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Blinde Liebe

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Dreizehntes Kapitel

Mountjoy hatte sich entschlossen, nach Honeybuzzard zu reisen, sobald als er erfahren hatte, daß Miß Henley sich in dieser Stadt bei fremden Leuten aufhielt. Da er aber früher keine Gelegenheit gefunden hatte, sie auf seinen Besuch vorzubereiten, schrieb er ihr vom Gasthause aus. Er hatte es nach reiflicher Ueberlegung besser gefunden, sich vorher anzumelden, als unerwartet im Hause des Doktors zu erscheinen. Wie würde sie den treu ergebenen Freund empfangen, dessen Heiratsantrag sie zum zweitenmale abgelehnt, als sie zuletzt in London mit ihm zusammengetroffen war?

Das Wohnhaus des Doktors war in einer stillen Nebenstraße gelegen und gewährte eine Aussicht, die nicht gerade ermutigend auf einen Mann wirken mußte, der sich dem ärztlichen Beruf gewidmet hatte. Die Aussicht ging nämlich auf den Kirchhof. Die Thür wurde von einem Dienstmädchen geöffnet, welches den Fremden argwöhnisch betrachtete. Ohne auf eine Frage zu warten, sagte sie, der Herr Doktor sei nicht zu Hause.

Mountjoy nannte seinen Namen und fragte nach Miß Henley.

Das Benehmen des Mädchens änderte sich sofort zum Besseren; sie bat ihn, in ein kleines Empfangszimmer einzutreten, welches unschön und dürftig ausgestattet war. Einige Bilder in armseligen Rahmen zierten die Wände; es waren – vielleicht nicht ganz am Platz in dem Hause eines Arztes – Porträts von berühmten Bühnenkünstlerinnen, die einst in früheren Jahrzehnten unseres Jahrhunderts die weltbedeutenden Bretter als Königinnen beherrscht hatten. Auch die wenigen Bücher, die auf einem kleinen Büchergestell über dem Kamin ihren Platz hatten, gehörten der dramatischen Literatur an.

»Wer liest diese Sachen?« fragte sich Mountjoy im stillen. »Und wie fand Iris ihren Weg in dieses Haus?«

Während er so an sie dachte, trat Miß Henley selbst in das Zimmer.

Ihr Aussehen war bleich und sorgenvoll; Thränen schimmerten in ihren Augen, als Hugh Mountjoy auf sie zutrat. In seiner Gegenwart empfand Iris das Entsetzliche, welches der durch feigen Meuchelmord herbeigeführte Tod seines Bruders Arthur hatte, tiefer, als sie bis jetzt davon berührt worden war. Einer plötzlichen Eingebung folgend, bog sie seinen Kopf zu sich herab mit der zärtlichen Vertraulichkeit einer Schwester und küßte ihn auf die Stirn.

»O Hugh,« sagte sie schmerzlich bewegt, »ich weiß, wie Sie und Arthur einander liebten! Meine Worte können nicht ausdrücken, was ich für Sie fühle!«

»Es bedarf keiner Worte, liebe Iris,« erwiderte er zärtlich. »Ihre Teilnahme spricht für sich selbst.«

Er führte sie zum Sofa und ließ sich neben ihr nieder.

»Ihr Vater hat mir gezeigt, was Sie ihm geschrieben haben,« begann er, »Ihren Brief aus Dublin und Ihren zweiten Brief von hier. Ich weiß, was Sie Hochherziges in Arthurs Interesse gewagt und erduldet haben. Es würde mir eine gewisse Genugthuung gewähren, wenn ich Ihnen einen Gegendienst – und wenn es auch nur ein sehr bescheidener Gegendienst wäre, Iris – für alles das erweisen könnte, was Arthurs Bruder der besten Freundin, die jemals ein Mensch gehabt hat, schuldig ist. Ach, lassen Sie doch,« fuhr er fort, in herzlicher Weise den Ausdruck ihrer Dankbarkeit unterbrechend. »Ihr Vater hat mich nicht hierher geschickt, aber er weiß, daß ich London mit der bestimmten Absicht verlassen habe, Sie aufzusuchen, und er weiß auch, warum. Sie haben ehrerbietig und liebevoll an ihn geschrieben; Sie haben um Verzeihung und Versöhnung gebeten, wo er doch der schuldige Teil ist. Darf ich Ihnen sagen, was er mir zur Antwort gab, als ich ihn fragte, ob ihm denn gar kein Glaube mehr an sein eigenes Kind geblieben wäre? ›Hugh,‹ sagte er, ›Sie verschwenden Ihre Worte an einen Mann, der mit dieser Sache abgeschlossen hat. Ich will meiner Tochter wieder Vertrauen schenken, wenn jener irische Lord im Grabe liegt – eher nicht.‹ Das ist ein Unrecht gegen Sie, Iris, das ich nicht zugeben kann, selbst wenn es Ihr Vater thut. Er ist hart, er ist unversöhnlich, aber er muß und wird sich ändern. Ich hoffe, daß ich ihn noch dazu bringen werde, Ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dies vorzubereiten, bin ich hierher gekommen. Darf ich mit Ihnen über Lord Harry sprechen?«

