Kostenlos

Die Frau in Weiss

Text
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Sahst oder hörtest Du irgend Jemanden in den Anlagen?«

»Nein, es schien Alles still und ruhig, als ich durch’s Holz kam.«

Ich schwieg einen Augenblick, um zu überlegen. War diese dritte Person, die bei der Unterredung zugegen gewesen sein sollte, eine Wirklichkeit oder nur eine Schöpfung von Anna Cathericks erregter Phantasie? Es war unmöglich, dies mit Bestimmtheit zu sagen. Das einzige Gewisse ist, daß wir, schon an der Schwelle des Geheimnisses, wieder unsern Zweck verfehlt haben – und zwar vollkommen und unwiederbringlich, wenn nicht Anna Catherick morgen ihr Wort hält und nach dem Boothause kommt.

»Bist Du ganz sicher, mir Alles erzählt zu haben, das sich zutrug. Jedes Wort, das gesprochen wurde?« frug ich.

»Ja, ich denke es,« entgegnete Laura. »Mein Gedächtniß ist nicht wie Deins, Marianne. Aber es machte Alles solch tiefen Eindruck auf mich, daß mir Nichts, das von Wichtigkeit wäre, entgangen sein kann.«

»Meine liebe Laura, die geringsten Kleinigkeiten sind von Wichtigkeit, wo wir mit Anna Catherick zu thun haben. Denke noch einmal nach. Erwähnte sie nicht ganz zufällig des Ortes, wo sie sich augenblicklich aufhält?«

»Nicht, daß ich mich entsänne«

»Auch nicht einer Begleiterin und Freundin, einer Frau, die Mrs. Clements heißt?«

»O doch! ja! das vergaß ich. Sie sagte mir, Mrs. Clements wünsche so sehr, nach den Seen mit ihr zu reisen, um sie zu pflegen, und bitte sie inständigst, sich nicht mehr allein in diese Gegend zu wagen.«

»War das Alles, was sie über Mrs. Clements sagte?«

»Ja, das war Alles.«

»Sie sagte Dir Nichts darüber, wohin sie geflohen seien, nachdem sie Todd’s Ecke verließen?«

»Nichts – das weiß ich gewiß.«

»Auch nicht, wo sie sich seitdem aufgehalten und was ihre Krankheit gewesen sei?«

»Nein, Marianne, kein Wort. Sage mir, o sage mir, was Du darüber denkst. Ich weiß nicht, was ich jetzt denken oder thun soll.«

»Dies, mein Herz: Du mußt morgen auf jeden Fall nach dem Boothause gehen. Es ist unmöglich, zu wissen, was Alles davon abhängt, daß Du die Arme wiedersiehst. Doch sollst Du nicht zum zweiten Male Dir selbst überlassen bleiben. Ich will Dir in sicherer Entfernung folgen. Niemand soll mich sehen; aber ich will innerhalb Hörweite von Dir bleiben, sollte sich irgend Etwas ereignen. Anna Catherick ist Walter Hartright entschlüpft und Dir. Was aber auch danach kommen möge, mir soll sie nicht entgehen.«

Laura’s Augen lasen aufmerksam in den meinigen, während ich sprach.

»Du glaubst also an das Geheimniß, vor dem mein Mann sich fürchtet?«

»Ja, ich glaube daran.«

»Anna Catherick’s Wesen war wild, und ihre Augen blickten unstät und geistesabwesend als sie jene Worte sagte, Marianne. Würdest Du ihr in andern Dingen trauen?«

»Ich vertraue auf Nichts, als auf meine eignen Beobachtungen über Deines Mannes Benehmen, Laura. Ich beurtheile Anna Cathericks Worte nach seinen Handlungen und glaube daher, daß er allerdings ein Geheimniß hat.«

Ich sagte weiter Nichts und stand auf, um das Zimmer zu verlassen Mich beunruhigten Gedanken, die ich ihr vielleicht mitgetheilt hätte, wären wir noch länger zusammen geblieben, und die zu wissen gefährlich für sie hätte sein können. Der Einfluß des entsetzlichen Traumes, aus dem sie mich erweckt hatte, hing sich düster und schwer an jeden neuen Eindruck, den der Fortgang ihrer Erzählung in meinem Gemüthe hervorbrachte. Ich fühlte die drohende Zukunft herannahen, mich mit einem unaussprechlichen Entsetzen erfüllen und mir die Ueberzeugung von einem unbekannten Ziele in den langen Reihen von Verwickelungen aufdrängen, die sich allmälich um uns zogen. Ich dachte an Hartright, wie ich ihn körperlich gesehen hatte, als er Lebewohl sagte, und geistig in meinem Traume, und auch mich beschlich der Gedanke, ob wir nicht unbewußt einem vorherbestimmten, unvermeidlichen Ende entgegentrieben.

