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Detektiv-Geschichten

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VII

Es ist mir nicht möglich, zu beschreiben, was ich fühlte, als Priscillas Name mir wie ein schriftliches Schuldbekenntnis entgegentrat. Ich kann nicht sagen, wie lange es währte, bis ich mich einigermaßen wieder erholte. Nur dessen kann ich mich deutlich erinnern, dass ich den armen Graveur sehr erschreckte. Mein erstes Verlangen war, das Manuskript der Inschrift an mich zu nehmen. Ich sagte ihm, dass ich Polizeibeamter sei, und forderte ihn auf, mir in der Entdeckung eines Verbrechens behilflich zu sein. Ich bot ihm sogar Geld an. Er wich vor mir zurück. »Sie sollen es umsonst haben,« sagte er, »wenn Sie nur fortgehen und niemals wieder hierher zurückkommen.« Er versuchte, das Manuskript aus dem Blatte herauszuschneiden, aber seine zitternden Hände waren hierzu nicht imstande. Ich schnitt es selbst heraus und versuchte, ihm zu danken. Er wollte mich aber nicht anhören. »Gehen Sie fort!« sagte er, »Ihr Blick gefällt mir nicht.«

Es mag hier erwähnt werden, dass ich mich von Priscillas Schuld nicht so, wie ich tat, hätte überzeugt fühlen sollen, ehe ich mir nicht weitere Beweismittel gegen sie verschafft hatte. Denn das Messer konnte ihr gestohlen worden sein, vorausgesetzt, dass sie die Person war, die es der Hand des Graveurs entrissen hatte, und so konnte es nachher von dem Diebe dazu benutzt worden sein, den Mord zu begehen. Das ist alles richtig. Aber ich war nicht einen Augenblick mehr über ihre Schuld im Zweifel, als ich die entsetzliche Zeile in der Mappe des Graveurs gelesen hatte.

Ich ging ohne irgendeinen bestimmten Plan nach der Bahn zurück. Der Zug, mit welchem ich Priscilla hatte folgen wollen, hatte Waterbank bereits verlassen. Der nächste Zug, welcher ankam, ging nach London. Ich nahm Platz in demselben, ohne dass noch irgend ein Plan zur Reife gekommen war. Zu Charing Cross traf mich einer meiner Freunde und rief: »Sie sehen erbärmlich aus. Kommen Sie mit und trinken Sie etwas!« Ich ging mit ihm. Einen Liqueur bedurfte ich wirklich; er regte mich an und klärte den Kopf. Mein Freund ging dann seinen Weg, und ich tat es ebenso. Kurze Zeit darauf hatte ich mich darüber entschieden, was ich tun wollte.

Zunächst entschloss ich mich, meine Stellung im Polizeidienste aufzugeben aus einem Beweggrunde, der sich sogleich zeigen wird. Sodann nahm ich eine Wohnung in einem Gasthause. Denn ohne Zweifel würde Priscilla nach London zurückkehren, in meine Wohnung kommen und ausfindig machen, warum ich der getroffenen Verabredung nicht nachgekommen sei. Die einzige Frau, die ich zärtlich geliebt hatte, dem Gerichte zu überliefern, war eine zu grausame Pflicht für mich Armen. Ich zog daher vor, den Polizeidienst zu verlassen. Auf der anderen Seite hatte ich eine entsetzliche Furcht, dass ich nunmehr zum Mörder an ihr werden möchte, falls wir uns begegnen sollten, ehe die Zeit mich gelehrt hatte, wieder die Herrschaft über mich zu gewinnen. Die Elende hatte nicht allein mich beinahe verleitet, sie zu heiraten, sondern auch das unschuldige Hausmädchen anzuklagen, dass sie bei dem Morde beteiligt gewesen sei.

In der Nacht fand ich den Weg, die Zweifel aufzuklären, welche mein Gemüt noch quälten. Ich schrieb an den Pfarrer Derrington, indem ich ihn benachrichtigte, dass ich mich mit Priscilla verlobt habe, und anfragte, ob er mit Rücksicht auf meine Stellung mir sagen wolle, welcher Art ihre früheren Beziehungen zu einer Person namnes Johann Zebedäus gewesen seien. Mit wendender Post erhielt ich folgende Antwort:

»Mein Herr! Unter den vorliegenden Umständen glaube ich verpflichtet zu sein, Ihnen vertraulich mitzuteilen, was Priscillas Freunde und Gönner um ihretwillen bisher geheimgehalten haben. Zebedäus stand in der Nachbarschaft im Dienst. Es tut mir leid, es von einem Manne sagen zu müssen, der ein solch klägliches Ende genommen hat, aber sein Betragen Priscilla gegenüber zeigte, dass er ein lasterhafter und herzloser Wicht gewesen ist. Sie waren verlobt, und er versuchte, wie ich mit Entrüstung hinzufügen muss, sie unter dem Versprechen der Heirat zu verführen. Ihre Tugend leistete ihm Widerstand, und er gab vor, sich seiner selbst zu schämen. Das Aufgebot fand in meiner Kirche statt. Am nächsten Tage verschwand Zebedäus und verließ sie in grausamer Weise. Er war ein brauchbarer Dienstbote, und ich glaube, dass er bald wieder eine andere Stelle erhielt.

Ich überlasse Ihnen sich vorzustellen, wie das arme Mädchen unter dem ihr zugefügten Schimpf gelitten haben mochte.

Nachdem sie mit meiner Empfehlung sich nach London begeben hatte, ging sie auf die erste Annonce ein, die sie las, und war so unglücklich, ihren häuslichen Dienst in dem nämlichen Gasthause zu beginnen, in welches, wie ich aus dem Zeitungsberichte über den Mord schließe, Zebedäus die Frau mitnahm, die er heiratete, nachdem er Priscilla verlassen hatte.

Seien Sie versichert, dass Sie im Begriffe sind, sich mit einem vortrefflichen Mädchen zu verbinden, und empfangen Sie meine besten Wünsche für Ihr künftiges Glück.«

Es war hiernach klar, dass weder der Pfarrer, noch die Eltern oder Freunde etwas von dem Kaufe des Messers wussten. Der Elende, der allein die Wahrheit kannte, war der Mann, der von ihr begehrt hatte, sein Weib zu werden.

Ich war es mir schuldig – wenigstens schien es mir so – nicht die Vermutung aufkommen zu lassen, dass auch ich sie in niedriger Gesinnung verlassen hätte. Wie peinlich dies auch voraussichtlich war, so fühlte ich doch, dass ich sie noch einmal und zum letztenmal sehen müsse.

Sie war an der Arbeit, als ich ihr Zimmer betrat. Als ich die Tür öffnete, fuhr sie in die Höhe, ihre Wangen röteten sich, und ihre Augen blitzten im Zorn auf. Ich ging auf sie zu, und sie sah mir ins Antlitz. Der Ausdruck meines Gesichtes ließ sie im Schweigen verharren. Ich sprach in den kürzesten Worten, die ich finden konnte. »Ich bin im Laden des Messerschmiedes in Waterbank gewesen,« sagte ich. »Dort befindet sich ganz in Ihrer Handschrift die noch unvollendete Inschrift des Messers. Ich könnte Sie mit einem Worte an den Galgen bringen, aber – Gott vergebe mir – ich kann dieses Wort nicht sprechen.«

Ihre frische Gesichtsfarbe wurde plötzlich erdfahl und ihre Augen starr und groß wie die Augen einer Person im Fieberschauer. Sie stand unbewegt und schweigend vor mir. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, warf ich die Inschrift ins Feuer. Schweigend verließ ich sie. Ich sah sie nie wieder.

VIII

Aber einige Tage später hörte ich von ihr. Ihren Brief habe ich längst verbrannt. Ich wünschte, dass ich ihn auch hätte vergessen können. Aber er haftet mir im Gedächtnis. Wenn ich bei Bewusstsein sterbe, wird Priscillas Brief mein letzter Gedanke auf Erden sein. In der Hauptsache wiederholte er das, was der Pfarrer mir bereits mitgeteilt hatte. Dann teilte sie mir mit, dass sie das Messer als ein Andenken für Zebedäus gekauft habe an Stelle eines ähnlichen Messers, das er verloren hatte. Sonnabend kaufte sie es, ließ es aber zur Anfertigung der Inschrift zurück. Am Sonntag erfolgte das Aufgebot, am Montag wurde sie von Zebedäus verlassen. Sie eilte darauf zu dem Messerschmied und nahm ihm mitten in der Arbeit das Messer vom Tische weg.

