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Die Blinde

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Siebzehntes Kapitel.
Der Ausspruch des Arztes

Noch bevor wir ein weiteres Wort hatten wechseln können, betrat Lucilla das Zimmer. Wir sahen einander an. Hätten wir reden können, wir würden in jenem Augenblick, glaube ich, beide gesagt haben:

»Gott sei Dank, daß sie blind ist!«

»Habt Ihr mich Alle vergessen?« fragte sie. »Oscar, wo bist Du? Was sagt der Doctor?«

Sie trat näher heran und würde über den am Boden sich windenden Oscar gestolpert sein, wenn ich nicht meine Hand auf ihren Arm gelegt und sie zurück gehalten hätte.

Plötzlich ergriff sie meine Hand mit der ihrigen. »Sie zittern! Warum zittern Sie?« fragte sie. Ihr feiner Tastsinn ließ sich nicht täuschen; vergebens leugnete ich, daß irgend etwas vorgefallen sei, meine Hand hatte mich verrathen. »Hier ist etwas nicht in Ordnung!« rief sie aus; »Oscar hat mir nicht geantwortet.«

Der Doctor kam mir zu Hilfe

»Es ist durchaus nichts Beunruhigendes,« sagte er. »Herr Dubourg ist nicht ganz wohl.«

Sie wandte sich mit einem plötzlichen Zornesausbruch gegen den Doctor.

»Sie täuschen mich,« rief sie; »ihm ist ein ernster Unfall begegnet; sagen Sie mir die Wahrheit! O, es ist schmachvoll, es ist herzlos von Ihnen beiden, ein unglückliches blindes Geschöpf wie mich zu betrügen!«

Während der Doctor noch zauderte, sagte ich ihr die Wahrheit.

»Wo ist er?« fragte sie, indem sie mich an beiden Schultern packte und in ihrer leidenschaftlichen Aufregung schüttelte. Ich flehete sie an, ein wenig zu warten; ich versuchte es, sie zum Niedersetzen auf einen Stuhl zu bewegen; sie aber schob mich mit einer verächtlichen Geberde bei Seite und knieete mit vorgestreckten Händen auf den Fußboden nieder. »Ich werde ihn finden,« murmelte sie, »ich werde ihn Euch zum Trotz finden.« Sie fing an über den Fußboden hinzukriechen und mit den Händen vor sich herzutasten.

Es war ein schrecklicher Anblick. Ich ging ihr nach und richtete sie mit Gewalt wieder auf.

»Ringen Sie nicht mit ihr,« sagte der Doctor. »Lassen Sie sie nur herkommen. Er ist jetzt ruhig.«

Ich sah Oscar an; das Schlimmste war vorüber; er war erschöpft und ganz ruhig. Der Stimme des Doctors folgend, gelangte Lucilla an die Stelle, wo Oscar lag. Sie setzte sich neben Oscar auf den Boden und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Seine Berührung übte eine ähnliche Wirkung auf sie, wie sie ein Sehender, dem man längere Zeit die Augen verbunden hätte, in dem Augenblick empfinden würde, wo man ihm die Binde abnähme. Befreiung von angstvoller Ungewißheit durchströmte ihr ganzes Wesen, sie war wieder sie selbst, die sanfte Lucilla.

»Es thut mir leid, daß ich mich außer Fassung habe bringen lassen,« sagte sie mit der einfachen Natürlichkeit eines Kindes; »aber Sie wissen nicht, wie hart es ist, getäuscht zu werden, wenn man blind ist.« Bei diesen Worten beugte sie sich über Oscar hin und fuhr ihm mit ihrem Schnupftuch leicht über die Stirn. »Doctor,« fragte sie, »wird sich dieser Zufall wieder holen?«

»Das hoffe ich nicht «

»Sind Sie Ihrer Sache gewiß?«

»Das kann ich nicht behaupten.«

»Was hat den Zufall herbeigeführt?«

»Ich fürchte per Schlag auf den Kopf.«

Sie fragte nichts weiter; der Ausdruck der Spannung auf ihrem Gesichte machte plötzlich der Ruhe des Nachdenkens Platz. Es schien etwas ihre Gedanken zu beschäftigen nach der letzten Antwort des Doctors, das sie ganz in sich versenkte.