Indem ich Laura allein die Treppe hinaufsteigen ließ, ging ich hinaus, um mich in den Steigen unmittelbar am Hause umzuschauen. Die Umstände, unter welchen Anna Catherick von ihr geschieden war, hatten in mir den heimlichen Wunsch, zu erfahren, wo und wie der Graf den Nachmittag zugebracht habe, und zugleich einen heimlichen Argwohn erregt in Bezug auf die Erfolge jener einsamen Reise, von der Sir Percival vor wenigen Stunden heimgekehrt war.

Nachdem ich mich nach allen Richtungen hin nach ihnen umgeschaut hatte, ohne Etwas von ihnen zu sehen, kehrte ich ins Haus zurück und ging durch alle Stuben im Erdgeschosse. Sie waren alle leer. Ich kam wieder in den Flur hinaus, um hinauf zu gehen und zu Laura zurückzukehren. Die Gräfin öffnete die Thür, als ich an ihrer Stube vorbeikam, und ich stand still, um sie zu fragen, ob sie wisse, wo ihr Gemahl und Sir Percival seien. Ja, sie hatte sie Beide vor mehr als einer Stunde vom Fenster aus gesehen. Der Graf habe mit seiner ihm eigenen Freundlichkeit hinaufgeblickt und ihr mit seiner gegen sie selbst in Kleinigkeiten gezeigten Aufmerksamkeit gesagt, daß er und sein Freund im Begriffe seien, einen langen Spaziergang zu machen.

Einen langen Spaziergang! Sie waren, so lange ich sie kannte, noch nie zu dem Zwecke zusammen gewesen. Sir Percival liebte keine andere Bewegung als die des Reitens, und der Graf (ausgenommen wenn er die Höflichkeit hatte, sich mir zur Begleitung anzutragen) war gar kein Freund von Bewegung

Als ich zu Laura kam, fand ich, daß sie sich während meiner Abwesenheit der schwebenden Frage in Bezug auf die Unterschrift erinnert hatte, welche wir in dem Interesse, mit dem wir ihre Unterredung mit Anna Catherick besprochen, ganz vergessen hatten. Ihre ersten Worte, als ich in ihr Zimmer trat, drückten ihr Erstaunen darüber aus, daß die gedachte Ladung, in der Bibliothek vor Sir Percival zu erscheinen, auf sich warten ließe.

»Ueber diesen Punkt darfst Du Dich beruhigen,« sagte ich, »für’s Erste wenigstens wird weder Deine, noch meine Entschlossenheit auf die Probe gestellt werden. Sir Percival hat seinen Plan verändert, und die Unterschriftsangelegenheit ist verschoben.«

»Verschoben?« wiederholte Laura, über die Maßen erstaunt. »Wer sagt das?«

»Ich weiß es durch den Grafen Fosco. Ich glaube,wir haben es seiner Vermittelung zu danken, daß Dein Mann so plötzlich anderen Sinnes geworden ist.«

»Es scheint unmöglich, Marianne. Falls der Zweck meiner Unterschrift, wie wir vermutheten, der war, Sir Percival Geld zu verschaffen, das er nothwendig brauchte, wie kann sie da verschoben werden?«

»Ich glaube, Laura, daß wir im Stande sein werden, diesen Zweifel zu beseitigen. Hast Du die Unterhaltung vergessen, die ich zwischen Sir Percival und seinem Geschäftsmann anhörte, als sie zusammen über den Flur gingen?«

»Nein, aber ich entsinne mich nicht –«

»Aber ich. Der Advokat schlug zwei Alternativen vor. Die eine war die, Deine Unterschrift zu dem Documente zu erlangen, die andere, Zeit zu gewinnen, indem man Wechsel auf drei Monate ausstellte. Dieses letztere Hülfsmittel ist offenbar das, nach dem Sir Percival jetzt gegriffen hat, und wir haben somit Hoffnung, auf einige Zeit wenigstens mit seinen Geldverlegenheiten verschont zu bleiben.«

»O, Marianne, das klingt zu gut, um wahr zu sein!«

»Denkst Du das, mein Herz? Du machtest mir vorhin Complimente über mein gutes Gedächtniß, aber jetzt scheinst Du es in Zweifel zu ziehen. Ich will mein Tagebuch holen, und dann werden wir sehen, ob ich Recht oder Unrecht habe.«

Ich ging sofort und holte das Buch, und als wir zurückblätterten bis zum Besuche des Advokaten, fanden wir, daß meine Erinnerung von der von ihm vorgeschlagenen Alternativen eine durchaus richtige war. Es war mir fast eine ebenso große Erleichterung, als es für Laura war, zu sehen, daß mein Gedächtniß mir bei dieser Gelegenheit mit gewohnter Treue gedient hatte. In der gefährlichen Unsicherheit unserer jetzigen Lage ist es schwer zu sagen, welche künftigen Interessen nicht von der Regelmäßigkeit und Genauigkeit meines Tagebuches abhängen mögen.