»Wie können Sie daran zweifeln?«

»Liebe Iris, es ist für mich sehr peinlich, davon mit Ihnen zu sprechen.«

»Und für mich sehr beschämend,« stieß Iris bitter hervor. »Hugh, Sie sind ein Engel im Vergleich zu diesem Mann! Wie heruntergekommen muß ich sein, daß ich ihn liebe, wie unwürdig Ihrer guten Meinung! Fragen Sie, was Sie wollen, schonen Sie mich nicht!« schrie sie in unverhohlener Selbstanklage. »Warum mißhandeln Sie mich nicht, wie ich es verdiene?«

Mountjoy kannte die Frauennatur gut genug, um stillschweigend über diesen leidenschaftlichen Ausbruch hinwegzugehen, anstatt die Aufregung in ihr noch dadurch zu steigern, daß er ihr widersprach.

»Ihr Vater wird auf Gefühlsäußerungen nichts geben,« fuhr er fort, »aber es ist möglich, ihn durch Thaten dahin zu bringen, daß er Ihnen gerecht wird. Geben Sie mir die Gelegenheit, mit ihm ausführlicher über Lord Harry sprechen zu können, als Sie es in Ihren Briefen im stande sind. Ich muß wissen, was sich von der Zeit an ereignet hat, wo gewisse Vorfälle Sie nach Ardoon brachten und dort wieder mit dem irischen Lord zusammenführten, bis zu der Zeit, wo Sie ihn in Irland nach dem Tode meines Bruders wieder verließen. Wenn es den Anschein hat, daß ich Ihnen zu viel zumute, Iris, so denken Sie, bitte, daß es nur in Ihrem Interesse geschieht.«

In diesen Worten lag ganz die edle Denkungsweise Hugh Mountjoys. Iris zeigte sich ihrer würdig.

Ihr Bericht begann, um es kurz zu sagen, mit dem geheimnisvollen anonymen Briefe, welcher an Sir Giles gerichtet war.

Lord Harry hatte Iris in dankbarer Bereitwilligkeit darüber die erforderlichen Erklärungen gegeben, aber doch mit einer gewissen Zurückhaltung, nachdem sie ihm vorher gesagt hatte, wer der Fremde an dem Meilenstein in Wirklichkeit gewesen war.

»Hätte Sir Giles nur den zehnten Teil Ihres Mutes besessen,« hatte er gesagt, »so könnte Arthur jetzt noch am Leben und in England in Sicherheit sein. Ich kann nichts weiter sagen, ich darf nichts weiter sagen; es macht mich verrückt, wenn ich daran denke!«

Seine Verbindung mit den Unüberwindlichen – wie er selbst zugab, eine nicht zu entschuldigende, leichtsinnige und unbesonnene That – hatte es ihm, wie er weiter ausführte, möglich gemacht, in die mörderischen Pläne der Bruderschaft einzudringen und sie wenigstens für einige Zeit im geheimen zu vereiteln. Sein Erscheinen zuerst auf Arthurs Besitzung und dann später bei der Ruine im Wald stand im Zusammenhang mit den Plänen der Mordgesellen, die zu seiner Kenntnis gekommen waren. Als Iris mit ihm zusammengetroffen war, befand er sich auf der Lauer, in dem Glauben, sein Freund würde den kurzen Weg durch den Wald nehmen. Er war sich vollkommen bewußt, daß, wenn es ihm gelingen würde, Arthur zu warnen, er wahrscheinlich mit seinem eigenen Leben dafür büßen müßte. Nach der schrecklichen Entdeckung des Mordes, der auf der Landstraße begangen worden war, und nach der Flucht des Bösewichts, der der Unthat schuldig war, hatten sich Lord Harry und Miß Henley getrennt. Sie hatte ihn verlassen, um nach England zurückzukehren, und sich entschieden geweigert, die Einwilligung zu späteren Zusammenkünften zu geben, um die er sie bat.