Als Oscar wieder zu sich kam, überließ Lucilla es mir, seine ersten sehr natürlichen Fragen zu beantworten. Als er sich dann direct an sie wandte, antwortete sie ihm freundlich, aber kurz; es schien in jenem Augenblick etwas in ihr vorzugehen, was sie selbst vor ihm verschlossen machte. Als der Doctor vorschlug, Oscar nach Browndown zurückzubringen, bestand Lucilla nicht, wie ich vermuthet hatte, darauf, ihn zu begleiten. Sie nahm zärtlich von ihm Abschied, aber sie ließ ihn gehen. Während er, noch sehnsüchtig nach ihr zurückblickend, an der Thür zögerte, ging sie langsam nach dem entgegengesetzten Ende des Zimmers, ganz in ihre eigene dunkle Welt versenkt, in ihren Gedanken gegen ihn wie gegen uns abgeschlossen. Der Doctors versuchte es, sie aus ihrer Träumerei aufzurütteln.

»Sie dürfen die Sache nicht zu ernst nehmen,« sagte er, indem er an das Fenster, an welchem sie stand, herantrat und die Stimme so sinken ließ, daß Oscar ihn nicht hören konnte. Er hat Ihnen selbst gesagt, daß er sich jetzt wohler und leichter fühlt, als vor dem Zufall. Dieser hat ihm keinen Schaden gethan, sondern ihm nur Erleichterung gebracht. Es ist keine Gefahr, ich versichere Sie auf meine Ehre, Sie haben nichts zu fürchten.«

»Können Sie mich auf Ihre Ehre auch noch einer anderen Sache versichern?« fragte sie, indem sie jetzt auch ihrerseits die Stimme sinken ließ. »Können Sie mir aufrichtig versichern, daß diesem ersten Zufall nicht ähnliche folgen werden?«

Der Doctor parierte diese Frage.

»Ich will,« antwortete er, »ehe ich mich darüber entschieden ausspreche, mit einem anderen Arzte consultiren. Bei meinem nächsten Besuch werde ich einen Arzt aus Brighton mitbringen.«

Oscar der bis jetzt, von der Veränderung in Lucilla’s Wesen betroffen, gewartet hatte, öffnete die Thür; der Doctor folgte ihm und sie verließen uns.

Lucilla setzte sich an’s Fenster, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte ihre Stirn in ihre Hände. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. Im bitterem Ton murmelte sie vor sich hin das eine Wort: »Lebewohl!« .

Ich näherte mich ihr, denn ich fand es für nothwendig, sie daran zu erinnern, daß ich im Zimmer sei.

»Wem rufen Sie ein Lebewohl zu?« fragte ich, indem ich mich neben sie setzte.

»Seinem und meinem Glück,« antwortete sie, ohne ihr Gesicht von ihren Händen zu erheben. »Jetzt kommen für Oscar und für mich die trüben Tage.«

»Warum denken Sie das? Sie haben doch gehört, was der Doctor gesagt hat.«

»Der Doctor weiß nicht, was ich weiß.«

»Was wissen Sie.«

Sie hielt einen Augenblick inne und sagte dann, indem sie plötzlich ihr Stillschweigen brach: »Glauben Sie an ein Verhängniß?«

»Ich glaube an nichts, was die Menschen ermuntert, an sich selbst zu verzweifeln,« erwiderte ich.

Sie fuhr fort, ohne aus meine Worte zu achten:

»Was hat den Zufall, der ihn vorhin hier überkam, veranlaßt? Der Schlag, der ihn aus den Kopf getroffen hat, und diesen Schlag erhielt er bei dem Versuch, das, was ihm und mir gehörte, zu vertheidigen. Womit war er an jenem Tage beschäftigt gewesen, als die Diebe in sein Haus eindrangen? Er hatte an dem Kasten gearbeitet; der für mich bestimmt war. Sehen Sie nicht, wie die Ereignisse sich zu einem Ringe verketten? Ich glaube, der Anfall wird bald zu noch anderen Ereignissen führen; es wird noch etwas Anderes kommen, sein und mein Leben zu trüben. Für uns wird es keinen Hochzeitstag geben. Die Hindernisse thürmen sich vor uns auf. Das nächste Unglück steht uns nahe bevor, Sie werden es erleben!« Bei diesen Worten fuhr sie schaudernd zusammen und setzte sich, von mir zurückweichend, kauernd in die Fensternische.

Es war nutzlos, mit ihr zu streiten und schlimmer als nutzlos, dazusitzen und sie zu ermuntern, noch weiter zu reden. Ich stand auf.