Laura’s Gesicht und Manier verriethen mir, daß sich letztere Betrachtung ihr sowohl als mir aufgedrängt hatte. Uebrigens ist es ja nur eine Kleinigkeit, und ich schäme mich fast, hier Etwas davon zu schreiben – es stellt die Verlassenheit unserer Lage in ein so unselig grelles Licht. Es muß uns in der That wenig übrig bleiben, auf das wir uns verlassen können, wenn die Entdeckung, daß mein Gedächtniß noch ein treues ist, von uns mit einer Freude begrüßt wird, als ob wir einen neuen Freund gefunden hätten!

Das erste Läuten zu Tische trennte uns. Als es eben aufgehört hatte, kehrten Sir Percival und der Graf von ihrem Spaziergange zurück. Wir hörten den Herrn des Hauses gegen den Diener lostoben, weil man das Diner um fünf Minuten verspätet hatte, und der Freund des Herrn legte sich, wie gewöhnlich, zu Gunsten der Schicklichkeit, der Geduld und des Friedens ins Mittel.

– – – – – – – – – – –

Der Abend ist zu Ende. Es hat sich nichts Besonderes zugetragen. Aber ich habe gewisse Eigenthümlichkeiten in Sir Percival’s und des Grafen Benehmen wahrgenommen, die mich mit Besorgniß um Anna Catherick und die Erfolge erfüllen, welche der kommende Tag uns bringen mag. Ich kenne Sir Percival jetzt hinlänglich, um zu wissen, daß er niemals falscher und somit niemals mehr zu fürchten ist, als wenn er einmal höflich auftritt. Der lange Spaziergang mit seinem Freunde hatte eine merkliche Veränderung in seinem Benehmen hervorgebracht, namentlich in seinem Benehmen gegen seine Frau. Zu Laura’s heimlichem Erstaunen und meiner heimlichen Bestürzung nannte er sie bei ihrem Vornamen, frug sie, ob sie kürzlich von ihrem Onkel gehört habe, wann Mrs. Vesey ihre Einladung nach Blackwater Park erhalten solle, und erzeigte ihr so viele andere kleine Aufmerksamkeiten, daß er uns fast an die Tage seiner hassenswerthen Probezeit in Limmeridge House erinnerte. Dies war zugleich ein schlechtes Zeichen; und von noch schlimmerer Vorbedeutung schien es mir, daß er sich gleich nach Tische im Gesellschaftszimmer stellte, als ob er schlafe, wobei seine Augen listigerweise mir und Laura folgten, wenn er glaubte, daß wir ihn beargwöhnten. Ich habe es vom ersten Augenblicke an nicht bezweifelt, daß seine plötzliche, einsame Reise ihn nach Welmingham führte, um dort Mrs. Catherick auszufragen – aber meine Erfahrungen von heute Abend lassen mich fürchten, daß sie keine vergebliche gewesen, und daß er alle Auskunft erhalten, um deretwillen er uns verließ. Wenn ich nur wüßte, wo Anna Catherick zu finden ist, da würde ich morgen mit der Sonne aufstehen, um sie zu warnen.

 

Während Sir Percival’s Auftreten heute Abend leider mir nur ein zu bekanntes war, zeigte sich mir der Graf hingegen in einem ganz neuen Charakter. Er ließ mich ihn heute Abend zum ersten Male als einen Mann von Gefühl kennen lernen – ein Gefühl, das ich für ein wirkliches, nicht für die Gelegenheit angenommenes halte.

