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Blinde Liebe

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Dreißigstes Kapitel

Einen Monat lang blieb Mountjoy in seinem Landhause an der Küste des Solway Firth und überwachte die Wiederherstellungsarbeiten daselbst.

Seine Korrespondenz mit Iris hatte ihren regelmäßigen Fortgang genommen. Zum erstenmal jedoch, so lange er sie kannte, bot sie ihm Ursache zur Unzufriedenheit. Sie, die sonst so frei und offen alle ihre Freuden und Leiden ihm anvertraut hatte, sie schrieb jetzt mit einer ganz auffallenden Zurückhaltung. Witterungswechsel und politische Tagesneuigkeiten, die Abwesenheit ihres Vaters, durch beunruhigende Nachrichten über die Zahlungsunfähigkeit auswärtiger Häuser veranlaßt, leere, inhaltslose Fragen über Hughs neue Bauten an seinem jetzigen Aufenthaltsort, – das waren die nichtssagenden Dinge, über die sich Iris in ihren Briefen an den alten, treuen Freund verbreitete. Er konnte kaum zweifeln, daß sich irgend etwas ereignet hatte, was sie vor ihm zu verheimlichen suchte. Sie mußte dafür ihre Gründe, ihre gewichtigen Gründe haben. Indem er zu erraten bemüht war, erkannte er von neuem, wie sehr er Iris liebte; er erkannte es an der Angst, die er um sie litt, und an der unberechtigten, eifersüchtigen Regung, welche seiner Selbstbeherrschung Trotz bot. Die unmittelbare Ueberwachung der Arbeitsleute auf seiner Besitzung war nicht länger notwendig. Er ließ dort einen Stellvertreter zurück, dem er vollständig vertrauen konnte, und beschloß, den letzten Brief, den er von Iris erhalten hatte, mündlich zu beantworten. Am nächsten Tag befand er sich in London.

Als er in Mr. Henleys Hause vorsprach, wurde ihm mitgeteilt, daß Miß Henley nicht zugegen sei und daß man nicht mit Bestimmtheit sagen könne, wann sie zurückkehren würde. Da öffnete Mr. Henley die Thür des Bibliothekzimmers.

»Sind Sie es, Mountjoy?« fragte er. »Kommen Sie herein, ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Mr. Henley kratzte sich, auf und ab gehend, einmal über das andere in seinen grauen Haaren, bevor er mit der Sprache herausrückte.

»Sehen Sie, junger Mann,« begann er endlich, »als Sie damals mit mir auf meinem Landgut weilten, da hoffte ich immer, daß das Ende eine Heirat zwischen Ihnen und Iris sein würde. Sie haben aber beide, Sie sowohl, wie Iris, meine Erwartungen getäuscht und zwar nicht zum erstenmale. Frauen ändern jedoch ihre Ansichten. Angenommen nun, Iris hätte ihre Ansicht geändert, nachdem Sie von ihr zweimal zurückgewiesen worden sind, – angenommen, sie hätte Ihnen Gelegenheit gegeben –«

Hugh unterbrach ihn.

»Es ist nutzlos, Sir, etwas Derartiges anzunehmen; Iris würde mir nun und nimmer in der von Ihnen vermuteten Weise entgegenkommen.«

»Seien Sie doch nicht so heftig, Mountjoy. Ich sehe schon, ich muß bei Ihnen zartere Saiten aufziehen. Fühlen Sie noch für mein eigensinniges Mädchen irgend welches Interesse?«

Hugh antwortete bereitwillig und mit inniger Empfindung:

»Das wärmste Interesse.«

Mr. Henley schmunzelte befriedigt.