An dieser Stelle ihrer Erzählung fühlte Mountjoy sich veranlaßt zu einigen direkteren Fragen, als er sie bisher an Iris gestellt hatte. Vielleicht war es möglich, daß er mit Hilfe der Eindrücke, die Lord Harry auf sie gemacht hatte, Iris von dem übel angebrachten Vertrauen der in Selbsttäuschung befangenen Frau heilen konnte.

»Fügte er sich willig Ihrer Abreise?« fragte er.

»Anfangs nicht,« antwortete sie.

»Hat er Sie von dem Versprechen, das Sie ihm in unüberlegter Weise vor einigen Jahren gegeben haben und durch das Sie sich verpflichteten, ihn zu heiraten, entbunden?«

»Nein.«

»Hat er denn überhaupt bei dieser Gelegenheit jenes Versprechen erwähnt?«

»Er sagte, er würde daran festhalten als an der einzigen Hoffnung seines Lebens.«

»Und was haben Sie darauf erwidert?«

»Ich bat ihn flehentlich, mich nicht elend zu machen.«

»Sagten Sie nichts Bestimmteres als das?«

»Ich konnte es nicht über mich gewinnen, Hugh; ich mußte an alles das denken, was er unternommen hatte, um Arthur zu retten. Aber ich bestand fest auf meiner Abreise und habe sie auch durchgesetzt und ihn verlassen.«

»Erinnern Sie sich, was er beim Abschied zu Ihnen sagte?«

»Er sagte: ›So lange ich lebe, werde ich Dich lieben.‹«

Als sie diese Worte aussprach, nahm ihre Stimme unwillkürlich einen warmen, zärtlichen Klang an, der Mountjoy nicht entging.

»Ich muß ganz sicher sein,« sagte er ernst zu ihr, »über das, was ich Ihrem Vater zu berichten habe, wenn ich zu ihm zurückkomme. Kann ich ihm mit reinem Gewissen die bestimmte Versicherung geben, daß Sie niemals wieder Lord Harry sehen wollen?«

»Ich habe mir vorgenommen, ihn nicht wiederzusehen.« So weit hatte sie mit fester Stimme geantwortet. Ihre nächsten Worte aber wurden zögernd und in stockendem Ton gesprochen. »Ich fürchte jedoch bisweilen,« sagte sie, »daß die Entscheidung darüber nicht immer in meiner Macht bleiben wird.«

»Was soll das heißen?«

»Ich möchte es Ihnen lieber nicht sagen.«

»Das ist eine sonderbare Antwort, Iris.«

»Ich lege großen Wert auf Ihre gute Meinung, Hugh, und ich fürchte, sie dadurch zu verlieren.«

»Nichts hat meine Ansicht von Ihnen jemals geändert,« entgegnete er einfach und ruhig, »und nichts wird sie jemals ändern.«

Sie sah ängstlich mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu ihm hin. Nach und nach verschwand der Ausdruck des Zweifels in ihrem Gesicht; sie wußte, wie sehr er sie liebte – sie beschloß, sich ihm anzuvertrauen.

 

»Seitdem ich Irland verlassen habe,« begann sie, »bin ich – ich weiß nicht, warum – in einen Zustand von abergläubischer Furcht verfallen. Ja, ich glaube an ein Verhängnis, welches mich auch gegen meinen Willen zu Lord Harry zurückführen wird. Zweimal schon, seitdem ich aus meines Vaters Haus geschieden, bin ich mit ihm zusammengetroffen, und jedesmal bin ich die Ursache gewesen, daß er einer großen Gefahr entging und gerettet wurde: das erstemal an dem Meilenstein und das zweitemal bei der Ruine im Walde. Wenn mich mein Vater jetzt noch beschuldigt, daß ich einen Abenteurer liebe, können Sie ihm mit ruhigem Gewissen und vollständig der Wahrheit gemäß sagen, daß ich mich vor diesem Abenteurer fürchte. Ich zittere vor der dritten Begegnung. Ich habe mein Möglichstes gethan, um diesem Mann zu entrinnen; aber Schritt für Schritt, wenn ich denke, ich bin fertig mit ihm, schleppt mich ein unseliges Geschick wieder zu ihm hin. Vielleicht bin ich jetzt wieder, da ich mich in dieser elenden kleinen Stadt sicher geborgen glaubte, auf dem Weg zu ihm. O, verachten Sie mich nicht, Hugh! Schämen Sie sich meiner nicht!«

