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Blinde Liebe

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Siebenundfünfzigstes Kapitel

Nach einiger Zeit empfing Fanny einen Brief von Lady Harry, die ihr über ihre ersten Londoner Erlebnisse berichtete. Bei ihrer Ankunft war sie auf dem Bahnhof von Mrs. Vimpany empfangen worden, an welche sie telegraphisch die Bitte gerichtet hatte, sie dort zu erwarten. Lady Harrys erste Frage betraf natürlich ihren Vater. Mrs. Vimpany antwortete augenscheinlich etwas verwirrt und halb beschämt, es sei durchaus kein Grund zu ernsteren Befürchtungen vorhanden.

Iris atmete erleichtert auf, fragte aber sofort weiter, seit wann die glückliche Wendung zum Bessern eingetreten. Da erfuhr sie denn zu ihrem nicht geringen Befremden, daß es um ihren Vater gar nie so schlimm gestanden habe, wie sie aus dem an sie gelangten Telegramm schließen mußte. Mrs. Vimpany hatte nur zufällig erfahren, er sei von einem Podagraanfall heimgesucht worden. Das war alles. Zugleich aber hatte Fannys Brief sie mit einer so lebhaften Sorge um Lady Harry erfüllt, daß sie den nächsten besten Vorwand benützte, um die Lady von Passy zu entfernen.

»Wenn ich daran dachte,« sagte sie, »daß Sie sich in der Gewalt meines elenden Mannes befänden, der, wie es mir nur zu klar ist, an Ihrem Gatten einen würdigen Genossen gefunden hat, vermochte ich nicht anders zu handeln, als ich gethan. Ich schäme mich vor mir selber; aber, Lady Harry, ich hatte zu große Angst um Sie. Bitte, verzeihen Sie mir! Ich liebe Sie ja so sehr und bin so glücklich, Sie jetzt hier in Sicherheit zu wissen. Gehen Sie nicht wieder zurück! Um Gottes willen, gehen Sie nicht wieder zurück!«

Iris hatte auch gar nicht die Absicht, zurückzukehren, so lange der Doktor und sein Patient sich in Passy aufhielten, und sie fand in Mrs. Vimpanys herzlicher Teilnahme guten Grund, ihr eine Voreiligkeit zu vergeben, die sie nur aus aufrichtiger Liebe zu ihr begangen und durch ehrliches Bekenntnis wieder gut gemacht hatte.

Fanny las aufmerksam die nächste Seite des Briefes, auf welcher Lady Harry ihr erstes Zusammentreffen mit Mr. Mountjoy nach seiner Krankheit schilderte. Die Ausdrücke des Glücks, in denen ihre Herrin über die Wiedererneuerung ihrer freundschaftlichen Beziehungen zu ihrem alten und lieben Freund sprach, bestärkten Fanny in ihrer ersten Empfindung, daß vorderhand keine Furcht vorhanden sei, Iris würde zu vorzeitig nach Passy zurückkehren mit der Entschuldigung, daß sie sehnsüchtiges Verlangen, Lord Harry wiederzusehen, empfunden habe.

Auch nach dem, was auf der letzten Seite des Briefes stand, schien Mr. Mountjoys Einfluß sich in heilsamster Weise geltend zu machen. Daneben fanden sich auch einige Stellen, in welchen Iris Befürchtungen wegen Fannys Sicherheit aussprach und ihre Begierde, zu erfahren, welche Entdeckungen ihr Mädchen wohl schon gemacht habe. Die einzige Erwähnung Mylords bestand in oberflächlicher Nachfrage nach seinem Befinden. War das nun ein Beweis dafür, daß ihre Gefühle für ihren Gatten abgestumpft waren, oder legte sie sich nur der Dienerin gegenüber Zurückhaltung auf?

Achtundfünfzigstes Kapitel

»Haben Sie bereut und Ihren Sinn geändert?« fragte Lord Harry den Doktor.

»Ich – bereut?« antwortete dieser lachend. »Halten Sie mich einer solchen Dummheit für fähig?«

»Der Mann wird jeden Tag kräftiger und gesünder. Sie gehen also doch damit um, ihn wiederherzustellen. Ich fürchtete« – er verbesserte sich – »ich dachte,« – das war der richtigere Ausdruck – »Sie wollten ihn vergiften.«