»Gut. So hören Sie! Ich bin in Geschäftsangelegenheiten verreist gewesen und erst vor einigen Tagen wieder zurückgekommen. Gleich im ersten Augenblick, als ich Iris sah, bemerkte ich, daß etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Wenn ich ein Fremder gewesen wäre, würde ich gesagt haben: ›Dieses junge Mädchen ist nicht glücklich.‹ Mit ihr darüber zu sprechen oder aus ihr etwas herausbekommen zu wollen, wäre natürlich vollständig nutzlos gewesen. ›Ich bin ganz glücklich und befinde mich ganz wohl,‹ das war das einzige, was sie von sich sagte. Ich versuchte es nun bei ihrem Kammermädchen, einem feigen, mürrischen Wesen, einer der hartnäckigsten Lügnerinnen, denen ich jemals begegnet bin. ›Ich weiß von nichts, was meiner Herrin fehlen sollte, Sir,‹ damit fertigte mich das Mädchen ab. Ich wendete mich nun an meine alte Haushälterin. Die wußte schon mehr zu sagen: ›Die Dienstboten reden über Miß Iris, Sir,‹ zischelte sie. – ›Heraus damit! Was reden sie über meine Tochter?‹ – ›Sie haben bemerkt, daß ihre junge Herrin regelmäßig jeden Tag in den Vormittagsstunden ausgeht, immer allein und immer nach derselben Richtung. Ich habe die Dienstboten nicht zu weiteren Mitteilungen ermutigt, Mr. Henley. Es lag etwas Unverschämtes in dem Ton, in welchem sie sprachen, als ob sie irgend etwas Verdächtiges vermuteten. Ich sagte ihnen, daß Miß Henley nur ihren gewohnten Spaziergang mache; sie meinten, das müsse ein furchtbar langer Spaziergang sein, denn es dauerte immer vier bis fünf Stunden, ehe Miß Iris wieder nach Haus zurückkäme. Darauf hielt ich es für das Beste,‹ sagte die Haushälterin zu mir, ›das Gespräch fallen zu lassen.‹ Was denken Sie nun darüber, Mountjoy? Finden Sie nicht etwas Verdächtiges in dem Benehmen meiner Tochter?«

»Nicht im mindesten, Mr. Henley. Wenn Iris ausgeht, so besucht sie gewiß eine Freundin.«

»Vermutlich. Aber sie hat für keine ihrer Freundinnen ein so lebhaftes Interesse, daß sie um ihretwillen Tag für Tag dieselbe Richtung einschlagen wird, wenn nicht noch etwas Besonderes dahinter steckte. – Als Sie bei mir auf dem Lande waren, erinnern Sie sich des Mannes, der Sie damals bediente?«

Mountjoy antwortete so kurz wie möglich:

»Ihr Kammerdiener!«

»Derselbe. Ihn zog ich ins Vertrauen – ich kann Ihnen sagen, es geschah nicht zum erstenmal! Ein unbezahlbarer Mensch! – Als Iris gestern ausging, folgte er ihr in eine kleine Vorstadt in der Nähe von Hampstead Heath mit Namen Redburn Road. Sie läutete an der Glocke des Hauses Nr. 5 und wurde sofort eingelassen; sie war augenscheinlich gut bekannt dort. Mein geschickter Kammerdiener zog nun in der Nachbarschaft Erkundigungen ein. Das Haus gehört einem Doktor, der es erst vor kurzem gekauft hat, sein Name ist Vimpany.«

Mountjoy erschrak so heftig, daß er alle Haltung verlor. Zum Glück kehrte ihm Mr. Henley, der noch im Zimmer auf und ab ging, in diesem Augenblick den Rücken zu.

»Nun frage ich Sie als einen Mann von Welt,« fuhr Mr. Henley fort, »was hat das zu bedeuten? Wenn Sie Bedenken tragen, es auszusprechen, – und es macht mir ganz den Eindruck – soll ich Ihnen mit gutem Beispiel vorangehen?«

»Ganz wie Sie wollen, Sir!«

»Nun gut. Wenn an Iris irgend etwas Außergewöhnliches zu beobachten ist, so kann ich sicher sein, daß der verdammte Lord Harry dahinter steckt. Ich stand nun, da ich mit den eingehenderen Nachforschungen doch unmöglich meinen Kammerdiener betrauen kann, eben im Begriff, meinen Wagen anspannen zu lassen und zu dem Doktor zu fahren, um herauszubekommen, worin denn die Anziehungskraft besteht, die sein Haus auf meine Tochter ausübt. Da hörte ich Ihre Stimme in dem Hausflur. Sie sagten mir vorhin, daß Sie noch für Iris Interesse empfänden. Nun gut, Sie sind der Mann, der mir helfen kann.«