Er war ruhig und schweigsam; in seinen Augen und seiner Stimme sprach sich eine unterdrückte Empfindsamkeit aus. Er trug (als ob eine verborgene Verbindung zwischen seinen schönsten Kleidern und tiefsten Gefühlen stattfinde) die süperbste Weste, in der er sich noch bisher gezeigt – sie war von blaßgrüner Seide und sehr geschmackvoll mit feiner Silberschnure besetzt. Seine Stimme bewegte sich in den zärtlichsten Modulationen, und sein Lächeln drückte eine gedankenvolle, väterliche Bewunderung aus, wenn er Laura oder mich anredete. Er drückte unter dem Tische die Hand seiner Frau, als sie ihm für eine geringfügige Aufmerksamkeit dankte. Er trank ihr Wohlsein. »Auf Dein Wohl und Dein Glück, mein Engel!« sagte er mit liebendem, feuchtem Blicke. Er aß wenig oder gar nichts und seufzte und sagte, »Du guter Percival!« wenn sein Freund ihn verlachte. Nach Tische nahm er Laura’s Hand, und frug, ob sie »so lieb sein wolle, ihm Etwas vorzuspielen.« Sie willigte aus bloßer Ueberraschung ein. Er setzte sich neben dem Clavier nieder, und seine Uhrkette fiel in Schlangenringeln auf das wassergrüne Gebirge seiner Weste. Sein ungeheurer Kopf neigte sich schmachtend nach einer Seite, und zwei seiner gelblich weißen Finger schlugen leise den Tact. Er zollte der Musik hohen Beifall und sprach sich mit zärtlicher Bewunderung über Laura’s Spielweise aus – nicht wie der arme Walter sie zu loben pflegte: mit einer unschuldigen Freude an den lieblichen Tönen, sondern mit einem klaren, wohlgebildeten, eingehenden Verständnisse der Verdienste der Composition einestheils und der Verdienste des Vortrages anderntheils. Als es später wurde, bat er, daß das schöne, hinsterbende Tageslicht noch nicht durch Lampen entweiht werden möge. Er kam mit seinem entsetzlichen stillen Tritte an das entlegene Fenster, an dem ich stand, um ihm möglichst ferne zu sein und ihn nicht zu sehen, er kam, um mich zu bitten, seinen Protest gegen Lampen zu unterstützen. Hätte eine derselben ihn in diesem Augenblicke zu Asche verbrennen können, so würde ich sie selbst aus der Küche geholt haben.

»Gewiß, Sie müssen dieses bescheidene, zitternde englische Zwielicht lieben?« sagte er leise. »Ach! ich liebe es. Ich fühle die mir innewohnende Bewunderung alles Schönen und Großen sich an einem Abende wie diesem in dem Hauch des Himmels reinigen. Die Natur besitzt für mich solche unvergängliche Reize, solche unauslöschliche Liebe! Ich bin ein dicker, alter Mann, und Reden, die Ihren Lippen wohl anstehen würden, klingen, von den meinigen ausgesprochen, wie Hohn und Spott. Es ist hart, in meinen Gefühlsaugenblicken verlacht zu werden, als ob meine Seele mit meinem Körper alt und plump geworden sein müßte. Schauen Sie, theure Dame, welches Licht auf den Bäumen zittert! Durchdringt es Ihr Herz, wie es das meine durchdringt?«

Er hielt inne – sah mich an und recitirte Dante’s berühmte Strophen auf den Abend mit einem melodischen, tiefgefühlten Ausdrucke, welcher der unvergleichlichen Schönheit der Poesie einen ganz besonderen Zauber verlieh.

»Bah!« rief er plötzlich, als die letzte Strophe dieser schönen italienischen Worte auf seinen Lippen erstarb, »ich mache mich zu einem alten Narren und langweile Sie blos Alle! Wir wollen die Fenster unserer Herzen schließen und zur Alltagswelt zurückkehren. Percival! ich genehmige die Einführung der Lampen. Lady Glyde, Miß Halcombe, Eleonore, mein geliebtes Weib, wer von Ihnen will mir die Freude machen, eine Partie Domino mit mir zu spielen?«

Er sprach zu uns Allen, aber er sah nur Laura dabei an. Sie hatte gelernt, wie ich, daß sie ihn zu beleidigen fürchten müsse und willigte daher ein. Ich hätte dies in diesem Augenblicke nicht thun können. Um Nichts in der Welt hätte ich mich mit ihm an denselben Tisch setzen können. Seine Augen schienen in dem sinkenden Zwielichte bis in meine innerste Seele zu blicken. Seine Stimme ließ jeden Nerv meines Körpers erzittern und mich abwechselnd heiß und kalt werden. Das Geheimnißvolle und Erschreckende meines Traumes, das mich in Zwischenräumen den ganzen Abend verfolgt hatte, lag jetzt wie eine untrügliche Vorahnung auf meinem Gemüthe. Ich sah wieder das weiße Grabmal und die verschleierte Frau an Walter’s Seite. Der Gedanke an Laura entsprang wie eine Quelle in der Tiefe meines Herzens und füllte es mit bitteren Wassern, die es nie, nie zuvor gekannt. Ich faßte ihre Hand, als sie auf ihrem Wege dem Tische zu an mir vorüber ging, und küßte sie, als ob diese Nacht uns auf ewig scheiden sollte. Während Alle mich erstaunt anblickten, lief ich schnell durch das vor mir offen stehende niedrige Fenster in den Garten hinaus um mich in der Dunkelheit vor ihnen zu verbergen – vor mir selber zu verbergen.