»Sie dachten, ich wollte – das heißt, wir wollten, Mylord – ein solch thörichtes und nutzloses Verbrechen begehen, und dieses auch noch, während unsere kluge Pflegerin anwesend ist und die ganze Zeit aufpaßt mit dem Argwohn einer Katze und jede Veränderung in dem Befinden des Kranken wahrnimmt? – Nein; ich gestehe zudem, sein Fall hat mich anfangs beunruhigt, weil ich nicht diese günstige Wendung in seinem Befinden voraussetzte. Nun, es ist das Beste, Fanny Mere sieht ihn jeden Tag kräftiger werden. Was dann auch geschehen mag, sie kann bezeugen, mit welcher Sorgfalt der Mann behandelt worden ist. Sie dachte, sie hätte uns in der Tasche, und wir haben sie.«

»Sie sind furchtbar klug, Vimpany, aber manchmal sind Sie doch zu klug für mich, vielleicht zu klug für sich selbst.«

»Ich werde mich Ihnen deutlicher erklären,« sagte der Doktor, und wohlbekannt mit dem Argwohn der Pflegerin, lehnte er sich vorwärts und flüsterte Lord Harry ins Ohr: »Fanny muß fort, jetzt ist es höchste Zeit; der Mann befindet sich auf dem Weg der Besserung, der Mann muß verschwinden, und der nächste Patient werden Sie selbst sein, Mylord. Verstehen Sie mich jetzt?«

»Zum Teil.«

»Das genügt vollständig. Wenn ich handeln soll, so ist es hinreichend, wenn Sie nur nach und nach mich verstehen. Unsere argwöhnische Pflegerin aber muß fort. Das ist zunächst notwendig. Ueberlassen Sie es ruhig mir, sie zu entfernen.«

Lord Harry ging weg; er überließ die Sache dem Doktor. Sie schien ihn überhaupt gar nicht weiter zu berühren, wenn ihm auch sein Schuldbewußtsein etwas Unbehagen verursachte. Er trug das Abschiedsbillet seiner Frau bei sich: »Darf ich hoffen, bei meiner Rückkehr den Mann zu finden, dem ich vertraut, den ich geachtet habe?« Sein Gewissen quälte ihn mit Vorwürfen, so oft er – und das geschah wohl fünfzigmal am Tage! – das kleine Stück Papier aus seinem Notizbuch nahm und es wieder durchlas. Ja, sie würde immer den Mann bei ihrer Rückkehr finden, den Mann, dem sie vertraut, den sie geachtet hatte – den letzten Zusatz überging er jedoch – es würde natürlich derselbe Mann sein; ob sie aber noch im stande sein würde, ihm zu trauen, ihn zu achten, diese Frage stellte er sich gar nicht. Uebrigens führte ja der Doktor die Sache aus und nicht er.

Dann dachte er an Hugh Mountjoy, und seine alte Eifersucht wurde sofort wieder lebendig. Iris würde jetzt bei ihm sein, bei dem Mann, dessen Liebe zu ihr nur deutlicher durch seine Achtung, seine Ergebenheit und sein Zartgefühl zu Tage trat; sie würde in seiner Gesellschaft verweilen; sie würde die wahre Bedeutung dieser Achtung und dieses Zartgefühls verstehen lernen; sie würde die Tiefe seiner Ergebenheit würdigen; sie würde Hugh, den Mann, den sie hätte heiraten können, mit ihm, dem Mann, den sie geheiratet hatte, vergleichen.

Und sein Haus war ohne sie so traurig, so öde. Er verabscheute in seiner Verzweiflung und in seinem Leichtsinn den Anblick des Doktors.

Er beschloß, an Iris zu schreiben, setzte sich hin und schüttete ihr sein ganzes Herz aus, aber zu einem Geständnis der Wahrheit kam es nicht.

»An unserer Trennung bin ich, nur ich ganz allein, schuld; es ist mein eigenes abscheuliches Benehmen gewesen, das sie herbeigeführt hat. Verzeihe mir, liebste Iris. Wenn ich es Dir unmöglich gemacht habe, mit mir weiter zu leben, so ist es unmöglich für mich, ohne Dich zu leben. Das ist meine Strafe. Das Haus ist öde und leer; die Stunden schleichen langsam dahin, ich weiß nicht, wie ich sie herumbringen soll; mein Leben ist für mich eine Qual und eine Last geworden, da Du nicht mehr bei mir bist. Und doch habe ich kein Recht zu klagen; ich sollte mich freuen, wenn ich daran denke, daß Du glücklich bist, von meiner Gesellschaft befreit zu sein. Liebling, ich bitte Dich nicht, jetzt zurückzukommen,« – er erinnerte sich wirklich daran, daß ihre Zurückkunft in diesem kritischen Zeitpunkt von sehr ernsten Folgen sein konnte – »ich kann Dich noch nicht bitten, zurückzukommen, aber laß mir nur ein wenig Hoffnung; laß mich empfinden, daß Du in Deiner unaussprechlichen Güte an meine Reue glaubst, und laß mich mit Vertrauen vorwärts blicken auf eine Wiedervereinigung in naher Zukunft.«