»Darf ich fragen wie, Mr. Henley?«

»Natürlich dürfen Sie fragen. Sie können den Schlüssel zu diesem Rätsel finden, wenn Sie es nur versuchen wollen; Ihnen wird Iris trauen, wenn sie ihrem Vater nicht traut. Ich möchte nur das eine wissen, ob sie sich immer noch mit dem Gedanken trägt, den irischen Lump zu heiraten oder nicht. Geben Sie mir Aufschluß hierüber, und Sie können alles weitere für sich behalten. Darf ich auf Ihre Unterstützung rechnen?«

Mountjoy traute seinen Ohren kaum; ihm sollte zugemutet werden, sich in das Vertrauen von Iris einzuschleichen und sie dann an ihren Vater zu verraten! Er stand auf, nahm seinen Hut, und ohne eine Verbeugung zu machen, öffnete er die Thür.

»Soll das heißen ›Nein‹!« rief Mr. Henley ihm nach.

»Gewiß!« antwortete Mountjoy und zog die Thür hinter sich ins Schloß.

Einunddreißigstes Kapitel

Mountjoy, dem Doktor Vimpanys Trennung von seiner Frau noch unbekannt war, glaubte, indem er sich die Vorgänge in dem alten Landstädtchen ins Gedächtnis rief, den Grund für Miß Henleys erneuten Verkehr im Hause des Arztes in ihrem Mitgefühl für des Doktors unglückliche Gattin entdeckt zu haben. Entschlossen, sich alsbald Gewißheit darüber zu verschaffen, hielt er die erste Droschke an, die ihm begegnete, und fuhr nach Hampstead. Um nicht unnötigerweise die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, ließ er den Wagen, bevor er noch in Redburn Road eingebogen, halten und ging zu Fuß nach dem Hause No. 5. Ein Dienstmädchen öffnete die Thür. Mountjoy fragte nach Mrs. Vimpany.

Das Mädchen gab nicht sofort Antwort, sondern schien vielmehr über Mountjoys einfache Frage höchlich verwundert. Die kecke Art, mit der sie den Fremden vom Kopf bis zu den Füßen musterte, kennzeichnete sofort den echten Londoner Dienstboten von heutzutage, der sich für gleichberechtigt mit jedermann hält.

»Fragten Sie nicht nach Mrs. Vimpany?« sagte sie laut.

»Ja.«

»Es gibt keine Mrs. Vimpany hier.«

Jetzt war die Reihe an Mountjoy, verwundert zu sein.

»Ist das nicht Mr. Vimpanys Haus?« fragte er.

»Ja, gewiß.«

»Und doch ist keine Mrs. Vimpany hier?«

»Eine Mrs. Vimpany hat niemals diese Schwelle überschritten,« erklärte das Mädchen bestimmt.

»Sind Sie auch wirklich sicher, sich nicht zu irren?«

»Ganz sicher. Ich bin in dem Dienst des Doktors, seit er das Haus gekauft hat.«

Mountjoy war fest entschlossen, das Rätsel zu lösen, wenn es irgendwie möglich wäre, und fragte daher, ob er den Doktor sprechen könnte.

»Nein,« antwortete das Mädchen. »Mr. Vimpany ist ausgegangen.« Dann fuhr sie redselig fort: »Es kommt aber immer eine junge Dame zu uns; es sollte mich nicht wundern, wenn Sie die gemeint hätten, als Sie nach Mrs. Vimpany fragten. Sie heißt Iris Henley.«

»Ist Miß Henley jetzt hier im Hause?«

»Sie können sie nicht sprechen, sie ist beschäftigt.«

Mit Mrs. Vimpany konnte Iris nicht beschäftigt sein, denn es gab ja überhaupt keine Mrs. Vimpany hier im Hause. Mit dem Doktor konnte sie aber auch nicht beschäftigt sein, denn der Doktor war ausgegangen. Mountjoy sah nach dem Kleiderständer, der im Vorplatz stand, und entdeckte den Hut und den Ueberzieher eines Mannes. Wem gehörten diese beiden Kleidungsstücke? Sicherlich nicht Mr. Vimpany, denn der war ja ausgegangen. So niederschlagend diese Entdeckung auf Hugh auch wirkte, so erschien ihm jetzt doch Mr. Henleys Gedanke, daß die Erklärung für das Benehmen seiner Tochter in einem erneuerten Einfluß, den der irische Lord über sie gewonnen, zu suchen sei, in einem wahrscheinlicheren Licht.