Nur sie wusste, dass Zebedäus der ersten Kränkung eine neue hinzugefügt hatte, als er mit seiner Frau im Gasthause ankam. Ihre Arbeit hielt sie in der Küche zurück, und Zebedäus erfuhr nie, dass Priscilla im Hause war. Ich teile noch die letzten Zeilen ihres Geständnisses mit:

»Ein böser Geist fuhr in mich, als ich auf meinem Gange zum Schlafzimmer hinauf ihre Tür untersuchte und sie unverschlossen fand. Ich horchte eine Weile und spähte in das Zimmer hinein. Ich sah sie beide beim verlöschenden Lichte der Kerze, das eine schlafend im Bette, das andere im Schlaf neben dem Kamin. Ich hatte das Messer in der Hand, und es kam mir der Gedanke, die Tat auszuführen, derentwegen die Frau an den Galgen kommen würde. Das Messer konnte ich nicht mehr aus dem Körper ziehen, als die Tat vollbracht war. Bleiben Sie dessen eingedenk, dass ich Sie wirklich liebte. Als Sie mich fragten, ob ich Sie heiraten wolle, sagte ich nicht ja, weil Sie doch nicht Ihre eigene Frau an den Galgen bringen konnten, wenn Sie ausfindig machten, wer den Zebedäus getötet hatte.«

Seitdem habe ich nichts mehr von Priscilla Thurlby gehört. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt oder tot ist. Viele Leute denken wohl, dass ich selbst gehenkt zu werden verdiene, weil ich sie nicht an den Galgen brachte.

Sie mögen vielleicht enttäuscht sein, wenn sie diese Beichte lesen und hören, dass ich ehrlich in meinem Bette gestorben bin. Ich tadele sie nicht. Ich bin ein reuiger Sünder. Allen barmherzigen Christen sage ich ein Lebewohl für immer.

Fräulein Morris und der Fremde.
(Miss Morris And The Stranger)

I

Als ich ihn zum ersten Mal sah, hatte er sich in eine der öden an der Südküste Englands gelegenen Städte verirrt, nach Sandwich. Soll ich Sandwich beschreiben? Ich denke nicht. Die Wahrheit zu gestehen, Beschreibungen von Orten, wie hübsch sie auch gehalten sein mögen, haben immer etwas mehr oder weniger Langweiliges, und ich hasse das natürlich, da ich ein Weib bin. Aber vielleicht wird doch aus meinem Berichte über die Unterhaltung, die wir miteinander hatten, als wir uns zum ersten Mal als Fremde in der Straße begegneten, so eine Art Beschreibung von Sandwich gleichsam herauströpfeln.

Ärgerlich redete er mich an: »Ich habe mich verirrt.«

»Leuten, die die Stadt nicht kennen, passiert dies oft« bemerkte ich.

Er fuhr fort: »Welches ist der Weg zum Gasthofe zur Lilie?«

Um diesen zu erreichen, musste er zuerst auf demselben Wege wieder zurückgehen, alsdann links sich wenden, dann so lange weiter gehen, bis er zwei sich kreuzende Straßen fand, dann die Straße zur Rechten einschlagen, sich dann umsehen nach einer zweiten links abbiegenden Straße und dann dieser veränderten Richtung folgen, bis er Ställe roch – dort war der Gasthof. Ich erklärte ihm dies in der deutlichsten Weise und war bei keinem einzigen Worte im Zweifel.

 

»Wie zum Teufel soll ich das alles im Gedächtnis behalten?« rief er.

Das war ungezogen. Wir sind natürlich sehr ungehalten über einen Mann, der sich uns gegenüber ungezogen benimmt. Aber ob wir ihm mit Verachtung den Rücken wenden, oder ob wir barmherzig sind und ihm eine Lektion über Höflichkeit geben, das hängt ganz von dem Manne ab. Er kann ein Bär sein, aber er kann doch auch seine versöhnenden Eigenschaften haben. Jener hatte solche. Ob er schön oder hässlich war, jung oder alt, gut oder schlecht gekleidet, das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber mit Bestimmtheit kann ich von seinen persönlichen Vorzügen sprechen, die auf ihn aufmerksam werden ließen. So zum Beispiel war der Ton seiner Stimme überzeugend. (Las man jemals eine unserer Geschichten, in der wir es unterließen, bei der Stimme unseres Helden zu verweilen?) Dann auch war sein Haar leidlich lang.(Kennt man eine Frau, die einen Mann mit kurzgeschnittenem Kopfhaare leiden mag?) Überdies war er von hoher Statur. (Es muss schon eine sehr hochgewachsene Frau sein, die sich zu einem kleinen Manne hingezogen fühlt.) Endlich war der Schelm, obgleich seine Augen in Form und Farbe nur mäßig hübsch sich präsentierten, doch auf eine unerklärliche Weise in den Besitz sehr schöner Augenwimpern gekommen.

Sie waren sogar schöner als die meinigen. Ich schreibe in völligem Ernste. Es gibt eine Frau, die über die gewöhnliche Schwäche der Eitelkeit erhaben ist – und sie hält eben die Feder in der Hand.