Er adressirte diesen Brief an Lady Harry Norland unter der Adresse von Hugh Mountjoy in dessen Hotel in London. Mountjoy würde den Schreiber nicht erraten und sicherlich den Brief an Iris abgeben. Da er genau wußte, wie sehr ihn seine Frau liebte, so rechnete er darauf, daß Iris ihm auf halbem Weg entgegenkommen und zurückkehren würde, sobald er in der Lage war, sie zurückzurufen. Er hatte, wie wir sehen werden, die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Nachdem er den Brief abgeschickt, kehrte er glücklicher und heiterer in die Villa zurück; er hoffte ja nun bald seine Frau wieder bei sich zu haben. Er blickte in das Krankenzimmer. Der Kranke saß im Bett aufrecht und plauderte munter. Es war der beste Tag, den er bis jetzt während seiner Krankheit gehabt hatte. Der Doktor saß neben seinem Bett auf einem Stuhl, und die Pflegerin stand ruhig und in sich versunken dabei, aber nichtsdestoweniger wachsam und argwöhnisch.

»Sie machen so rasche Fortschritte, mein Lieber,« sagte Doktor Vimpany, »daß wir Sie in einem oder zwei Tagen außer dem Bett sehen werden. Sie sind zwar noch nicht ganz wieder hergestellt, noch nicht ganz.« Er zog sein Stethoskop heraus und untersuchte nochmals die Lunge, wobei er ein außerordentliches wissenschaftliches Interesse heuchelte. »Meine Behandlungsweise hat, wie Sie sehen, Erfolg gehabt,« – er machte sich einige Notizen in sein Taschenbuch – »sie hat Erfolg gehabt,« wiederholte er, »Sie werden das selbst zugeben müssen.«

»Gütiger Herr, ich bin Ihnen unaussprechlich dankbar – ich habe Ihnen so sehr viele Mühe gemacht!«

»Ein solch interessanter Krankheitsfall kann niemals zu viele Mühe machen,« entgegnete der Doktor, »das ist unmöglich. Denken Sie nur daran, Oxbye, daß es sich hier um die Wissenschaft handelt. Sie sind nicht Oxbye, Sie sind ein Fall, – nicht ein Mann, sondern ein Teil der Maschine ist in Unordnung geraten. Die Wissenschaft wacht an der Seite Ihres Krankenlagers, sie schaut Sie durch und durch. Obgleich Sie aus festem Fleisch und Knochen bestehen und auch Kleider anhaben, sind Sie für die Wissenschaft doch ganz durchsichtig. Doch handelt es sich für sie nicht nur darum, Ihre Krankheitserscheinungen zu beobachten, sondern sie will auch die Maschine wieder vollständig in Ordnung bringen.«

 

Der Däne war ganz überwältigt von diesen hochtrabenden Worten und konnte nur seinen Dank immer von neuem aussprechen.

»Ob er wohl stehen kann? – Was glauben Sie, Wärterin?« fuhr der Doktor, an Fanny gewendet, fort; »wir wollen es einmal versuchen. Er soll heute nicht gleich allzu viel herumgehen, sondern nur einmal aus dem Bett heraus, und wenn der Versuch nur dazu dient, ihm selbst zu beweisen, daß es mit ihm schon viel besser geht. Wir müssen ihn überzeugen, daß er schon fast ganz gesund ist. Kommen Sie, Wärterin, wir wollen ihn an der Hand halten.«

Der Däne fühlte sich natürlich noch sehr schwach, nachdem er so lange an das Bett gefesselt gewesen war. Liebevoll unterstützte ihn Mr. Vimpany, als er an das Fenster ging und in den Garten hinaussah.

»So,« sagte er, »jetzt ist es für heute genug. Nur nicht gleich zu viel fürs erstemal. Morgen wird er schon allein aufstehen und herumgehen können. Nun, Fanny, Sie sind jetzt mit mir doch der gleichen Meinung, wie ich hoffe, daß ich den Kranken wieder gesund gemacht habe? Nicht wahr, endlich glauben Sie es doch auch?«

Sein Blick zeigte deutlich, was er meinte. »Sie dachten,« sagte dieser Blick, »daß irgend ein Schurkenstreich beabsichtigt sei? Sie haben sich als Pflegerin für diesen Mann nur aus dem Grund angeboten, weil Sie uns überwachen und diesen Schurkenstreich entdecken wollten! – Nun, was haben Sie jetzt zu sagen?« fügte der Doktor laut hinzu.