 

Ein Gefühl des Unwillens stieg in Mountjoy auf, das er weder zu unterdrücken noch vor sich selbst zu rechtfertigen im stande war. Mochte nun kommen, was wollte, er war entschlossen, die Zweifel, deren er sich schämte, zu lösen, indem er sich unmittelbar an Iris wandte. Er zog seine Visitenkartentasche heraus, fand sie aber beim Oeffnen leer. Er hatte jedoch noch einige Briefe bei sich, die unter seiner Adresse in sein Londoner Hotel geschickt worden waren. Er riß von einem das Couvert ab und händigte es dem Dienstmädchen mit den Worten ein:

»Bringen Sie dies Miß Henley und fragen Sie, ob ich sie sprechen kann.«

Das Mädchen ließ ihn in dem Hausflur stehen und ging die Treppe hinauf in das Empfangszimmer.

In dem schlecht gebauten kleinen Hause konnte Hugh den schweren Tritt eines Mannes hören, welcher in dem Zimmer über seinem Kopf hin und her ging. Dann vernahm er auch deutlich eine ärgerlich klingende Männerstimme. Hatte sie ihm schon das Recht gegeben, mit ihr zu zanken? – Er dachte an die Zeit, als sie das Bekanntwerden von Lord Harrys rachsüchtigen Plänen, zu deren Ausführung er England verlassen hatte, in heftigen Schrecken setzte, – er dachte der Zeit, als er seine eigenen Gefühle und alles, was er sich selbst schuldig war, um ihretwillen ganz beiseite setzte und ihr behilflich war, brieflich mit dem Mann zu verkehren, dessen verhängnisvolle Gewalt über Iris sein eigenes Leben verbittert hatte. War das, was er jetzt hörte, der Lohn, den er verdiente? Nach kurzer Abwesenheit kam das Dienstmädchen zurück und überbrachte ihm eine Botschaft von Iris.

»Miß Henley bittet um Entschuldigung, daß sie Sie jetzt nicht empfangen kann; sie wird an Sie schreiben.«

Würde der versprochene Brief den anderen Briefen ähnlich sein, welche sie ihm nach Schottland geschickt hatte? Mountjoys vornehme Natur mahnte ihn, daß er es seiner Erinnerung an glücklichere Tage und seiner treuen, aufrichtigen Freundschaft schuldig sei, das Weitere abzuwarten.

Als er eben wieder in seinen Wagen stieg, um nach London zurückzukehren, fuhr ein anderer geschlossener Wagen in der Richtung nach Redburn Road an ihm vorüber, in welchem ein einzelner Mann saß. Hugh erkannte in ihm Mr. Henley. Als der Kutscher auf seinen Sitz hinaufstieg, sah Mountjoy noch, daß der Wagen vor dem Hause No. 5 anhielt.

Zweiunddreißigstes Kapitel

Der Abend war herangekommen, und die Kerzen wurden eben in dem Zimmer angezündet, das Mountjoy im Hotel bewohnte.

Seine Angst um Iris hatte sich verdoppelt und verdreifacht, seitdem er die Entdeckung gemacht, daß ihr Vater das Haus des Doktors gerade in dem Augenblick aufgesucht, in welchem gar kein Zweifel möglich war, daß sie sich in Lord Harrys Gesellschaft befand. Das häßliche Gefühl der Eifersucht war jetzt ganz durch die edleren Regungen in Hugh unterdrückt, welche ihn mit Besorgnis und Mitleid erfüllten, wenn er an Iris dachte, wie sie zwischen zwei feindlichen Männern stand, die so geartet waren wie der herzlose Mr. Henley und der leichtsinnige Lord Harry. Er war den ganzen Vormittag in seinem Hotel geblieben, in der Hoffnung, sie würde ihm einen Brief durch einen Boten zusenden; es war aber kein Brief gekommen.