Ich gab also meinem verirrten Fremden eine Lektion über Höflichkeit und kleidete sie in eine verfängliche Form. Ich fragte ihn, ob er es gerne sehe, dass ich ihm den Weg zum Gasthofe zeige. Er war noch darüber verdrießlich, dass er sich verirrt hatte, und antwortete, wie ich dies vorausgesehen hatte, schwerfällig: »Ja!«

»Als Sie noch ein Knabe waren und etwas wünschten« fragte ich, »lehrte Sie da Ihre Mutter nicht sagen 'Bitte'?« Er errötete wirklich.

»Sie tat dies« gab er zu, »und sie lehrte mich auch sagen: 'Ich bitte um Verzeihung', wenn ich ungezogen war. Ich will daher jetzt sagen: Ich bitte um Verzeihung.«

Diese sonderbare Entschuldigung bestärkte mich in meinem Glauben an seine versöhnenden Eigenschaften. Ich führte ihn den Weg zum Gasthofe. Schweigend folgte er mir. Aber keine Frau, welche sich selbst achtet, kann das Schweigen ertragen, wenn sie in der Gesellschaft eines Mannes sich befindet. Ich brachte ihn zum Sprechen.

»Kommen Sie von Ramsgate zu uns?« fing ich an. Er nickte nur. »Wir halten hier nicht viel von Ramsgate« fuhr ich fort. »Es gibt nicht ein altes Bauwerk in diesem Orte. Und Ramsgates erster Oberbürgermeister wurde erst kürzlich gewählt!«

Dieser Gesichtspunkt schien ihm neu zu sein. Er machte keinen Versuch, ihn zu bestreiten; er blickte nur umher und sagte:

»Sandwich ist ein düsterer Ort, Fräulein!« Er machte so rasche Fortschritte in der Höflichkeit, dass ich ihn durch ein Lächeln ermutigte. Als zur Bürgerschaft von Sandwich gehörig darf ich sagen, dass wir es als ein Kompliment betrachten, wenn uns gesagt wird, dass unsere Stadt ein melancholischer Ort ist. Und warum nicht? Melancholie ist verbunden mit Würde und Würde mit dem Alter. Und wir sind ja alt. Ich lehre meine Zöglinge unter anderem Logik – das war eine Probe davon. Was auch immer Gegenteiliges gesagt werden möge, Frauen haben ein vernünftiges Urteil. Sie können auch phantasieren, und ich muss zugeben, dass ich dies eben tue. Erwähnte ich anfangs, dass ich Erzieherin war? Wenn nicht, so muss die Anspielung auf meine Zöglinge recht unvermittelt hierher geraten sein. Ich bitte um Entschuldigung und kehre zu meinem verirrten Fremden zurück.

»Gibt es in ganz Sandwich so etwas wie eine gerade Straße?« fragte er.

»Nicht eine gerade Straße im ganzen Städtchen.«

»Irgend welchen Handel, Fräulein?«

»So wenig wie möglich – und dieser ist im Verfall.«

»Kurzum, ein verkommener Ort?«

»Vollständig verkommen.«

Mein Ausdruck schien ihn in Erstaunen zu setzen. »Sie sprechen, als wenn Sie stolz darauf wären, dass Sandwich verkommen ist« sagte er.

Ich billigte gebührend seine Bemerkung, denn sie war sehr verständig. Wir freuen uns unseres Verfalles: er bildet unsere besondere Auszeichnung. Fortschritt und Gedeihen sonst überall, hier Verfall und Auflösung. Als notwendige Folge hiervon bringen wir unseren besonderen Eindruck hervor und wir lieben es, originell zu sein. Das Meer verließ uns vor langer Zeit: einst bespülte es unsere Mauern, jetzt ist es zwei Meilen von uns weg – wir vermissen das Meer nicht. Wir hatten zuweilen, der Himmel allein weiß, vor wie vielen Jahrhunderten, fünfundneunzig Schiffe in unserem Hafen; jetzt haben wir ein oder zwei kleine Küstenfahrzeuge, die die Hälfte ihrer Zeit in dem Schlamme eines kleinen Flusses liegen – wir vermissen unseren Hafen nicht. Aber ein Haus in der Stadt ist kühn genug, die Ankunft Wohnung suchender Fremden zu erwarten, und kündigt an, dass möblierte Zimmer zu vermieten seien. Welch ein passender Gegensatz zu unserem modernen Nachbar Ramsgate! Unser vornehmer Marktplatz veröffentlicht die von der Gemeindebehörde erlassenen Verordnungen, und jede Woche gibt es weniger Leute, die sie beobachten. Wie passend! Betrachten Sie unser einziges Magazin am Flusse – mit dem gewöhnlich unbenutzten Kranen, den meistens mit Brettern verschalten Fenstern und vielleicht mit einem einzigen Manne an der Tür, der sich nach Arbeit umsieht, die, wie sein Verstand ihm sagt, unmöglich kommen kann.Welch ein heilsamer Protest gegen die sonstige alles zerstörende Hast und Überanstrengung, die die Kräfte der Station zerrüttet haben. »Fern sei von mir und meinen Freunden« (um einen beredten Ausdruck Doktor Johnsons zu gebrauchen) »solch kühle Begeisterung, die uns ungerührt und gleichgültig« über die Brücke führt, auf der Sie Sandwich betreten und Brückengeld zahlen, wenn Sie zu Wagen kommen.