Alles, was Fanny zu sagen hatte, war das in bescheidener Weise gegebene Zugeständnis, daß der Mann sich ausfallend erholt und sein Befinden sich stetig gebessert habe, seit er in die Villa gebracht worden.

Solches besagten ihre Worte; im Herzen aber war sie immer noch voller Zweifel und Argwohn.

Wir wollen nicht darüber rechten, wie weit des Doktors Scharfblick ging, wo es sich darum handelte, den Zustand der Lungen und des ganzen inneren Organismus zu erkennen; sicher aber ist, daß er die Fähigkeit besaß, in der Seele einer Frau zu lesen. Er erkannte so deutlich, als ob es vor ihm auf ein Stück Papier gezeichnet wäre, welche Verwirrung in Fanny's Gedanken herrschte. Sie wußte, es war etwas beabsichtigt, was sie nicht wissen sollte. Daß der Mann nur darum in die Villa gebracht worden war, um einem wissenschaftlichen Experiment zu dienen, glaubte sie nun und nimmermehr; sie hatte gedacht, sie würde ihn sterben sehen; aber er starb nicht, sondern es ging ihm von Tag zu Tag besser, so daß er in kurzer Zeit wieder so gesund sein würde, wie er es jemals in seinem Leben gewesen war. Zu welchem Zweck hatte das nun der Doktor gethan? Hier stand sie vor einem Rätsel, über dessen Lösung sie vorerst vergeblich grübelte; nur etwas Gutes traute sie dem Doktor auch jetzt nicht zu.

»Die Zeit ist endlich gekommen,« sagte, sie durchschauend, der schlaue Vimpany an diesem Abend, als er mit Lord Harry allein war, »wo dieses Mädchen fort muß. Der Mann wird sich jetzt sehr rasch wieder erholen und bedarf dann keiner Pflegerin mehr; deshalb ist auch kein Grund vorhanden, sie länger zu behalten. Wenn sie immer noch Verdacht hegt, so hat sie dazu nicht den geringsten Grund; sie hat bei der Behandlung eines fast hoffnungslosen Kranken durch einen geschickten Arzt geholfen. Was will sie mehr? Nichts, gar nichts!«

»Kann sie meiner Frau so viel, aber sonst nichts weiter erzählen?« fragte Lord Harry. »Weiß sie wirklich nichts mehr?«

»Sie kann Lady Harry nicht mehr erzählen als das, weil sie nicht mehr weiß und wir nicht mehr sagen,« antwortete der Doktor ruhig. »Sie würde gewiß gern tiefer in unsere Geheimnisse eindringen; sie ist furchtbar enttäuscht, daß sie nichts weiter zu erzählen hat, aber sie soll ganz gewiß nichts mehr ergründen. Sie haßt mich, aber sie haßt Sie, lieber Freund, noch viel mehr.«

»Warum?«

»Weil sie ihre Herrin noch liebt. Solch eine Frau wie sie pflegt die ganze Liebe, deren sie fähig ist, auf eine Person zu konzentriren. – Sie lachen? – Sie ist ein Dienstbote und ein gewöhnliches, ungebildetes Mädchen. Es ist allgemein bekannt, und es sind schon sehr viele Fälle dagewesen, daß eine solche Frau – sagen wir ein Dienstmädchen, welches noch tiefer steht und das eine ganz übertriebene Verehrung für ihre Herrin hegt – dabei zugleich von der heftigsten Eifersucht beseelt war. Fanny Mere ist auch eifersüchtig und zwar auf Sie, lieber Freund. Sie haßt Sie und möchte gar zu gern, daß Ihre Frau Sie auch hassen soll. Ihr würde nichts angenehmer und erwünschter sein, als wenn sie jetzt zu ihrer Herrin zurückkehren könnte und in den Händen die Beweise solcher Handlungen Ihrerseits hätte – ich sage solcher Handlungen« – er wählte seine nächsten Worte sorgfältig aus – »welche Ihre Frau für immer von Ihnen trennen würden.«

»Dann ist sie ja ein wahrer Teufel,« rief Lord Harry; »aber was geht das schließlich mich an? Was thut es mir, wenn das Kammermädchen einer Lady mich mehr oder weniger haßt oder liebt?«

»Das sprach der Aristokrat, Mylord. Erinnern Sie sich gefälligst daran, daß das Kammermädchen einer Dame auch ein Weib ist. Sie sind wahrscheinlich in der Ansicht aufgewachsen und auferzogen worden, daß Dienstboten überhaupt keine Menschen sind. Das ist ein Irrtum – ein großer Irrtum. Kein Mensch in der Welt ist so niedrig gestellt, daß er nicht im stande wäre, Unheil anzustiften. Die Fähigkeit dazu ist einem jeden von uns gegeben. Dies ist die wahre, die einzige Gleichheit unter den Menschen; wir haben alle die Kraft, zu zerstören. Und auf mein Wort, es ist viel gefährlicher, von einer Frau gehaßt zu werden als von einem Mann. Aber seien Sie unbesorgt! Morgen werden wir Fanny Mere zum letztenmale sehen.«