Wir gingen diesen Abend später als gewöhnlich auseinander. Gegen Mitternacht unterbrach das Rauschen eines leisen melancholischen Windes in den Bäumen die Sommerstille. Wir fühlten Alle die plötzliche Kühle in der Luft, aber der Graf war der Erste, der das heimliche Steigen des Windes wahrnahm. Während er mein Licht für mich anzündete, hielt er plötzlich inne und erhob wie warnend die Hand:

»Horch!« sagte er »morgen werden wir anderes Wetter bekommen.«

Den 5. Juli.

Die gestrigen Ereignisse warnten mich, früher oder später mich auf das Schlimmste gefaßt zu machen. Der heutige Tag ist noch nicht zu Ende, und das Schlimmste ist bereits eingetreten.

Nach der genauesten Zeitberechnung, die Laura und ich zu machen im Stande waren, schlossen wir, daß es halb drei Uhr gewesen sein mußte, als Anna Catherick gestern Nachmittag im Boothause ankam. Ich kam daher mit Laura überein, daß sie sich beim Frühstück eben am Tische nur zeigen und bei der ersten Gelegenheit hinausschlüpfen sollte; und daß ich zurückbliebe, damit man keinen Verdacht schöpfe, und ihr folge, sobald mir dies gelingen würde. Auf diese Weise würde sie, falls sich keine Hindernisse in den Weg legten, im Stande sein, vor halb drei Uhr im Boothause anzulangen, und ich (sobald ich meinerseits den Tisch verlassen) konnte bereits vor drei Uhr einen sichern Posten im Holze einnehmen.

Die Veränderung im Wetter, auf die der Wind von gestern Abend uns vorbereitet hatte, kam mit dem Morgen. Es regnete heftig, als ich aufstand, und fuhr so fort bis Mittag, wo die Wolken sich zerstreuten, der Himmel wieder blau erschien, und die Sonne mit dem Versprechen eines schönen Nachmittags hell hervortrat.

Meine Unruhe, zu erfahren, wie Sir Percival und der Graf den Morgen hinbringen würden, verminderte sich keineswegs, wenigstens in Bezug auf Sir Percival, als er uns gleich nach dem Frühstück verließ und ungeachtet des Regens ausging. Er sagte uns weder, wohin er gehe, noch wann wir ihn zurückerwarten dürften. Wir sahen ihn eilig am Fenster des Frühstückzimmers vorübergehen, in hohen Stiefeln und wasserdichtem Rocke, und das war Alles.

Der Graf verbrachte den Morgen ruhig im Hause, zum Theil in der Bibliothek, zum Theil im Gesellschaftszimmer, wo er kleine, abgerissene Melodien spielte und vor sich hin summte Dem Anscheine nach war er noch immer beharrlich entschlossen, die sentimentale Seite seines Charakters herauszukehren. Er war schweigsam und empfindsam und seufzte oft und gewichtig (wie nur corpulente Leute seufzen können) bei der geringsten Gelegenheit

Die Zeit des Frühstücks kam, und Sir Percival war noch nicht zurückgekehrt. Der Graf nahm seines Freundes Platz bei Tische ein, verspeiste mit kläglichen Mienen den größeren Theil einer Obstpastete, die er in einer kleinen See von Sahne ersäufte, und setzte uns dann die vollen Verdienste dieses Kunststückes auseinander.

»Ein Geschmack an Süßigkeiten,« sagte er mit seiner sanftesten, zärtlichsten Stimme, »ist die unschuldige Schwäche von Frauen und Kindern. Ich freue mich, dieselbe mit ihnen zu theilen, es ist ein neues Band zwischen Ihnen und mir, theuerste Damen.«

Laura verließ nach zehn Minuten den Tisch. Ich fühlte mich sehr versucht, sie zu begleiten. Wären wir aber Beide zugleich hinausgegangen, so hätten wir unfehlbar Verdacht erregt, und, was noch schlimmer gewesen wäre, falls Anna Catherick Laura in Begleitung einer zweiten Person gesehen, die ihr fremd war, hätten wir aller Wahrscheinlichkeit nach, ihr Vertrauen verscherzt und es dann nie wieder gewonnen.