»Meine liebe Iris, ich nehme Anteil, ich nehme den lebhaftesten Anteil an Ihrem Geschick. Daß es eine derartige, Einfluß ausübende Macht wie das Verhängnis in unserem armseligen irdischen Dasein gibt, wage ich nicht zu leugnen. Aber mit Ihrem Schluß kann ich mich nicht einverstanden erklären. Was das dunkle Verhängnis mit Ihnen und mit mir zu thun vorhat, das vorher zu wissen, können weder Sie noch ich behaupten. In Gegenwart dieses großen Geheimnisses muß die Menschheit sich bescheiden und ihre Unwissenheit zugestehen! Warten Sie, Iris, warten Sie!«

Sie antwortete ihm mit der Einfachheit eines gelehrigen Kindes:

»Ich will alles thun, was Sie mir raten!«

Mountjoy liebte sie zu sehr, um an diesem Tage noch mehr über Lord Harry zu sagen. Er war bemüht, das Gespräch auf ein Thema zu bringen, von dem er mit Sicherheit annehmen konnte, daß es keine aufregenden Gedanken wachrufen würde. Da er Iris allem Anschein nach vollständig eingewöhnt in dem Hause des Doktors vorfand, so war er natürlicherweise sehr begierig, etwas über die Person zu erfahren, welche sie dorthin eingeladen haben mußte – die Frau des Doktors.

Vierzehntes Kapitel

Mountjoy begann von dem zweiten Brief, den Miß Henley an ihren Vater geschrieben hatte, zu sprechen, und kam dabei auch auf die Stelle, in welcher der Mrs. Vimpany in den Ausdrücken der aufrichtigsten Dankbarkeit gedacht wurde.

»Ich würde gern,« sagte er, »mehr von einer Dame erfahren, deren Gastfreundschaft zu Hause ihrer Liebenswürdigkeit als Reisegefährtin gleichzukommen scheint. Trafen Sie zuerst auf der Eisenbahn mit ihr zusammen?«

»Sie fuhr mit demselben Zug nach Dublin, den ich und mein Kammermädchen benützten, aber nicht in dem gleichen Wagen,« antwortete Iris. »Ich hatte dann später auf der Reise von Dublin nach Holyhead das Glück, mit ihr bekannt zu werden. Die Ueberfahrt war sehr stürmisch, und Rhoda litt so entsetzlich unter der Seekrankheit, daß ich ordentlich Angst um sie bekam. Die Aufwärterin war ganz und gar von Damen in Anspruch genommen, die von allen Seiten nach ihr riefen, und ich weiß wirklich nicht, was aus uns geworden wäre, wenn nicht Mrs. Vimpany gekommen wäre und in der liebenswürdigsten Weise ihre Hilfe angeboten hätte. Sie wußte so vortrefflich Bescheid, was zu thun war, daß sie mich ganz in Verwunderung versetzte.

»›Ich bin die Frau eines Arztes,‹ sagte sie, ›und ich mache das nur nach, was ich meinen Mann habe thun sehen, wenn seine Hilfe auf der See bei so schlimmem Wetter wie heute in Anspruch genommen wurde.‹

»Bei ihrem überhaupt sehr schwachen Gesundheitszustand war Rhoda viel zu arg angegriffen, als daß sie hätte mit der Eisenbahn weiterfahren können, als wir in Holyhead ankamen. Sie ist ein vortreffliches Mädchen, und ich habe sie, wie Sie wissen, sehr gern. Wenn ich auf mich allein angewiesen gewesen wäre, dann hätte ich jedenfalls zu einem Arzt geschickt. Was glauben Sie aber, was mir die gute Mrs. Vimpany anriet, zu thun? ›Ihr Kammermädchen ist nur schwach,‹ sagte sie. ›Gönnen Sie ihr Ruhe und geben Sie ihr Wein zu trinken, dann wird sie sich bald wieder erholen und im stande sein, mit dem nächsten gewöhnlichen Zug weiter zu fahren. Sie brauchen keine Angst um sie zu haben; ich werde bei Ihnen bleiben.‹ Und sie blieb auch wirklich. Gibt es denn noch viele solche Menschen, Hugh, die so uneigennützig anderen, ihnen ganz Fremden so viel Gutes erweisen, wie meine zufällige Reisebekanntschaft vom Dampfboot?«

»Ich fürchte, deren sind nur verschwindend wenige.«

Mountjoy gab diese Antwort nicht ohne eine kleine Verlegenheit, denn er fühlte, daß in ihm ein gelinder Zweifel an der uneigennützigen Liebenswürdigkeit der Mrs. Vimpany aufstieg, und das war eines echten Mannes unwürdig.