Am nächsten Vormittag besuchte der Doktor seinen Patienten viel früher als gewöhnlich. Er fand den Dänen in dem besten Wohlsein vor, lebhaft und heiter mit seiner Pflegerin plaudernd. »So,« sagte Mr. Vimpany nach der gewöhnlichen Untersuchung und den üblichen Fragen, »das geht ja besser, als ich erwartete. Jetzt sind Sie wieder im stande, allein aufzustehen. Sie können es nach dem Frühstück langsam versuchen; Sie können sich selbst anziehen; Sie brauchen keine Hilfe mehr. Pflegerin,« wendete er sich an Fanny, »wir haben Sie, wie ich glaube, nicht mehr nötig. Ich bin sehr zufrieden mit der aufmerksamen Pflege, die Sie meinem Patienten haben angedeihen lassen. Wenn Sie jemals daran denken sollten, den Beruf einer Krankenpflegerin zu wählen, dann beziehen Sie sich nur auf meine Empfehlung. Mein Versuch,« setzte er nachdenklich hinzu, »ist vollkommen geglückt; ich kann nicht leugnen, daß ich dies zum Teil der Klugheit und Geduld zu danken habe, mit der Sie meine Befehle ausführten, aber ich glaube, daß Ihre Dienste jetzt überflüssig geworden sind.«

»Wann soll ich gehen?« fragte Fanny ruhig.

»In jedem andern Fall würde ich gesagt haben: Bleiben Sie noch etwas länger, so lange es Ihnen beliebt; richten Sie es ganz nach Ihrer eigenen Bequemlichkeit ein. In Ihrem Fall muß ich jedoch sagen: Gehen Sie sofort zu Ihrer Herrin. Lady Harry war sehr betrübt, daß sie Sie hier lassen mußte; sie wird sich daher freuen, wenn Sie wieder zu ihr zurückkommen. Wie lange werden Sie Zeit brauchen, um sich zur Abreise fertig zu machen?«

»Ich könnte, wenn es nötig wäre, in zehn Minuten fertig sein.«

»Das ist nicht nötig. Sie können den Nachtzug nach Dieppe benützen. Er verläßt Paris um neun Uhr fünfzig abends. Sie brauchen eine Stunde, um von einer Station zur andern zu gelangen. Wenn Sie daher nur vor sieben Uhr von hier wegfahren, so haben Sie vollkommen Zeit. Sie werden Lord Harry fragen, ob er Ihnen Briefe oder sonst einen Auftrag mitzugeben hat.«

»Gut, Sir,« antwortete Fanny. »Mit Ihrer Erlaubnis werde ich sogleich weggehen, damit ich den Tag für mich in Paris habe.«

»Ganz, wie Sie wollen, ganz, wie Sie wollen,« sagte der Doktor, der sich nicht denken konnte, warum sie einen vollen Tag in Paris bleiben wollte; aber es konnte ja in gar keinem Zusammenhang mit dem kranken Dänen stehen. Er verließ das Zimmer, nachdem er vorher noch versprochen hatte, in einer oder zwei Stunden wieder nach Mr. Oxbye zu sehen. Dann stellte er sich an dem Gartenthor auf, durch welches Fanny Mere das Haus verlassen mußte. Ungefähr nach einer halben Stunde kam sie den Weg entlang mit ihrer Reisetasche. Der Doktor öffnete ihr die Thür.

»Leben Sie wohl, Fanny,« sagte er; »nochmals meinen besten Dank für Ihre Sorgfalt. Ich bin sehr froh,« fügte er mit seinem, wie er glaubte, süßesten Lächeln hinzu, was aber doch nur wie ein Grinsen aussah, »daß Ihre Bemühungen in einer solchen Weise gekrönt worden sind, wie Sie wohl selbst kaum erwartet haben.«

»Ich danke Ihnen, Sir,« antwortete das Mädchen. »Mr. Oxbye ist jetzt in der That wieder fast ganz gesund und kann sich daher wirklich ohne mich behelfen.«

»Die Tasche ist aber viel zu schwer für Sie, Fanny. – Nein, nein, geben Sie sie nur her, ich werde sie Ihnen bis zum Omnibus tragen.«

Es war nicht weit bis zum Omnibus, und die Tasche war auch nicht zu schwer, aber Fanny fügte sich. »Er will sehen, ob ich auch wirklich abreise,« dachte sie.