»Der Mann« (auch nach Doktor Johnson) »ist wenig zu beneiden« der sich in unsere labyrinthischen Straßen verirren kann und nicht fühlte, dass er die willkommenen Grenzen des Fortschritts erreicht und einen Hafen der Ruhe in diesem Zeitalter der Hast gefunden hat.

Ich phantasiere wieder. Man dulde die unüberlegte Begeisterung einer Bewohnerin Sandwichs, die die Jahre der Besonnenheit erst an ihrem letzten Geburtstage erreicht hat. Wir werden mit Sandwich bald fertig sein; denn wir sind ganz nahe dem Gasthofstore.

»Sie können jetzt nicht mehr irre gehen, mein Herr« sagte ich.

»Guten Morgen.«

Er blickte unter seinen schönen Augenwimpern hervor und sah auf mich herab (habe ich erwähnt, dass ich eine kleine Frau bin?) und er fragte in seiner überzeugenden Art: »Müssen wir wirklich Lebewohl sagen?«

Ich verbeugte mich.

»Würden Sie mir erlauben, Sie sicher nach Hause zu bringen?« warf er ein.

Ein anderer Mann würde mich gekränkt haben. Dieser Mann errötete wie ein Knabe und blickte auf das Pflaster, anstatt mich anzusehen. Unterdessen hatte ich meinen Entschluss gefasst. Er war zweifellos nicht bloß ein gebildeter Herr, er war auch ein schüchterner Mann. Sein unbeholfenes Benehmen und seine sonderbaren Äußerungen waren, wie ich mir dachte, teils Anstrengungen, seine Schüchternheit zu verbergen, teils Hilfsmittel, durch die er die eigene Empfindung davon zu verscheuchten suchte. Ich beantwortete seinen kühnen Vorschlag freundlich und mit einem Scherze. »Sie würden nur nochmals den Weg verfehlen« sagte ich; »und ich müsste Sie zum zweiten Mal nach dem Gasthofe zurückbringen.« Unnütze Wortverschwendung! Mein halsstarriger Fremder machte nun einen neuen Vorschlag.

»Ich habe hier das Frühstück bestellt« sagte er, »und ich bin ganz allein.«

Er hielt verlegen inne und nahm eine Miene an, als wenn er eher erwarte, von mir eine Ohrfeige zu bekommen. »Ich werde an meinem nächsten Geburtstage vierzig Jahre alt sein« fuhr er fort, »ich bin alt genug, Ihr Vater zu sein.« Ich brach beinahe in lautes Lachen aus und schritt über die Straße meiner Wohnung zu. Er folgte mir. »Wir könnten ja die Wirtin einladen, uns Gesellschaft zu leisten« sagte er und bot dafür das Bild eines überstürzten Mannes, den das Bewusstsein seiner eigenen Unvorsichtigkeit erschreckt hat. »Könnten Sie mir nicht die Ehre erweisen, mit mir zu frühstücken, wenn wir die Wirtin bei uns hätten?« fragte er.

Das war doch ein wenig zu viel. »Davon kann gar keine Rede sein, mein Herr – und Sie sollten dies wissen« sagte ich mit strenger Miene.

Zögernd streckte er mir die Hand entgegen. »Wollen Sie mir nicht einmal die Hand reichen?« fragte er in kläglichem Tone. Wenn wir einem Manne in der geziemendsten Weise einen Tadel ausgesprochen haben, was ist es für eine Verkehrtheit, ihn schon eine Minute nachher schwächlich zu bemitleiden? Ich war töricht genug, diese mir vollständig fremden Manne die Hand zu reichen. Und nachdem ich dies getan, zeigte ich vollendes, dass mir jede Würde mangele, indem ich weglief. Unsere armen kleinen Straßen mit ihren Krümmungen entzogen mich bald seinen Blicken.