»Es gebt eine Sache, an die ich fest glaube,« sagte ich heiter. »Ich glaube an die frische Luft in den Hügeln. Kommen Sie lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen!«

Sie drückte sich noch fester in ihre Ecke und schüttelte den Kopf .

»Lassen Sie mich,« brach sie ungeduldig aus, »lassen Sie mich allein!« Kaum hatte sie das gesagt, als sie es auch schon bereute; sie stand auf, umschlang meinen Hals mit ihren Armen und küßte mich. »Ich wollte nicht so unfreundlich reden,« sagte das sanfte zärtliche Mädchen, »Schwester, mein Herz ist schwer! Noch nie ist mein künftiges Leben meinen blinden Augen so dunkel erschienen wie jetzt.« Eine Thräne entrann diesen armen blinden Augen und fiel auf meine Wange. Plötzlich wandte sie ihr Gesicht ab. »Verzeihen Sie mir,« murmelte sie, »und lassen Sie mich gehen.« Noch ehe ich ihr antworten konnte, war sie fortgegangen, um sich in ihr Zimmer zu verschließen. Das liebliche Mädchen! Man konnte nur das tiefste Mitleid mit ihr haben, man mußte sie lieben!

Ich ging allein spazieren; sie hatte mich mit ihren abergläubischen Ahnungen einer trüben Zukunft nicht angesteckt, aber ein trauriges Wort hatte sie gesagt, welchem ich zustimmen mußte. Nach dem, was ich in ihrem Zimmer mit angesehen hatte, schien mir der Hochzeitstag in der That in eine weitere Ferne gerückt als je zuvor.

Achtzehntes Kapitel.
Traurige Familienverhältnisse

Keine fünf Tage waren vergangen, als sich schon Lucilla’s traurige Besorgnisse in Betreff Oscar’s bestätigten. Er hatte einen zweiten epileptischen Anfall.

Die versprochene Consultation mit dem Brightoner Arzte fand statt. Der neue Arzt machte uns wenig Hoffnung. Die rasche Aufeinanderfolge der beiden Anfälle war nach seiner Ansicht ein schlimmes Zeichen. Er gab allgemeine Verordnungen für Oscar’s Behandlung und überließ es seiner eigenen Entscheidung, ob er es mit einer Ortsveränderung versuchen wolle. Keine solche Veränderung, schien der Arzt zu meinen, würde einen unmittelbaren Einfluß auf die epileptische Disposition üben. Der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten würde sich in Folge dessen vielleicht heben, das sei aber auch Alles. Was die Heirath an langte, so erklärte er ohne Zaudern, daß wir daran fürs Erste nicht denken dürften.

Lucilla nahm den Bericht über das Ergebniß der ärztlichen Consultation mit einer versteckten Resignation auf, die mich tief betrübte. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen sagte, als er seinen ersten Anfall hatte,« rief sie. »Unsere Sommerzeit ist vorüber, unser Winter ist gekommen.

Sie sagte das wie jemand, der einem kommenden Ereignisse hoffnungslos entgegensieht, der fest überzeugt ist, daß ihm ein Unglück bevorsteht. Erst als Oscar eintrat, ermannte sie sich. Er war höchst begreiflicher Weise in einer sehr gedrückten Stimmung; alle seine Aussichten waren ihm vorläufig zerstört. Lucilla that mit Erfolg ihr Bestes, ihn aufzuheitern; meinerseits versuchte ich es vergebens, ihn zu überreden, Browndown zu verlassen und sich an einem lustigeren Orte zu zerstreuen. Er hatte eine ängstliche Scheu vor neuen Gesichtern und neuen Umgebungen. In der Gesellschaft dieser beiden trübseligem schwer bedrückten jungen Menschen fing selbst die mir angeborene Heiterkeit zu schwinden an. Wenn wir alle drei inmitten einer Wildniß in die Tiefe eines ausgetrockneten Brunnens gerathen wären, wir hätten unsere Aussichten kaum mit größerer Muthlosigkeit ansehen können, als wir es jetzt thaten. Zum Glück waren Oscar wie Lucilla leidenschaftliche Freunde der Musik. Wir nahmen in jenen Tagen des Unglück Zuflucht zum Clavier als unsern besten Trost. Lucilla und ich spielten abwechselnd und Oscar hörte uns zu; wir musizierten viel, waren aber übrigens einsilbig und verstimmt.