Während er immer noch auf Nachrichten von ihr wartete, welche ihm möglicherweise noch die Abendpost bringen konnte, klopfte der Kellner an seine Thür.

»Ein Brief?« fragte Mountjoy.

»Nein, Sir,« antwortete der Kellner, »eine Dame.«

Bevor sie ihren Schleier zurückschlagen konnte, hatte Hugh Iris erkannt. Ihre Miene war niedergeschlagen, ihr Gesicht verstört, ihre Hand lag kalt und unempfindlich in der seinigen, als er auf sie zugetreten war, sie zu begrüßen. Er rückte einen Stuhl für sie an den Kamin. Sie dankte ihm, lehnte es aber ab, sich zu setzen.

»Ich habe versucht, an Sie zu schreiben, aber ich war nicht im stande dazu.« Sie sagte dies in einem herben Ton und mit düsterer Miene. »Mein Freund,« fuhr sie fort, »Ihr Mitleid ist alles, was ich für mich hoffen kann; ich bin nicht länger der Teilnahme wert, die Sie einst für mich gehegt haben.«

Hugh sah ein, daß es nutzlos sein würde, ihr zu widersprechen; er fragte nur, ob er das Unglück gehabt habe, sie zu beleidigen.

»Nein,« sagte sie, »Sie haben mich nicht beleidigt.«

»Was soll dann um Gottes willen diese Veränderung in Ihrem Wesen bedeuten?«

»Sie bedeutet,« sagte sie kalt, »daß ich die Achtung vor mir selbst verloren habe. Sie bedeutet, daß mein Vater sich von mir losgesagt hat und daß Sie gut thun werden, seinem Beispiel zu folgen. Habe ich Sie nicht glauben machen wollen, daß ich niemals die Frau Lord Harrys werden könne? – Nun, ich habe Sie betrogen – ich stehe im Begriff, ihn zu heiraten.«

»Ich kann es nicht glauben, Iris, ich will es nicht glauben!«

Sie händigte ihm den Brief ein, in welchem der irische Lord ihr seine Selbstmordabsicht mitgeteilt hatte. Hugh sah voller Verachtung drein.

»Dem edlen Lord scheint der Mut dazu gefehlt zu haben?« sagte er dann höhnisch.

»Er würde durch seine eigene Hand gestorben sein, Mr. Mountjoy –«

»O Iris – diese Anrede?«

»Wenn Sie es wollen, so will ich Hugh sagen, aber die Tage unserer Freundschaft sind nichtsdestoweniger vorüber. Ich fand Lord Harry, aus einer tödlichen Wunde am Halse blutend. Es war an einem einsamen Ort in der Nähe von Hampstead Heath. Ich war die einzige Person, die vorüber ging. So hatte es das Schicksal also zum drittenmale gewollt, daß ich ihn rettete. Wie kann ich das vergessen? Meine Gedanken werden immer dabei verweilen. Ich werde versuchen, Glück zu finden – o, nur das Glück, das für mich genug ist, indem ich meinem armen Irländer sein elendes Dasein versüße und ihn so wieder dem Leben zuführe, das ich ihm erhalten habe. Das ist mein Grund, wenn ich einen Grund habe. Tag für Tag habe ich in der letzten Zeit ihn gepflegt, Tag für Tag habe ich ihn Dinge zu mir sagen hören – doch was hat es für einen Nutzen, sie zu wiederholen. Nach Jahren des Widerstandes habe ich den jetzt aufgegeben. Meine ganze Klugheit bestand darin, daß ich einen Streit zwischen meinem Vater und Harry verhindert habe. Ich bitte um Entschuldigung, ich hätte sagen sollen Lord Harry. Als mein Vater in das Haus Mr. Vimpanys kam, bestand ich darauf, mit ihm allein zu sprechen. Ich sagte ihm, was ich jetzt zu Ihnen gesagt habe. Er antwortete nur: ›Ueberlege es Dir noch einmal, ehe Du eine Wahl zwischen jenem Mann und mir triffst. Wenn Du Dich dafür entscheidest, ihn zu heiraten, so wirst Du leben und sterben, ohne auch nur einen Pfennig zum Unterhalt von mir zu bekommen.‹ Er legte seine Uhr auf den Tisch zwischen uns und gab mir fünf Minuten Bedenkzeit. Es waren lange fünf Minuten, aber sie gingen schließlich doch vorüber. Er fragte mich darauf, was er thun solle, ob er sein Testament so lassen solle, wie es sei, oder ob er zu einem Rechtsanwalt gehen und ein neues machen müsse. Ich antwortete ihm: ›Sie können thun, was Ihnen beliebt, Sir.‹ Nein, es war keine übereilte Antwort; Sie können diese Entschuldigung nicht für mich anführen, ich wußte genau, was ich sagte, und ich sah die Zukunft, die ich mir dadurch schuf, ebenso deutlich, wie Sie sie sehen.«