Als ich im Hause meines Herrn die Türschelle zog, fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf, der auch für jemand von einer geordneteren Gemütsverfassung beunruhigend gewesen sein mochte.

»Angenommen, der Fremde würde nach Sandwich zurückkehren.«

II

Ehe noch geraume Zeit verstrichen war, hatte ich mit meiner eigenen Not zu kämpfen, die den wunderlichen Fremden eine Zeitlang aus meinem Sinne verdrängte.

Unglüclicherweise bildete diese Not einen Teil meiner Erzählung, und mein früheres Leben ist mit ihr aufs engste verbunden. Mit Rücksicht auf das, was nachfolgt, möchte ich daher einige Worte über die Zeit meines Lebens sagen, in der ich noch nicht Erzieherin war.

Ich bin die verwaiste Tochter eines Krämers in Sandwich. Als mein Vater starb, hinterließ er seiner Witwe und seinem Kinde einen ehrlichen Namen und ein kleines Einkommen von achtzig Pfund jährlich. Wir führten das Ladengeschäft weiter; aber wir gewannen dabei weder noch verloren wir etwas. Um die Wahrheit zu sagen, es war niemand da, der unser armseliges kleines Geschäft kaufen wollte. Ich war damals dreizehn Jahre alt und bereits imstande, meiner Mutter zu helfen, deren Gesundheit zu der Zeit zu schwinden begann. Niemals werde ich einen hellen Sommertag vergessen, an dem ich einen neuen Kunden unseren Laden betreten sah. Er war ein ältlicher Herr und schien überrascht zu sein, ein so junges Mädchen wie mich mit der Führung des Geschäfts betraut zu finden und, was mehr ist, zu sehen, dass es zu dieser Führung auch befähigt war. Ich beantwortete seine Fragen in einer Weise, die ihm zu gefallen schien. Er merkte bald, dass meine Erziehung, abgesehen von meiner Geschäftskenntnis, außerordentlich vernachlässigt war, und fragte, ob er meine Mutter sehen könne. Diese ruhte auf einem Sofa im hinteren Zimmer und empfing ihn dort. Als er wieder herauskam, streichelte er mir die Wange. »Ich habe Gefallen an Ihnen gefunden« sagte er, »und werde vielleicht wieder zurückkommen.« Er kam wieder zurück. Meine Mutter hatte ihn zur Auskunft über unseren Ruf in hiesiger Stadt an den Pfarrer verwiesen und er hatten von ihm alles erfahren, was dieser über uns wusste. Unsere einzigen Verwandten waren nach Australien ausgewandert, und es ging ihnen dort nicht gut. Der Tod meiner Mutter musste mich daher, soweit Verwandte in Betracht kamen, buchstäblich allein in der Welt lassen.

»Geben Sie diesem Mädchen eine vorzügliche Erziehung« sagte unser ältlicher Kunde, als er im hinteren Zimmer am Teetische bei uns saß, »und es wird sein Ziel erreichen. Wenn Sie es in die Schule schicken wollen, werteste Frau, so will ich die Kosten seiner Ausbildung übernehmen.« Meine arme Mutter fing an zu weinen, als sie daran dachte, dass wir uns trennen müssten. Der alte Herr sagte: »Überlegen Sie es sich« und stand auf, um wegzugehen. Er gab mir seine Karte, als ich ihm die Ladentür öffnete. »Wenn Sie in Not geraten« flüsterte er mir zu, so dass meine Mutter ihn nicht hören konnte, »so seien Sie ein verständiges Kind und schreiben oder sagen Sie es mir.« Ich sah auf die Karte. Unser gutherziger Kunde war kein geringerer als Herr Gervasius von Damian von Garrum Park in Sussex, welcher auch in unserer Grafschaft begütert war. Er war ohne Zweifel durch den Pfarrer über dne wahren Zustand der Gesundheit meiner Mutter besser als ich unterrichtet.

Vier Monate nach dem denkwürdigen Tage, da der angesehene Mann den Tee bei uns nahm, war die Zeit für mich gekommen, allein in der Welt zu stehen. Ich habe nicht den Mut, bei dieser Zeit zu verweilen, meine Stimmung verdüstert sich, selbst nach so langer Zeit noch, wenn cih an mich in jenen Tagen denke. Der gute Pfarrer unterstützte mich – ich schrieb an Herrn Gervasius von Damian.

 

Seit der Zeit unserer Begegnung war auch in seinem Leben eine Veränderung eingetreten.