 

Der Ehrwürdige Finch fand sich mit seinem Antheil an unseren jetzigen Prüfungen durch möglichst laute Reden ab. Wer den kleinen Pfarrer in jenen Tagen hörte, hätte glauben sollen, niemand empfinde unser häusliches Unglück so schmerzlich wie er. Es war der Mühe werth, ihn am Tage der ärztlichen Consultation zu sehen, wie er in dem Wohnzimmer seiner Frau auf- und abstolzirte und seine, aus seiner Frau und mir bestehende Zuhörerschaft haranguirte. Frau Finch saß in der einen Ecke im Unterrock und Shawl mit dem Baby und Roman und ich in der andern Ecke, um einer an mich gerichteten Anfrage gemäß mit dem Pfarrer zu berathen, mit andern Worten, um es mit, anzuhören, wie Herr Finch erklärte, daß er derjenige sei, welchen die über unserm Hause hängende Wolke des Unglücks am tiefsten überschatte.

»Ich verzweifle, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, ich verzweifle daran, Ihnen einen Begriff davon zu geben, wie tief mich dieser traurige Zustand der Dinge ergreift. Sie sind sehr gut gegen uns gewesen; Sie haben uns die Theilnahme einer wahren Freundin bewiesen. Aber Sie können sich unmöglich eine Vorstellung davon machen, wie schwer dieser Schlag mich betroffen hat. Ich bin zerschmettert, Madame Pratolungo.« Das sagte er in meiner Ecke zu mir; dann wandte er sich an seine Frau in ihrer Ecke und wiederholte: »Liebe Frau, ich bin zerschmettert. Es giebt keinen anderen Ausdruck, um meinen Zustand erschöpfend zu bezeichnen – zerschmettert.« Dann stellte er sich in die Mitte der Stube und sah abwechselnd mich und seine Frau erwartungsvoll an. Sein Gesicht und sein ganzes Benehmen sagten deutlich: »Wenn diese beiden Frauen jetzt in Ohnmacht fallen, so werde ich das, nach dem was ich ihnen eben mitgetheilt habe, nur sehr angemessen und natürlich finden.« Ich wartete ab, was die Frau vom Hause thun würde; Frau Finch aber sank nicht mit dem Baby und dem Roman ohnmächtig zu Boden. Dadurch ermuthigt, erlaubte auch ich mir, ruhig sitzen zu bleiben. Ich machte ein möglichst klägliches Gesicht; Frau Finch blickte ehrfurchtsvoll zu ihrem Gatten auf, als ob sie ihn für dass edelste Wesen halte und hielt schweigend das Schnupftuch vor die Augen. Das befriedigte Herrn Finch und er fuhr fort: »Meine Gesundheit hat gelitten, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, meine Gesundheit hat gelitten. Seit diesem traurigen Vorfall ist meine Verdauung gestört, das Gleichgewicht meiner Kräfte geschwunden, die Regelmäßigkeit meiner Functionen gebrochen. Ich bin lediglich in Folge dieser traurigen Angelegenheit von Anfällen eines krank haften Appetits geplagt. Ich muß zu ganz ungewöhnlichen Zeiten meine Mahlzeiten nehmen; mein Frühstück mitten in der Nacht, Mittagessen um vier Uhr Morgens; ich muß auch jetzt etwas zu mir nehmen.« Herr Finch hielt entsetzt über diese Entdeckung plötzlich inne und versank mit finster zusammengezogenen Brauen, indem er die Hand krampfhaft gegen die unteren Knöpfe seiner verschossenen Weste preßte, in tiefes Nachdenken Frau Finchs wasserblaue Augen blickten mit einem feucht melancholischen Ausdruck ehrlicher Trauer zu mir hinüber. Der Pfarrer schien plötzlich durch die Berathung mit seinem Magen erleuchtet zu sein, stolzierte auf die Thür zu, riß sie weit auf und rief mit einer Donnerstimme die Treppe hinab: »Koche mir ein weiches Ei!« Er ging wieder in die Mitte des Zimmers, hielt mit einem scharf auf mich gerichteten strengen Blick eine zweite Berathung mit seinem Magen, stolzierte in wüthender Eile wieder nach der Thür und brüllte eine Contreordre die Küchentreppe hinab: »Kein Ei! Gieb mir einen geräucherten Häring!«