Iris fuhr in ihrer Erzählung fort:

»Rhoda hatte sich hinreichend erholt, um mit dem nächsten Zuge weiterreisen zu können, und es schien kein Grund vorhanden, noch irgendwie ängstlich zu sein. Aber nach einiger Zeit zeigte sich doch, daß die Anstrengung der Reise für sie zu groß gewesen war. Das arme Mädchen wurde immer blasser und bekam schließlich eine Ohnmacht. Mrs. Vimpany brachte sie wieder zum Leben zurück, aber, wie sich bald herausstellte, nur für kurze Zeit. Sie bekam einen neuen Ohnmachtsanfall, und meine Reisegefährtin fing jetzt auch an, ängstlich zu werden. Es kostete einige Schwierigkeit, Rhoda wieder zum Bewußtsein zu bringen. Aus Furcht vor einem neuen Anfall beschloß ich, an der nächsten Station den Zug zu verlassen und dort zu bleiben. Der Ort sah aber so ärmlich aus, als wir ihn erreichten, daß ich Bedenken trug, mein Vorhaben auszuführen. Mrs. Vimpany überredete mich, mit ihr weiter zu fahren. Die nächste Station, sagte sie, wäre ihr Ziel. ›Bleiben Sie dort,‹ bemerkte sie, ›und lassen Sie meinen Gatten nach dem Mädchen sehen. Ich sollte vielleicht nicht davon sprechen, aber Sie werden schwerlich außerhalb Londons einen besseren Arzt finden.‹ Ich nahm den Vorschlag der liebenswürdigen Dame dankbar an. Was hätte ich auch sonst anderes machen sollen?«

»Was würden Sie denn gethan haben,« fragte Mountjoy, »wenn Rhoda kräftig genug gewesen wäre, um die Reise noch weiter fortsetzen zu können?«

»Ich würde dann nach London gegangen sein und einstweilen meine Wohnung in einem Hotel genommen haben – Sie waren ja in London, wie ich annehmen konnte, und mein Vater würde sich wohl mit der Zeit haben erweichen lassen. Wenn es so gewesen wäre, dann würde ich erst einen deutlichen Begriff von meiner verlassenen Lage bekommen haben. Daß ich aber das Glück hatte, mit so liebenswürdigen Leuten wie Doktor Vimpany und seiner Gattin zusammenzutreffen, war es für ein so verlassenes, freundloses Wesen, wie ich bin, eine wahre Wohlthat – gar nicht zu reden von dem großen Vorteil, den diese Liebenswürdigkeit Rhoda bot, welche von Tag zu Tag sich zusehends erholte. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie Mrs. Vimpany sehen könnten; vielleicht ist sie zu Hause. Sie ist ein wenig förmlich und altmodisch in ihren Manieren – aber ich glaube bestimmt, daß sie Ihnen gefallen würde. O, sehen Sie sich nur einmal hier im Zimmer um! Sie sind arm, fürchterlich arm für Leute in ihrer Stellung, meine würdigen, braven Freunde. Ich habe die größte Schwierigkeit gehabt, bis sie mir nur gestatteten, meinen Teil zu den Haushaltungskosten beizusteuern. Sie willigten erst dann ein, als ich drohte, ich würde in den Gasthof gehen. Sie sehen aber so ernst aus, Hugh. Ist es denn möglich, daß Sie irgend etwas Unrechtes darin finden, daß ich mich hier in diesem Hause aufhalte?«

Die Thüre des Empfangszimmers wurde leise geöffnet, gerade in dem Moment, als Iris diese Frage stellte. Eine Dame erschien auf der Schwelle. Als sie den Fremden erblickte, wendete sie sich an Iris.