»Ich will meiner Sache gewiß sein!« dachte er.

Der Doktor kehrte gedankenvoll in das Haus zurück. Jetzt war der Zeitpunkt für die Ausführung seines Planes gekommen. Jedes Hindernis war aus dem Wege geräumt.

»Sie ist fort,« sagte er, als Lord Harry gegen elf Uhr zum Frühstück zurückkehrte. »Ich sah sie mit dem Omnibus nach dem Westbahnhof fahren.«

»Sie ist fort,« wiederholte sein Verbündeter, »und ich bin nun allein in diesem Hause mit Ihnen und mit –«

»Mit dem Kranken – in Zukunft Sie selbst, Mylord.«

Neunundfünfzigstes Kapitel

Vimpany täuschte sich, denn ganz unbemerkt kehrte Fanny zurück. Es ließ ihr keine Ruhe; sie mußte dem Doktor auf die Schliche kommen.

In Paris am Bahnhof aus dem Omnibus gestiegen, hatte sie zunächst ein nahegelegenes Hotel aufgesucht, in welchem sie ihre Reisetasche abstellte. Dann hatte sie die Zeit mit Spazierengehen verbracht, um sich die Läden und die Straßen anzusehen, wie sie auf Befragen erklärt haben würde; – um sich einen bestimmten Plan auszudenken, wie sie eigentlich hätte erklären müssen. Sie kaufte sich ein neues Kleid, einen neuen Hut und einen sehr dichten Schleier, der sie auf eine gewisse Entfernung hin unkenntlich machte. Einer Entdeckung durch den Doktor zu entgehen, wenn sie mit ihm in der Nähe zusammentraf, das war unmöglich. Aber sie war fest entschlossen, alles zu wagen; sie wollte sich jeder Gefahr aussetzen, um sich nur über Vimpanys Absichten Klarheit zu verschaffen.

Am nächsten Morgen kehrte sie mit dem Omnibus zurück, so daß sie die Villa ungefähr um ein Viertel auf zwölf Uhr wieder erreichen konnte. Sie wählte diese Zeit aus zwei Gründen: erstens, weil das Frühstück um elf Uhr aus dem Restaurant geschickt wurde und die Herren daher sicherlich um diese Zeit in dem Speisezimmer bei dem Frühstückstisch saßen, und zweitens, weil der Doktor jedesmal nach dem Frühstück seinen Kranken besuchte. Sie konnte daher hoffen, ungesehen ins Haus zu kommen, und das war zunächst notwendig. Das Schlafzimmer, welches dem Kranken, seitdem er sich wohler befand, angewiesen war, lag im Erdgeschoß neben dem Speisezimmer; es stand mit dem Garten durch große Flügelthüren und eine Freitreppe in Verbindung.

Fanny ging vorsichtig den Weg vor der Gartenthür entlang; ein rascher Blick überzeugte sie, daß niemand zu sehen war; sie öffnete hastig die Thür und schlüpfte hinein. Sie wußte, daß die Fenster des Krankenzimmers von innen geschlossen und die Rouleaux noch herabgelassen waren, da man den Patienten um diese Zeit noch nicht durch einen Besuch zu stören pflegte. Die Fenster des Speisezimmers gingen nach der andern Seite des Hauses heraus. Fanny eilte geräuschlos und vorsichtig auf die Rückseite der Villa und fand, wie sie erwartet hatte, die dort befindliche Thür weit offen stehen. In der Vorhalle hörte sie die Stimmen des Doktors und Lord Harrys und das Geräusch von Messern und Gabeln. Die beiden Herren saßen also wirklich beim Frühstück.

Aber noch eins: was sollte sie Oxbye sagen? Welchen Grund sollte sie für ihre Rückkehr angeben? Wie sollte sie ihn dazu bringen, Stillschweigen über ihre Wiederkehr zu beobachten? Sie wußte, er hielt große Stücke auf sie, und das gab ihr einen Plan an die Hand. Sie wollte ihm sagen, sie sei zurückgekommen aus Anhänglichkeit an ihn, um, ungesehen von dem Doktor, über ihm zu wachen und ihn geleiten zu können, sobald er zur Reise kräftig genug wäre. Er war eine so einfache, reine Seele und würde sicherlich diese kleine, unschuldige Täuschung für wahr halten. Es würde dann ganz leicht für sie sein, in dem Hause zu bleiben, vollständig ungestört und unbemerkt von den beiden anderen Herren.

 

Sie öffnete die Thür und sah in das Krankenzimmer.