Er kam zum zweiten Male ins Zimmer zurück; dieses Mal schloß er die Augen und legte die Hand wie zerstreut aus den Kopf. Wieder wandte er sich abwechselnd an Frau Finch und an mich. »Sieh doch selbst, Frau, sehen Sie nur, Madame Pratolungo, in welchem Zustande ich mich befinde. Es ist wahrhaft bejammernswerth; bei den geringfügigsten Dingen kann ich zu keinem Entschlusse kommen. Erst glaubte ich, ich müsse ein weiches Ei essen, dann meinte ich, mir würde ein geräucherter Häring gut thun und jetzt weiß ich gar nicht mehr was ich will, auf mein Ehrenwort als Geistlicher und Gentleman, ich weiß nicht, was ich will. Ein krankhafter Appetit während des ganzen; Tages, eine krankhafte Schlaflosigkeit während der ganzen Nacht. Welcher Zustand! Ich habe keine Ruhe, ich störe meine Frau Nachts, ich störe Dich Nachts, Frau. Wie viele Male muß ich mich, seit dieses Unglück uns betroffen hat, im Bett umherwälzen, bevor ich einschlafe? Acht Mal? Bist Du Deiner Sache gewiß? Uebertreibe nicht! Bist Du gewiß, daß Du die Male gezählt hast? Ach, Du gute Seele! Ich kann mich nicht erinnern, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so totale Erschütterung meines ganzen Organismus er fahren zu haben wie jetzt. In einem annähernd ähnlichen Zustande befand ich mich vor einigen Jahren bei der fünft letzten Entbindung meiner Frau. War es nicht bei Deiner fünft letzten Entbindung, Frau, oder war es bei Deiner sechst letzten? Deiner fünft letzten? Bist Du Deiner Sache gewiß? Leitest Du nicht unsere Freundin irre? Du hast Recht, Du gute Seele! Damals hatte mein Zustand seinen Grund in pecuniären Verlegenheiten, Madame Pratolungo. Diese pecuniären Verlegenheiten überwand ich damals. Wie soll ich aber mein jetziges Mißgeschick überwinden? Mein Plan für Oscar und Lucilla war vollkommen fertig. Die künftige Gestaltung meiner Verhältnisse zu meinen verheiratheten Kindern lag schon in der angenehmsten Klarheit vor mir; ich sah meine eigene Zukunft, ich sah die Zukunft meiner Familie vor mir. Und was sehe ich jetzt? Alles wie mit einem Schlage vernichtet. Unerforschliche Vorsehung!« Er hielt inne und erhob Augen und Hände fromm zur Zimmerdecke.

Die Köchin erschien mit dem geräucherten Häring.

»Unerforschliche Vorsehung,« wiederholte Herr Finch in einem etwas leisern Tone. »Iß den Häring, ehe er kalt wird, lieber Mann,« sagte Frau Finch.

Der Pfarrer hielt wieder inne. Seine ruhelose Zunge trieb ihn, mit seinen Reden fortzufahren; sein undisziplinierter Magen verlangte nach dem Häring. Die Köchin nahm den Deckel von der Schüssel. Herrn Finchs Nase schlug sich sofort auf die Seite seines Magens. Er ließ es bei der »unerforschlichen Vorsehung« bewenden und« schüttete Pfeffer auf seinen Häring.

Nachdem ich so berichtet habe, wie der Pfarrer angesichts des Unglücks, welches die Familie betroffen hatte, sprach, habe ich mein Bild nur noch durch die Angabe dessen, was der Pfarrer demnächst that, zu vervollständigen. Er borgte zweihundert Pfund von Oscar und hörte alsbald auf, sich mitten am Tage geräucherte Häringe zu bestellen und Frau Finch Nachts im Schlafe zu stören.