Herr von Damian hatten zum zweiten Male geheiratet und hatte, was in seinem Alter vielleicht noch törichter war, eine junge Frau genommen. Es wurde gesagt, dass siee schwindsüchtig und zugleich sehr eifersüchtiger Natur sei. Das einzige Kind ihres Gatten aus erster Ehe, sein Sohn und Erbe, war über die zweite Heirat seines Vaters so erbittert, dass er das Haus verließ. Da der Grundbesitz als Erblehn dem Sohne gehörte, so konnte Herr von Damian sein Urteil über seines Sohnes Betragen nur in der Weise fällen, dass er in einem neuen Testament sein ganzes Vermögen in barem Gelde seiner jungen Frau vermachte.

Diese Einzelheiten erfuhr ich von dem Verwalter, der eigens abgeschickt worden war, mich in Sandwich zu besuchen.

»Herr von Damian gibt niemals ein Versprechen, das er nicht auch hält« sagte mir dieser Herr. »Ich habe die Weisung, Sie in eine vorzügliche Mädchenschule in der Nähe von London zu bringen und alle notwendigen Anordnungen zu treffen, damit Sie dort bis zur Vollendung ihres achtzehnten Lebensjahres verbleiben können. Irgendwelche schriftlichen Mitteilungen wollen Sie in Zukunft gefälligst durch die Hand des Pfarrers von Sandwich gehen lassen. Die schwankende Gesundheit der Frau von Damian macht es nur zu wahrscheinlich, dass sie und ihr Gemahl sich meistens in einem milderen Klima als dem von England aufhalten werden.«

»Ich bin angewiesen, Ihnen dies mitzuteilen und Ihnen von Herrn von Damian beste Wünsche zu überbringen.«

Auf den Rat des Pfarrers fügte ich mich in die Lage, die mir in so unangenehm förmlicher Weise angeboten wurde, da ich – mit vollem Recht, wie ich nachher erfuhr – vermuten konnte, dass ich diese Anordnung, die mich von meinem Wohltäter persönlich trennte, Frau von Damian zu verdanken hatte.

Die Güte ihres Gemahls und meine Dankbarkeit, die sich auf dem neutralen Boden von Garrum Park begegneten, waren für diese Dame die Ursache zu ehelichem Misstrauen geworden. Abscheulich! Abscheulich! Ich ließ einen aufrichtig dankbaren Brief zurück, der an Herrn von Damian befördert werden sollte, und kam, vom dem Verwalter begleitet, zur Schule, als ich gerade vierzehn Jahre alt war.

Ich weiß, dass ich töricht bin. Es tut nichts. Ich besitze ein wenig Stolz in mir, obgleich ich nur die Tochter eines kleinen Krämers bin. Mein neues Leben hatte seine Versuchungen, aber mein Stolz hielt mich aufrecht.

Während der vier Jahre, die ich in der Schule blieb, mochte das Wohlergehen meiner geringen Person wohl dem Pfarrer und zuweilen selbst dem Verwalter Veranlassung zur Nachfrage geben, niemals aber Herrn von Damian selbst. Die Winter brachte er ja ohne Zweifel im Auslande zu, aber im Sommer waren er und seine Frau doch wieder zu Hause. Man fühlte jedoch nicht einmal so viel Mitleid mit meiner verlassenen Lage, dass man mich ersucht hätte, für einen oder zwei Tage in den Ferien der Gast des Hausmeisters zu Garrum Park zu sein. (Weiter hatte ich nichts erwartet.) Mein Stolz hatte dies bitter empfunden. Aber mein Stolz sagte zu mir: »Übe Gerechtigkeit gegen dich selbst!« Ich arbeitete so fleißig, und meine Aufführung war so tadellos, dass die Vorsteherin der Schule an Herrn von Damian schrieb, wie vollständig ich der Güte würdig sei, die er mir erwiesen habe. Keine Antwort traf ein. (O, Frau von Damian!) Kein Wechsel änderte mein eintöniges Leben – ausgenommen, wenn eine befreundete Mitschülerin mich zuweileln für einige Tage in den Ferien mit sich nach Hause nahm. Es schadete nichts! Mein Stolz hielt mich aufrecht. Als das letzte halbe Jahr herankam, begann ich die wichtige Frage meiner Zukunft in ernstliche Erwägung zu ziehen.

Ohne Zweifel hätte ich von meinen achtzig Pfund jährlich leben können, aber was für ein einsames, dürftiges Dasein versprach dies zu werden, wenn mich nicht jemand heiratete, und wo, sage man mir gütigst, sollte ich diesen finden? Meine Ausbildung befähigte mich vollständig zur Erzieherin.