»Ich wußte nicht, meine liebe Miß Henley, daß Sie Besuch hatten. Entschuldigen Sie daher mein Eintreten.«

Die Stimme war tief; die Aussprache war deutlich; ihr Lächeln zeigte eine bescheidene Würde, welche ihr ein gewisses Selbstbewußtsein verlieh. Iris hielt sie zurück, als sie eben im Begriff war, das Zimmer wieder zu verlassen.

»Ich habe soeben den Wunsch ausgesprochen, daß Sie zu Hause sein möchten,« sagte Miß Henley. »Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen alten Freund, Mr. Mountjoy, vorstelle. Hugh, das ist die Dame, welche so außerordentlich liebenswürdig gegen mich gewesen ist – Mrs. Vimpany.«

Hugh beabsichtigte, unter diesen Umständen eine Verbeugung zu machen und der Dame des Hauses die Hand zu geben. Mrs. Vimpany begegnete diesem freundlichen Entgegenkommen mit einer außerordentlichen Zierlichkeit in ihren Bewegungen, wie sie nicht oft in unseren Tagen, die so wenig auf Zeremonien geben, gesehen wird. Mrs. Vimpany war eine große, schmächtige Dame. Durch künstliche Mittel hatte sie ihrer Erscheinung auf so geschickte Weise nachzuhelfen gewußt, daß es fast den Anschein hatte, als ob es natürlich wäre. Ihre Wangen hatten die Fülle der Jugend verloren, aber ihr Haar zeigte, vielleicht auch wieder infolge der angewendeten künstlichen Mittel, noch keine Spuren des nahenden Alters. Der Ausdruck ihrer großen schwarzen Augen, die vielleicht etwas zu nahe an ihrer stark ausgebildeten Adlernase standen, heischte Bewunderung von jeder Person, welche so glücklich war, in ihren Gesichtskreis zu kommen. Ihre Hände, die lang, gelb und bejammernswürdig mager waren, bewegte sie mit viel Grazie. Ihr Anzug hatte bessere Tage gesehen, aber sie wußte ihn in einer Art zu tragen, welche es eigentlich unmöglich machte, seinen wirklichen Zustand zu erkennen. Ein dünner Spitzenkragen umschloß ihren Hals und fiel in dürftigen Falten über ihre Schultern herab.

Sie ließ sich in einen Stuhl an Iris' Seite nieder.

»Es gereichte mir zum großen Vergnügen, Mr. Mountjoy, meine geringfügigen Dienste Miß Henley anbieten zu können,« sagte sie; »ich vermag gar nicht auszudrücken, wie glücklich mich ihre Gegenwart in unserem kleinen Hause macht.«

Das Kompliment war an Iris gerichtet in einem äußerst liebenswürdigen Ton und mit einem Lächeln in dem Gesicht, so freundlich sie es hervorzubringen vermochte. So wunderlich und gekünstelt, wie es unzweifelhaft war, machte das Benehmen der Mrs. Vimpany nichtsdestoweniger einen angenehmen Eindruck. Mountjoy war zuerst geneigt gewesen, ihr mit Mißtrauen zu begegnen, fand aber während des Gespräches, daß sie es verstanden hatte, eine günstige Aenderung seiner Meinung betreffs ihrer Person herbeizuführen. Sie interessirte ihn jetzt so, daß er begann, neugierig zu werden, wie ihr Leben wohl gewesen sei, als sie noch jung und hübsch war. Er betrachtete wieder die Bilder der Schauspielerinnen an den Wänden und die Bücher auf dem Bücherbrett, und dann warf er, während sie mit Iris sprach, verstohlen einen listigen Blick auf die Dame des Hauses. War es denn möglich, daß diese merkwürdige Frau einstmals eine Schauspielerin gewesen war? Er versuchte, sich hierüber Gewißheit zu verschaffen, indem er eine liebenswürdige Bemerkung über die Bilder machte.

»Meine Erinnerungen als Theaterbesucher reichen nicht weit zurück,« begann er, »aber Ihre schönen Bilder erregen in mir ein historisches Interesse.«

Mrs. Vimpany machte eine graziöse Verbeugung, sagte aber nichts. Hugh Mountjoy versuchte daher zum zweitenmale sein Glück.