Der Kranke schlief ganz ruhig, aber nicht in seinem Bett. Er lag vielmehr halb angekleidet und mit einer Decke zugedeckt auf dem Sofa. Mit der Sorglosigkeit eines Wiedergenesenden hatte er sein Lager nach einer schlaflosen Nacht gewechselt und schlief bis tief in den Morgen hinein.

Das Bett stand, wie es meistens in französischen Häusern der Fall zu sein pflegt, in einem Alkoven. Ein schwerer Vorhang fiel davor in Falten über eine Stange herunter, wie das ebenfalls französische Art ist. Ein Teil des Vorhanges lag über dem Kopfende des Bettes.

Fanny erkannte sofort die Möglichkeit, diesen Vorhang als Versteck zu benützen. Es befand sich zwischen dem Bett und der Mauer ein Zwischenraum von ungefähr einem Fuß. Dorthin, an das Kopfende des Bettes, stellte sich Fanny, wo der Vorhang sie vollständig verbarg. Nichts war unwahrscheinlicher, als daß der Doktor hinter das Bett in diesen Winkel sehen würde. Dann bohrte sie mit ihrer Schere ein Loch in den Vorhang, groß genug, um einen vollständigen Durchblick zu gestatten, ohne daß der dahinter Stehende die geringste Gefahr lief, selbst gesehen zu werden, und nun wartete sie der Dinge, die da kommen sollten.

So stand sie wohl eine halbe Stunde lang, während welcher der Schlafende ruhig dalag und die Stimmen der beiden Herren aus dem Speisezimmer herüber bald leiser, bald lauter schallten. Jetzt war gerade ein kurzes Stillschweigen eingetreten. »Sie zünden sich ihre Cigarren an,« sagte Fanny zu sich, »dann werden sie ihren Kaffee trinken und in wenigen Minuten hier sein.«

Als Lord Harry und Mr. Vimpany ein paar Minuten später wirklich in das Krankenzimmer traten, rauchten sie noch ihre Cigarren. Lord Harrys Gesicht war leicht gerötet, vielleicht von dem Wein, den er beim Frühstück getrunken hatte – vielleicht auch infolge des Glases Cognac nach dem Kaffee.

Der Doktor warf sich in einen Stuhl, schlug die Beine übereinander und betrachtete gedankenvoll seinen Patienten. Lord Harry stand ihm gegenüber.

»Jeden Tag geht es mit dem Dänen besser,« sagte er.

»Ja,« antwortete der Doktor, »bis jetzt ist er allerdings jeden Tag wohler geworden.«

»Jeden Tag wird sein Gesicht dicker, und er wird mir dadurch immer unähnlicher.«

»Das ist wahr,« entgegnete der Doktor.

»Ja, was zum Teufel sollen wir nun thun?«

»Noch etwas warten,« antwortete der Doktor gelassen.

Das Mädchen wagte in seinem Versteck kaum zu atmen.

»Was?« fragte Lord Harry. »Sie glauben trotz allem, daß der Mann –«

»Warten wir nur noch ein wenig,« wiederholte der Doktor ruhig.

Lord Harry schüttelte bedenklich den Kopf.

»Hören Sie mich!« sagte der Doktor. »Wer von uns beiden hat Medizin studirt, Sie oder ich?«

»Sie natürlich.«

»Nun gut. Dann sage ich Ihnen als Arzt, daß der Schein trügt. Dieser Mann hier sieht weit besser aus als vor etlichen Wochen; er denkt, daß er wieder gesund werden wird; er fühlt sich kräftiger. Sie selbst haben bemerkt, daß er in seinem Gesicht dicker geworden ist. Seine Pflegerin, Fanny Mere, ging weg mit der Ueberzeugung, daß es ihm viel besser gehe und daß er binnen kurzem das Haus werde verlassen können.«

»Nun?«

»Nun, Mylord, erlauben Sie mir, Ihnen etwas anzuvertrauen. Aerzte pflegen meistens ihre Kenntnisse in solchen Fällen für sich zu behalten. Wir kennen und entdecken allerlei Symptome, die für Sie unsichtbar sind, und durch diese Symptome – durch diese Symptome gerade,« wiederholte er langsam und sah dabei Lord Harry scharf an, »weiß ich, daß dieser Mann – nicht mehr Oxbye, mein Patient, sondern ein anderer – sich in einem höchst gefährlichen Zustand befindet.«

»Und wann – wann –«

Lord Harry war furchtbar bleich. Seine Lippen bewegten sich zwar, aber er konnte den Satz nicht vollenden. Das, wozu er seine Einwilligung gegeben hatte, war schrecklich nahe, und es sah häßlicher aus, als er erwartet hatte.