Ich wartete daher so geduldig, wie mir dies möglich war, bis der Diener kam, um den Tisch abzudecken Als ich das Zimmer verließ, sah ich weder im Hause noch draußen irgend ein Zeichen von Sir Percival’s Rückkehr. Als ich ging, sah ich den Grafen mit einem Stückchen Zucker zwischen den Lippen, zu dem der boshafte Kakadu über die Weste hin emporkletterte, während die Gräfin, ihrem Gemahl gegenüber sitzend, seine Manöver und die des Vogels mit einer Aufmerksamkeit beobachtete, als ob sie dergleichen nie zuvor in ihrem Leben gesehen habe. Auf meinem Wege nach den Baumanlagen hielt ich mich sorgfältig außerhalb des Gesichtskreises vom Fenster der Frühstücksstube. Es sah mich und folgte mir Niemand. Es war auf meiner Uhr ein Viertel vor drei Uhr.

Sowie ich unter den Bäumen anlangte, schritt ich schnell vorwärts, bis ich über die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte Dann ging ich langsamer und vorsichtiger weiter, doch sah ich Niemanden und hörte keine Stimmen. Nach und nach kam ich in Sicht der Rückseite des Boothauses – stand still und horchte – dann ging ich weiter, bis ich ganz dicht dahinter war und nothwendigerweise die Stimmen hören mußte, falls man darinnen sprach. Es herrschte tiefe Stille – nah und fern war kein Anzeichen eines lebenden Wesens weder zu hören noch zu sehen.

Nachdem ich erst auf der einen, dann auf der anderen Seite des Hauses entlang gegangen war, ohne irgend Etwas zu entdecken, wagte ich mich zur Vorderseite hinaus und schaute hinein. Es war leer.

Ich rief »Laura!« zuerst leise und dann immer lauter. Niemand antwortete, und Niemand kam. Soviel ich sehen oder hören konnte, war in der Nachbarschaft des See’s und der Anlagen kein menschliches Wesen außer mir.

Mein Herz fing heftig an zu pochen; doch setzte ich meine Nachsuchungen fort, zuerst im Boothause und dann auf dem Boden vor demselben, um ein Zeichen zu entdecken, das mir Sicherheit geben würde, ob Laura dort gewesen oder nicht. Ich fand Nichts im Boothause, das hierauf hingedeutet hätte, draußen aber im Sande entdeckte ich Fußspuren.

Ich unterschied die Fußspuren von zwei Personen – ziemlich große, wie die eines Mannes, und kleinere, von denen ich, als ich sie mit meinen eigenen Füßen maß, überzeugt war, daß sie von Laura’s Füßen herrührten. Der Boden war gerade vor dem Boothause von Vielen solchen unregelmäßigen Spuren gezeichnet. Dicht an der einen Wand, unter dem Schutze des überhängenden Daches, entdeckte ich ein kleines Loch im Sande, ein künstlich gemachtes, daran war nicht zu zweifeln. Ich bemerkte es blos und wandte mich dann ab, um sofort den Fußspuren, so weit ich konnte, nachzugehen.

Sie führten mich, von der linken Seite des Boothauses ausgehend, eine Strecke von etwa dreihundert Ellen am Rande der Bäume entlang, und dann verschwand ihre Spur im Sande. Ueberzeugt, daß Diejenigen, deren Fußspuren ich jetzt folgte, hier ins Holz hineingegangen sein mußten, betrat ich dasselbe ebenfalls. Zuerst konnte ich keinen Pfad entdecken, endlich aber fand ich einen solchen, schwach zwischen den Bäumen angedeutet, und ging dann ihm nach. Er führte mich eine Strecke in der Richtung dem Dorfe zu, bis ich an einer Stelle stand, wo er von einem andern Fußpfade durchschnitten wurde. Dicke Dornbüsche wuchsen zu beiden Seiten dieses letzteren Pfades; ich stand unschlüssig, welche Richtung ich zunächst einschlagen solle, als ich umherschauend an einem Zweige in dem Dornbusche ein Stückchen von den Fransen eines Damenshawls erblickte. Genauere Untersuchung der Fransen überzeugte mich, daß sie von einem Laura gehörigen Shawl abgerissen seien, worauf ich augenblicklich den Pfad einschlug. Derselbe brachte mich endlich zu meiner großen Erleichterung zur Hinterseite des Hauses. Ich sage »zu meiner großen Erleichterung«, weil ich daraus schloß, daß Laura aus irgend einem mir unbekannten Beweggrunde auf diesem Umwege nach Hause zurückgekehrt sei, ohne mich zu erwarten. Ich ging über den Hof und durch die Nebengebäude hinein. Die erste Person, die mir begegnete, als ich an der Gesindestube vorbeiging, war Mrs. Michelson, die Haushälterin.