Hugh konnte jetzt nicht länger zu diesen unbesonnenen, verzweifelten Worten schweigen.

»Nein,« rief er, »Sie sehen Ihre Zukunft nicht so, wie ich sie sehe. Wollen Sie hören, was ich Ihnen zu sagen habe, bevor es zu spät ist?«

»Es ist schon zu spät, aber ich will Ihre Worte anhören, wenn Sie es wünschen.«

»Und während Sie mich anhören,« fügte Mountjoy hinzu, »werden Sie mich beschuldigen, daß ich durch ein selbstsüchtiges Gefühl beeinflußt sei. Ich habe Sie innig geliebt; ja, ich liebe Sie vielleicht im stillen noch, obgleich ich weiß: auch wenn Sie frei geblieben wären, würde für mich keine Hoffnung sein. Glauben Sie, daß ich die Wahrheit spreche?«

»Sie sagen immer die Wahrheit.«

»Ich spreche wenigstens in Ihrem Interesse. Sie denken, Sie sähen Ihr zukünftiges Leben deutlich vor sich; ich sage Ihnen aber, Sie sind blind für Ihr zukünftiges Leben. Sie reden, als ob Sie sich widerstandslos darein ergeben hätten, alles über sich ergehen zu lassen. Wollen Sie denn wirklich all Ihr Gefühl für Recht und Unrecht verlieren? Sind Sie entschlossen, das Leben einer Geächteten zu führen und, härter noch als das, sich über alle Schmach desselben hinwegzusetzen?«

»Fahren Sie fort, Hugh.«

»Wollen Sie mir nicht antworten?«

»Ich will Sie nicht unterbrechen.«

»Sie rauben mir nicht den Mut, liebe Iris, ich halte immer noch eigensinnig an der Hoffnung fest, Sie Ihrem besonneneren und wahreren Selbst wiederzugeben. Ich will Lord Harry alle Gerechtigkeit angedeihen lassen, die er verdient. Ich glaube, ja, ich bin vollkommen überzeugt, daß das elende Leben, das er bis jetzt geführt hat, nicht ganz und gar in ihm die Vorzüge zerstörte, welche einen Ehrenmann auszeichnen. Aber er hat einen schrecklichen Fehler. In seiner Natur liegt die verhängnisvolle Nachgiebigkeit gegen schlechte Gesellschaft. Wenn man seinen Charakter von dieser Seite beurteilt, dann ist er ein gefährlicher Mensch und kann vielleicht, verzeihen Sie mir, ein schlechter Gatte werden. Es ist eine undankbare Aufgabe für mich, Sie zu warnen. Eine Frau – und eine liebende Frau mehr noch als eine andere – fühlt nicht den verschlechternden Einfluß ihres Gatten, der ihrer nicht würdig ist. Unvermerkt überträgt er auf sie seine eigene Denkungsart; sie sucht für ihn Entschuldigungen, die er nicht verdient. Ihr Gefühl für Recht und Unrecht verwirrt sich, und bevor sie es selbst noch gewahr wird, ist sie auf seinen Standpunkt herabgesunken. Zürnen Sie mir?«

»Wie kann ich Ihnen zürnen? Vielleicht haben Sie recht.«

»Glauben Sie das wirklich?«

»Ja.«

»Dann, um Gottes willen, überlegen Sie sich doch noch einmal Ihren Entschluß. Lassen Sie mich zu Ihrem Vater gehen.«

»Reiner Zeitverlust,« antwortete Iris. »Nichts, was Sie sagen könnten, würde auch nur die geringste Wirkung auf ihn ausüben.«

»Jedenfalls will ich aber doch den Versuch machen,« beharrte Mountjoy auf seinem Vorschlag.