»O – wann?« wiederholte der Doktor unbekümmert. »Vielleicht heute, vielleicht in einer Woche. So genau läßt sich das nicht vorausbestimmen.«

Lord Harry atmete tief aus.

»Wenn der Mann sich in einem solch besorgniserregenden Zustand befindet,« sagte er, »ist es dann sicher oder klug von uns, wenn wir in dem Hause allein, ohne einen Dienstboten und eine Wärterin, sind?«

»Ich bin nicht von gestern, das kann ich Sie versichern, Mylord,« sagte der Doktor in seiner scherzhaften Weise. »Die Wärterin ist schon gefunden. Sie wird heute kommen, und das Leben meines Patienten ist nach menschlicher Voraussicht,« – Lord Harry schauderte zusammen – »bis zu ihrer Ankunft vollständig sicher.«

»Gut, aber sie ist eine Fremde. Sie muß doch wissen, wen sie pflegt.«

»Gewiß. Es wird ihr gesagt – das heißt, ich habe es ihr schon gesagt – daß sie Lord Harry Norland, einen jungen irischen Edelmann, pflegen soll. Sie ist eine Fremde. Das ist die wertvollste Eigenschaft, die sie besitzt. Sie ist eine vollkommen Fremde. Und was Sie betrifft, Mylord, wer Sie sind? – Alles, was Sie wollen. Ein englischer Edelmann, der mir Gesellschaft leistet bei Lord Harrys trauriger Krankheit. Was kann es Natürlicheres geben? Der englische Doktor ist bei seinem Patienten, und der englische Freund ist bei dem Doktor. Wenn der Versicherungsbeamte Nachforschungen anstellt, – und er wird es höchst wahrscheinlich thun – dann wird die Pflegerin unschätzbar sein, des Zeugnisses wegen, das sie geben wird.«

Er stand auf, zog geräuschlos die Rouleaux in die Höhe und öffnete die Fenster. Weder die frische Luft noch das Licht weckten den Kranken auf.

Vimpany sah nach seiner Uhr.

»Es ist Zeit, daß er die Medizin nimmt,« sagte er; »wecken Sie ihn auf, während ich sie zubereite.«

»Wollen Sie ihn nicht lieber ausschlafen lassen?« fragte Lord Harry, wieder bleich werdend.

»Wecken Sie ihn nur auf, schütteln Sie ihn tüchtig an der Schulter. Thun Sie, was ich Ihnen sage,« entgegnete der Doktor grob. »Er wird schon wieder einschlafen. Eine von den feineren Eigenschaften meiner Medizin ist, daß sie den Kranken Schlaf verschafft: es ist eine höchst beruhigende Medizin. Sie verursacht Schlaf, tiefen Schlaf. Wecken Sie ihn also nur auf.«

Er trat an den Wandschrank, in welchem die Arzneiflaschen aufbewahrt waren. Lord Harry machte mit einiger Mühe den Kranken munter, der sich schwer und matt erhob und fragte, warum man ihn störe.

»Es ist Zeit zum Einnehmen, lieber Freund,« sagte der Doktor. »Sie sollen dann nicht weiter gestört werden, das verspreche ich Ihnen.«

Die geöffnete Thür des Wandschrankes verhinderte die Lauscherin, zu sehen, was der Doktor that. Aber er brauchte diesmal mehr Zeit zum Füllen des Glases als gewöhnlich. Lord Harry schien das zu bemerken, denn er verließ den Dänen und schaute dem Doktor über die Schulter.

»Was machen Sie?« fragte er in flüsterndem Ton.

»Sie thun besser, nicht zu fragen, Mylord,« antwortete der Doktor. »Was verstehen Sie denn von den Geheimnissen der Arzneikunde!«

»Warum soll ich nicht fragen?«

Vimpany drehte sich um und lehnte die Thür des Wandschrankes an. In seiner Hand hielt er ein bis zum Rande gefülltes Glas.

»Wenn Sie das Glas genau betrachten,« sagte er, »dann werden Sie verstehen, warum.«

Lord Harry warf einen prüfenden Blick auf das Glas und seinen Inhalt. Dann taumelte er zurück, fiel in einen Stuhl und sagte nichts mehr.

»Nun, mein lieber Freund,« sagte der Doktor, »trinken Sie, und es wird Ihnen besser werden, immer besser, immer besser. So, das war brav.« Er sah ihn sonderbar an. »Nun, wie schmeckt die Medizin heute?«

Oxbye schüttelte seinen Kopf wie ein Mann, der etwas Widerliches genossen hat.

»Das schmeckt mir ganz und gar nicht,« sagte er. »Das schmeckt nicht wie die andere Medizin, die ich bisher genommen habe.«