus?« fragte ich.

Meiner Nichte confuse Jungfer stand gaffend und sprachlos da.

»Versuche, ihr meine Frage deutlich zu machen«, sagte ich zu meinem Kammerdiener; »übersetze mich ihr, Louis.«

Louis versuchte es und übersetzte Mit anderen Worten: er stieg augenblicklich in eine bodenlose Gruft von Verwirrung hinab, und das »junge Frauenzimmer« folgte ihm. Ich weiß wirklich nicht, ob ich mich je so amüsirt habe. Ich ließ sie, so lange sie mich unterhielten, in der Tiefe der Gruft; als dies aber aufhörte, machte ich Gebrauch von meiner Einsicht und zog sie wieder herauf.

Es ist unnöthig zu sagen, daß es mir im Verlaufe der Zeit gelang, mich mit dem eigentlichen Zwecke des Berichtes der Kammerjungfer bekannt zu machen. Ich entdeckte, daß es sie beunruhigte, durch den Gang der Ereignisse verhindert zu sein, jene nachträglichen Aufträge entgegenzunehmen, mit welchen Miß Halcombe die Gräfin an sie abgeschickt hatte. Sie fürchtete, daß diese Aufträge von größter Wichtigkeit für das Interesse ihrer Herrin gewesen seien; doch hatte ihre Furcht vor Sir Percival sie abgehalten, noch spät abends nach Blackwater Park zurückzukehren, um sich darüber zu unterrichten; und Miß Halcombe’s ausdrücklicher Befehl, auf keinen Fall am nächsten Morgen den Zug zu verfehlen, hatte sie verhindert, noch den folgenden Tag im Wirthshause zu warten. Sie war in größter Sorge, daß das Unglück ihrer Ohnmacht nicht noch das zweite Unglück, daß ihre Herrin sie für nachlässig hielte, zur Folge haben möge, und sie wolle mich ergebenst bitten, ihr zu sagen, ob ich ihr rathe, Miß Halcombe ihre Erklärungen und Entschuldigungen hierüber zu schreiben und sie zu bitten, ihr brieflich jene Aufträge zu geben, falls es noch nicht zu spät dazu sei. Ich entschuldige mich nicht wegen dieser weitschweifigen Darstellung eines Umstandes. Man hat mir befohlen, ihn zu erwähnen. Es giebt Leute – wie unglaublich dies auch scheinen mag – die mehr Interesse an dem nehmen, was meiner Nichte Jungfer bei dieser Gelegenheit zu mir, als an dem, was ich zu ihr sagte. Höchst belustigende Wunderlichkeit.

3Die Art und Weise, wie man sich Mr. Fairlie’s Aussage und andere Aussagen verschaffte, welche in Kurzem folgen werden, bildet den Gegenstand einer Erklärung, welche in einem spätern Theile der Erzählung erscheinen wird. – Anmerkung d. Verfassers.