 

»Wissen Sie zufällig, ob Lady Glyde von ihrem Spaziergange heimgekommen ist oder nicht?« frug ich sie.

»Mylady kam vor einer kleinen Weile mit Sir Percival nach Hause,« entgegnete die Haushälterin »Ich fürchte, Miß Halcombe, daß sich irgend etwas sehr Betrübendes zugetragen haben muß.«

Mir sank das Herz »Sie meinen doch keinen Unfall?« sagte ich mit matter Stimme.

»Nein, nein – Gott sei Dank, kein Unfall. Aber Mylady lief weinend auf ihr Zimmer, und Sir Percival hat mir befohlen, Fanny in einer Stunde aus dem Hause zu schicken.«

Fanny ist Laura’s Kammerjungfer, ein gutes, anhängliches Wesen, das bereits jahrelang in ihren Diensten gewesen, und ist sie zugleich die einzige Person im Hause, auf deren Treue und Ergebenheit wir uns verlassen können.

»Wo ist Fanny?« frug ich.

»In meinem Zimmer, Miß Halcombe. Das Mädchen ist ganz außer sich, und so sagte ich ihr, sie sollte sich setzen und sich zu fassen suchen.«

Ich ging nach Mrs. Michelson’s Zimmer und fand dort Fanny, die in einer Ecke saß und bitterlich weinte; ihr Reisekoffer stand neben ihr.

Sie konnte mir nicht die geringste Erklärung über die Ursache ihrer plötzlichen Verabschiedung geben. Sir Percival hatte befohlen, daß man ihr, anstatt ihr einen Monat vorher den Dienst zu kündigen, den Lohn eines Monats gebe und sie fortschicke. Es war ihr hierfür kein Grund angegeben worden, noch hatte man ihr irgendwie Tadel über ihr Betragen ausgesprochen. Man hatte ihr verboten, ihrer Herrin Vermittelung anzusprechen, ja sogar, sie einen Augenblick zu sehen, um Abschied von ihr zu nehmen Sie sollte ohne Erklärung oder Lebewohl fort, und zwar augenblicklich.

Nachdem ich den Schmerz des armen Mädchens durch ein paar freundliche Worte beschwichtigt, frug ich sie, wo sie zu übernachten beabsichtige. Sie entgegnete, daß sie die Nacht in dem kleinen Wirthshause im Dorfe zuzubringen gedenke, indem die Wirthin desselben eine achtbare Frau und der Dienerschaft von Blackwater Park wohl bekannt sei. Sie hoffe dann, am nächsten Morgen direct nach Cumberland zu ihren Verwandten zurückkehren zu können, ohne sich in London aufzuhalten, wo sie vollkommen unbekannt sei.

Es fiel mir sogleich ein, daß Fanny’s Abreise uns ein sicheres Mittel böte, um Nachrichten nach London und Limmeridge-House zu schicken, welches zu benutzen von der größten Wichtigkeit für uns sein konnte. Demzufolge sagte ich ihr, daß sie erwarten dürfe, im Verlaufe des Abends entweder von ihrer Herrin oder von mir zu hören, und daß sie sich darauf verlassen möge, daß wir Beide in ihrem Unglücke mit dem plötzlichen Dienstverluste Alles für sie thun würden, was nur in unserer Macht läge. Dann gab ich ihr die Hand und ging die Treppe hinauf.

Die Thür, welche nach Laura’s Zimmer führte, war die eines Vorzimmers, das seinerseits auf den Vorsaal führte, Als ich sie zu öffnen versuchte, wurde ich gewahr, daß sie von Innen Verriegelt war.

Ich klopfte, worauf die Thür von derselben schwerfälligen Hausmagd geöffnet wurde, deren Dummheit mich bereits an dem Tage, wo ich den verwundeten Hund gefunden, so unbeschreiblich geärgert hatte. Ich hatte seitdem erfahren, daß ihr Name Margarethe Porcher, und sie selbst die ungeschickteste, halsstarrigste und unordentlichste Dienerin im ganzen Hause sei.

Als sie die Thür öffnete, trat sie sogleich auf die Schwelle und stand, mich in dummem Schweigen angrinsend, da.

»Wozu stehst Du da?« sagte ich. »Siehst Du nicht, daß ich hinein will?«

»Ja, aber Sie dürfen nicht herein,« war die Antwort, von einem noch breiteren Grinsen begleitet.