»Man sieht nicht oft die berühmten Schauspielerinnen vergangener Tage,« fuhr er fort, »in so guten Darstellungen und Bildern an den Wänden eines englischen Hauses.«

Diesmal hatte er mit seinen Worten einen besseren Erfolg, denn Mrs. Vimpany antwortete ihm: »Ich stehe in vielerlei angenehmen Verbindungen mit dem Theater, die schon aus meinen Mädchenjahren herrühren.«

Mountjoy erwartete, nun noch mehr zu hören, aber es wurde nichts weiter gesagt. Vielleicht blickte die verschwiegene Dame nicht gern auf jene Zeit zurück nach einer so langen Reihe von dazwischenliegenden Jahren, oder sie hatte vielleicht auch ihre Gründe, Mr. Mountjoys Verlangen nach der Wahrheit nicht zu befriedigen. Auf jeden Fall ließ sie mit Absicht dieses Gesprächsthema fallen; Iris nahm es jedoch wieder auf. Sie saß an dem einzigen Tisch in dem Zimmer und befand sich so gerade gegenüber einem der Bilder – dem ausgezeichneten Porträt der Mrs. Siddons als tragische Muse.

»Ich möchte wohl wissen, ob Mrs. Siddons wirklich so schön gewesen ist wie auf diesem Bild,« sagte sie, indem sie auf das Gemälde zeigte. »Sir Josua Reynolds soll, wie man sich erzählt, seinen Originalen sehr geschmeichelt haben.«

Mrs. Vimpanys große, selbstbewußte Augen erstrahlten plötzlich in höherem Glanz; der Name dieser großen Schauspielerin schien ihr Interesse zu wecken, aber im Begriff, wie es schien, zu sprechen, ließ sie den Gegenstand ebenso fallen wie vorher bei dem allgemeineren Gespräch über das Theater. Mountjoy konnte nicht umhin, selbst Iris zu antworten.

 

»Keines von uns ist alt genug,« erinnerte er sie, »um zu entscheiden, ob Sir Josua Reynolds' Pinsel sich der Schmeichelei schuldig gemacht hat oder nicht.«

Darauf wendete er sich wieder an Mrs. Vimpany und versuchte es nun auf einem andern Weg, einen Einblick in ihr früheres Leben zu gewinnen.

»Als Miß Henley so glücklich war, Ihre Bekanntschaft zu machen,« sagte er, »waren Sie auf einer Reise in Irland begriffen. War dies Ihr erster Besuch in diesem unglücklichen Lande?«

»Ich bin mehr als einmal in Irland gewesen.«

Nachdem sie so wiederum mit voller Ueberlegung die Erwartungen Hugh Mountjoys getäuscht hatte, wurde sie jetzt durch eine rechtzeitige Unterbrechung von der Weiterfortsetzung des Gespräches befreit. Es war die Stunde, wo die Nachmittagspost abgeliefert zu werden pflegte. Das Dienstmädchen trat in das Zimmer mit einem kleinen versiegelten Paket und hatte außerdem noch ein bedrucktes Papier in der Hand.

»Es ist eingeschrieben, Frau Doktor,« sagte das Mädchen. »Der Postbote bittet Sie, den Zettel zu unterschreiben. Er scheint Eile zu haben.«

Sie legte das Paket und das Blatt Papier auf den Tisch in die Nähe des Tintenfasses. Nachdem Mrs. Vimpany den Schein unterzeichnet hatte, nahm sie das Paket in die Hand und sah nach der Adresse. Sofort blickte sie zu Iris hin und wendete dann ebenso schnell ihre Augen wieder weg.

»Bitte, entschuldigen Sie mich einen Augenblick,« sagte sie und verließ rasch das Zimmer, ohne das Paket zu öffnen.

In dem Moment, als sich die Thür hinter ihr schloß, sprang Iris auf und eilte zu Mountjoy hin.

»O Hugh,« sagte sie, »ich sah die Adresse auf dem Paket, als das Dienstmädchen es auf den Tisch legte.«

»Was kann Sie denn an dieser Adresse so erregen, liebe Iris?«

»Bitte, sprechen Sie nicht so laut! Sie horcht vielleicht vor der Thür.«

Nicht nur die Worte, sondern auch der Ton, in welchem sie gesprochen waren, überraschten Mountjoy. »Meinen Sie Ihre Freundin, Mrs. Vimpany?« rief er aus.

»Mrs. Vimpany scheute sich, das Paket in unserer Gegenwart zu eröffnen,« fuhr Iris fort. »Sie müssen es ja selbst bemerkt haben. Die Handschrift war mir bekannt; ich weiß genau, wer die Adresse geschrieben hat.«

»Nun, wer denn?«

Sie flüsterte ihm leise ins Ohr:

»Lord Harry!«