Die trüben Herbsttage gingen zu Ende und die langen Winterabende nahmen ihren Anfang. Unsere Aussichten für die Zukunft gestalteten sich keineswegs freundlicher. Vergebens boten die Aerzte alles auf, einen Zustand der Besserung Oscar’s herbeizuführen. Die schrecklichen Zufälle wiederholten sich wieder und wieder. Die Tage vergingen und unser trübes Leben nahm seinen einförmigen Fortgang. Ich war geneigt, mit Lucilla anzunehmen, daß irgend eine Krisis nahe hervorstehen müsse. »So kann es nicht fortgehen,« pflegte ich bei mir zu denken, namentlich wenn ich sehr hungrig war. »Bevor das Jahr zu Ende geht, muß sich etwas ereignen.«

Der Monat December kam und es ereignete sich endlich etwas. Mit den traurigen Verhältnissen in der Familie des Pfarrers trafen gleich traurige Verhältnisse in meiner eigenen Familie zusammen. Ich erhielt einen Brief von einer meiner jüngeren Schwestern aus Paris. Derselbe enthielt beunruhigende Nachrichten über eine mir sehr theure Person, deren ich bereits im Beginn dieser Erzählung gedacht habe, über meinen lieben Papa. War der ehrwürdige Urheber meiner Tage gefährlich krank? Ach nein! Das nicht gerade, aber ihn hatte das nächst einer tödtlichen Krankheit Schlimmste betroffen; er war sterblich verliebt in ein übelberufenes junges Frauenzimmer und das in einem Alter von fünfundsiebzig Jahren! Was soll ich von meinem alten Vater sagen; er ist eine urkräftige Natur. Papa hat ein jugendfrisches, nie alterndes Herz.

Ich bedaure, den Leser mit meinen Familienangelegenheiten behelligen zu müssen; aber dieselben verknüpfen sich, wie man sehen wird, allmählig auf das Engste mit den Angelegenheiten Oscar’s und Lucilla’s. Ich sehe mich unglücklicher Weise dazu verurtheilt, diese Geschichte nicht erzählen zu können, ohne früher oder später die einzige, freilich liebenswürdige Schwäche des heitersten, angenehmsten und bestconservirten Mannes seiner Zeit zu berühren.

Ach, ich muß jetzt auf Eierschalen gehen, das weiß ich wohl! Das englische Gespenst mit Namen »Schicklichkeit« schleicht sich auf meinem Schreibtisch an mich heran und flüstert mir wüthend ins Ohr: »Madame Pratolungo, wenn Sie die Wangen der Unschuld erröthen machen, so ist es von dem Augenblick an mit Ihnen und Ihrer Geschichte vorbei.« O, ihr leicht entzündlichen Wangen der Unschuld, übet dieses eine Mal Nachsicht und ich will versuchen, ob ich die Sache nicht erzählen kann, ohne bei Euch Anstoß zu erregen! Darf ich den guten Papa als einen Priester im Tempel der Venus, welcher unaufhörlich Weihrauch auf dem Altar der Liebe verbrennt, bezeichnen? Nein, »Tempel der Venus« ist heidnisch und »Altar der Liebe« ist kein schicklicher Ausdruck; sehen wir daher von diesen Bezeichnungen ab. Nur soviel will ich von meinem ewig jungen Vater sagen, daß sein Leben von Jugend auf eine einzige ununterbrochen Huldigung der Reize des schwächeren Geschlechts gewesen war und daß meine Schwestern und ich, die wir ja selbst diesem Geschlechte angehörten, es nicht über uns gewinnen konnten, ihn deshalb zu verlassen. Er war ein so schöner, herzlicher, liebenswürdiger Mann, der nur einen Fehler hatte, und dieser eine Fehler war ein Compliment für die Frauen, welche ihn natürlich wieder anbeteten! Wir fanden uns in unser Schicksal vier Jahre nach dem Tode unserer Mutter gewöhnten wir uns darin, in fortwährender Furcht von der Möglichkeit zu leben, daß er eine von den hunderten gewissenloser Dirnen, die sich seiner bemächtigt hatten, heirathen und, was noch schlimmer gewesen wäre, sich wegen dieser Weiber mit Männern duellieren möchte, die seine Enkel hätten sein können. Papa war so empfindlich und so tapfer! Unendlich oft war an mich als die Tochter, welche den stärksten Einfluß auf ihn übte, die Aufforderung ergangen, mich ins Mittel zu legen, und ebenso oft war es mir gelungen, ihn auf die eine oder auf die andere Weise aus den Banden, in die er sich hatte schlagen lassen, zu erlösen; immer aber hatte die Sache auf dieselbe traurige Weise mit einer Entschädigung durch Geld geendigt, wobei ich über das betreffende Frauenzimmer, das schamlos genug war, eine Schädigung einzugestehen, mein Verdict dahin abgebe: »Es geschieht ihr recht!«

Der vorliegende Fall war eine Wiederholung aller früheren Fälle. Meine Schwestern hatten vergebens Alles aufgeboten, der Sache Einhalt zu thun; mir blieb nichts übrig, als mich selbst auf den Schauplatz zu begeben, um meine Thätigkeit vielleicht damit zu beginnen, daß ich das betreffende Frauenzimmer mit Ohrfeigen tractirte, jedenfalls aber damit zu endigen, daß ich dem Weibe die Taschen füllte.