»Wie kannst Du Dich unterstehen, mir eine solche Antwort zu geben? Geh augenblicklich auf die Seite.«

Sie streckte zu beiden Seiten eine große rothe Hand aus, um mir den Weg zu sperren, und nickte mir einfältig zu.

»Befehl vom Herrn,« sagte sie und nickte abermals.

Es bedurfte meiner ganzen Selbstbeherrschung, um davon abzulassen, den Gegenstand mit ihr zu bestreiten und mich zu erinnern, daß meine nächsten Worte an ihren Herrn gerichtet sein müßten. Ich wandte mich von ihr ab und ging schnell die Treppe hinunter, um ihn zu suchen. Mein Entschluß, mich durch keine der Beleidigungen aufbringen zu lassen, die Sir Percival mir bieten möge, war jetzt – ich gestehe es zu meiner Schande – so vollständig vergessen, als ob ich ihn nie gefaßt gehabt. Es war mir eine Wohlthat, ja, nach Allem, was ich in diesem Hause bereits erduldet und unterdrückt hatte, war es mir eine förmliche Wohlthat, zu fühlen, wie zornig ich war.

Das Gesellschaftszimmer wie das Frühstückszimmer waren beide leer. Ich ging in die Bibliothek, und hier fand ich Sir Percival, sowie den Grafen und die Gräfin Fosco. Alle Drei standen dicht neben einander und Sir Percival hielt ein kleines Papierzettelchen in der Hand. Als ich die Thür öffnete, hörte ich den Grafen sagen: »Nein – tausendmal Nein!«

Ich ging gerade auf Percival zu und sah ihm fest in’s Gesicht.

»Muß ich annehmen, Sir Percival, daß das Zimmer Ihrer Gemahlin ihr Gefängniß, und Ihre Hausmagd ihre Gefängnißwärterin ist?« frug ich.

»Ja; allerdings dürfen Sie das annehmen,« entgegnete er. »Nehmen Sie sich in Acht, daß ich meiner Gefangenwärterin nicht doppelte Pflichten auferlege, indem ich Ihr Zimmer ebenfalls zum Gefängnisse mache.«

»Nehmen Sie sich in Acht in der Behandlung Ihrer Frau, ehe Sie sich unterstehen, mir zu drohen,« brach ich in der Hitze meines Zornes los. »England hat Gesetze, um Frauen gegen Grausamkeit und Beleidigungen zu schützen. Falls Sie es wagen, auch nur ein Haar auf Laura’s Haupte zu krümmen, oder mir meine Freiheit zu nehmen, so werde ich, was auch immer danach kommen möge, jene Gesetze zu unserem Schutze anrufen.«

Anstatt mir zu antworten, wandte er sich zum Grafen.

»Was sagte ich Dir?« frug er. »Was sagst Du nun?«

»Was ich vorhin sagte,« erwiderte der Graf, »Nein!«

Ungeachtet meines heftigen Zornes fühlte ich seine kalten, ruhigen, grauen Augen auf meinem Gesichte ruhen. Sie wandten sich von mir, sobald er gesprochen hatte, und blickten bedeutungsvoll seine Frau an. Die Gräfin trat dicht an meine Seite und redete Sir Percival an, ehe weder er noch ich das Wort wieder ergreifen konnten.

»Schenken Sie mir gütigst einen Augenblick Ihre Aufmerksamkeit,« sagte sie mit ihrer klaren, eisigen Stimme »Ich habe Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu danken, Sir Percival, und von jetzt an darauf zu verzichten. Ich kann nicht in einem Hause bleiben, in welchem man Damen behandelt, wie Ihre Gemahlin und Miß Halcombe heute behandelt worden sind.«

Sir Percival that einen Schritt rückwärts und starrte sie in tiefem Schweigen an. Die Erklärung, welche er soeben gehört hatte, und die, wie er wußte – ebenso gut wie ich – die Gräfin nimmer ohne ihres Gemahls Erlaubniß gemacht haben würde, schien ihm fast zu versteinern. Der Graf stand daneben und schaute mit wahrhaft begeisterter Bewunderung auf seine Frau.

»Sie ist sublim!« sagte er vor sich hin. Dann trat er zu ihr hin und zog ihre Hand durch seinen Arm. »Ich stehe Dir zu Diensten, Eleanor,« fuhr er mit einer ruhigen Würde fort, die ich noch nie an ihm wahrgenommen hatte, »und stehe Miß Halcombe zu Diensten, falls sie mir die Ehre erzeigen will, den Beistand anzunehmen, den ich ihr anzubieten im Stande bin.«