Warum sollte ich nicht mein Glück versuchen und auf diese Weise ein wenig von der Welt sehen? Selbst wenn ich unter übelgeartete Leute geriet, konnte ich mich ja wieder von ihnen frei machen und zu dem kleinen Einkommen meine Zuflucht nehmen. Als der Pfarrer nach London kam, stattete er auch mir einen Besuch ab. Er billigte nicht allein mein Vorhaben, sondern bot mir auch die Gelegenheit, es auszuführen Eine vortreffliche Familie, die sich unlängst in Sandwich niedergelassen hatte, bedurfte einer Erzieherin. Der Hausherr war Teilhaber eines Geschäftes – dessen nähere Beschaffenheit zu erwähnen wird nicht nötig sein – und dieses hatte außerhalb Londons Zweigniederlassungen.

Auch zu Sandwich war eine solche neue Niederlassung als geschäftlicher Versuch unter besonderen Umständen gegründet und der erwähnte Teilhaber zu dessen Beaufsichtigung bestimmt worden.

Der Gedanke, in meinen Heimatsort zurückzukehren, gefiel mir – so langweilig der Ort auch anderen erschien.Ich nahm die Stelle an.

Als des Verwalters üblicher halbjährlicher Brief bald nachher eintraf, in dem er mich fragte, was ich beim Abgang von der Schule zu tun gedächte und wie er mich hierbei namens des Herrn von Damian unterstützen könne, da durchdrang mich ein köstliches Gefühl von Kopf zu Fuß, wenn ich an meine Unabhängigkeit dachte.

Es war nicht Undankbarkeit gegen meinen Wohltäter, es war nur ein kleiner, stiller Triumph über Frau von Damian.

O, meine Mitschwestern, könnt ihr mich nicht verstehen und mir vergeben?

So kehrte ich nach Sandwich zurück und blieb dort während dreier Jahre bei den gütigsten, wohlwollendsten Menschen, die jemals gelebt haben. Unter ihrem Dache weilte ich noch, als ich dem verirrten Fremden in der Straße begegnete.

Ach! das Ende jenes rührigen, angenehmen Lebens war nahe. Als ich mit dem seltsamen Fremden leichthin über den verfallenden Handel der Stadt sprach, da ahnte ich nicht, dass auch das Geschäft meines Herrn in Verfall geriet. Die Spekulation erwies sich als fehlgeschlagen, und alle seine

Ersparnisse waren von ihr verschlungen worden. Er konnte nicht länger in Sandwich bleiben und war nicht mehr imstande, eine Erzieherin zu halten. Seine Frau teilte mir die traurige Nachricht mit.

Ich hatte die Kinder so liebgewonnen, dass ich ihr vorschlug, auf mein Gehalt zu verzichten. Ihr Gemahl lehnte es aber ab, mein Anerbieten auch nur in Erwägung zu ziehen. Es war wieder einmal die alte Geschichte von den armen Menschenkindern. Wir weinten, wir küssten uns und schieden voneinander. Was sollte ich tun? An Herrn von Damian schreiben?

Ich hatte schon bald nach meiner Rückkehr nach Sandwich geschrieben und handelte dabei den getroffenen Anordnungen zuwider, indem ich mich an Herrn von Damian direkt wandte. Ich drückte meine dankbaren Gefühle für seine Großmut mir, einem armen Mädchen gegenüber aus, das keinerlei Familienansprüche an ihn habe, und ich versprach, diejenige Vergeltung zu üben, die allein in meiner Macht stehe, zu versuchen, mich der mir erwiesenen Teilnahme würdig zu erweisen. Dieser Brief war ohne jeden Hintergedanken geschrieben worden. Mein neues Leben als Erzieherin war ein so glückliches, dass das niedrige Gefühl der Bitterkeit gegen Frau von Damian entschwunden war.

Es war für mich eine Erleichterung, an diese Veränderung zum Besseren zu denken, als der Sekretär in Garrum Park mich benachrichtigte, dass er meinen Brief Herrn von Damian, der sich mit seiner kranken Gemahlin zu Madeira aufhalte, übersandt habe. Die Frau siechte langsam, aber ohne Rettung dahin. Ehe noch ein Jahr vorüber war, war Herr von Damian zum zweiten Mal Witwer geworden, ohne ein Kind zu haben, das ihn in seinem Verluste hätte trösten können. Es kam keine Antwort auf mein Dankschreiben. Es wäre allerdings unbillig von mir gewesen. wenn ich erwartet hätte, dass der verwitwete Gatte in seinem Kummer und seiner Einsamkeit noch an mich hätte denken sollen.