Meine Entfernung in diesem Augenblicke war für meine blinde Lucilla mehr als eine Verdrießlichkeit, sie verursachte ihr wahren Kummer. Am Morgen meiner Abreise umschlang sie mich mit einer leidenschaftlichen Zärtlichkeit, als ob sie entschlossen sei, mich nicht von sich zu lassen.

»Was soll ich ohne Sie anfangen?« sagte sie, »es ist hart für mich, in diesen traurigen Tagen den Trost ihrer Stimme entbehren zu sollen. Ich werde mich jedes Haltes beraubt fühlen, wenn Sie nicht mehr bei mir sind. Wie lange werden Sie fortbleiben?«

 

»Ich brauche einen Tag zur Reise nach Paris,« antwortete ich, »einen Tag zur Rückreise, macht zwei, fünf Tage, wenn es in dieser Zeit möglich ist, die Dirne niederzuschmettern und Papa zu erlösen, macht sieben Tage. Sagen wir also, wenn es irgend möglich ist, nicht länger als eine Woche.«

»Sie müssen, gleichviel was geschehen möge, vor Neujahr zurück sein.« »Und warum?«

»Ich muß meinen jährlichen Besuch bei meiner Tante machen. Ich habe ihn zweimal aufgeschoben und muß daher durchaus vor Jahresschluß nach London gehen, um dort meine vorgeschriebenen drei Monate in Fräulein Batchford’s Hause zu verlieben. Ich hatte gehofft, vor Jahresschluß Oscar’s Frau zu sein,« sie hielt einen Augenblick inne, um die Festigkeit ihrer Stimme wie der zu gewinnen. »Das ist jetzt Alles vorbei, wir müssen uns trennen. Wenn ich aber Sie nicht hier lassen kann, um ihn während meiner Abwesenheit zu trösten und für ihn zu sorgen, so bleibe ich, mag daraus entstehen was da will, in Dimchurch.«

Wenn sie zur festgesetzten Zeit in Dimchurch blieb, ohne verheirathet zu sein, so bedeutete das in Gemäßheit der testamentarischen Bestimmungen ihres Onkels soviel wie den Verlust ihres Vermögens. Wenn der Ehrwürdige Finch sie gehört hätte, so würde er nicht einmal haben ausrufen können: »Unerforschliche Vorsehung,« er würde vor Schreck auf der Stelle das Bewußtsein verloren haben.

»Fürchten Sie nichts,« Lucilla,« antwortete ich, »ich werde vor der für Ihre Abreise festgesetzten Zeit wieder hier sein. Ueberdies geht es mit Oscar bis dahin vielleicht besser; er wird vielleicht im Stande sein, Ihnen nach London zu folgen und Sie bei Ihrer Tante zu besuchen.«

Sie schüttelte den Kopf mit einem so tief traurigen Ausdruck des Zweifels, daß ich mich der Thränen nicht erwehren konnte. Ich küßte sie zum letzten Male und eilte davon.

Mein Weg führte mich zuerst nach Newhaven und dann über den Kanal nach Dieppe. Ich hatte, glaube ich, selbst nicht gewußt, wie theuer mir Lucilla geworden war, bis ich bei der ersten Wendung des Weges nach Brigthon das Pfarrhaus aus dem Gesichte verlor. Meine angeborene Festigkeit verließ mich. Mich marterte eine böse Ahnung, daß sich während meiner Abwesenheit ein großes Unglück ereignen werde. Ich er staunte über mich selber, mich, die Wittwe des Spartaners Pratolungo, als ich wie eine gewöhnliche Frau in Thränen ausbrach! Früher oder später müssen wir empfindsamen Seelen das Vorrecht der Liebe Alle mit einem Herzeleid bezahlen. Gleichviel, Herzeleid oder nicht, man muß, so lange man in dieser Welt ist, etwas lieben. Ich liebte Lucilla. Vor Lucilla liebte ich meinen Pratolungo; vor Pratolungo – nun ich denke, man wird es mir erlassen, noch weiter zurückzugehen.