Hatte er sie wirklich überzeugt? Sie lächelte – wie bitter dieses Lächeln war, bemerkte Hugh nicht.

»Soll ich Ihnen erzählen, was mir begegnet ist, als ich heute nach Hause kam? – Ich fand mein Kammermädchen in der Vorhalle auf mich warten mit allen mir gehörigen Sachen, die zu meiner Abreise gepackt dastanden. Das Mädchen erklärte, sie gehorche gezwungen dem ausdrücklichen Befehl meines Vaters. Ich wußte, was das zu bedeuten hatte; ich sollte das Haus verlassen und mir einen andern Platz suchen, wo ich wohnen könnte.«

»Aber doch nicht allein, Iris?«

»Nein, mit meinem Kammermädchen; sie ist ein eigentümliches Wesen; wenn sie Teilnahme fühlt, so spricht sie es doch niemals aus. ›Ich bin Ihre dankbare Dienerin, Miß,‹ sagte sie; ›wohin Sie gehen, dahin gehe auch ich.‹ Das war alles, was sie sprach. Ich war darüber nicht enttäuscht, denn ich bin das schon von Fanny Mere gewöhnt. Mein Los ist jetzt ein einsames, nicht wahr? – Ich habe Bekannte unter den wenigen Damen, welche zuweilen meines Vaters Haus besuchten, aber keine Freundin. Die Familie meiner Mutter hat sich von ihr losgesagt, wie mir erzählt wurde, als sie einen Kaufmann von zweifelhaftem Ruf heiratete. Ich weiß nicht einmal, wo meine Verwandten leben. Ist nun Lord Harry nicht gut genug für mich, so wie ich jetzt bin? – Wenn ich diese meine günstigen Aussichten betrachte, ist es da nicht wunderbar, wenn ich wie eine verzweifelte Frau spreche? – Aber ein ermutigender Umstand ist, so viel ich sehen kann, doch vorhanden. Diese meine übel angebrachte Liebe, die jedermann verdammt, besitzt merkwürdigerweise einen Vorzug, welchen jedermann anerkennen, bewundern muß. Sie bietet einer Frau, die ganz allein in der Welt steht, einen Zufluchtsort.«

Mountjoy machte heftige Einwendungen dagegen, daß sie allein in der Welt stehe.

»Gibt es irgend einen Schutz, welchen ein Mann einer Frau bieten kann,« fragte er, »den ich Ihnen nicht sofort auf die bereitwilligste Weise gewähren wollte? O, Iris, womit habe ich es denn verdient, daß Sie in meiner Gegenwart von sich als von einem verlassenen, freundlosen Wesen sprechen?«

Endlich hatte er sie doch getroffen. In ihren Augen und in ihrem Lächeln zeigte sich jetzt wieder der süße Zauber von früher. Sie stand auf und trat zu ihm hin.

 

»Welche übermenschliche Güte muß es sein,« sagte sie, »die einen so klugen Mann wie Sie blind macht für die Hindernisse, die jeder andere sonst sehen kann. Bedenken Sie doch, lieber Hugh, was die Welt zu dem Schutze sagen würde, den Ihr treues Herz mir jetzt bietet! Sind Sie ein naher Verwandter von mir? Sind Sie mein rechtmäßiger Beschützer? Sind Sie ein alter Mann? – Nein, Sie sind nur ein Engel von Güte, den ich nun verlieren muß; ich werde noch diese Ihre Güte für mich in Anspruch nehmen, wenn wir uns nicht mehr sehen. Sie werden Mitleid mit mir fühlen, wenn Sie hören, daß ich immer tiefer und tiefer gesunken bin; Sie werden um mich trauern, wenn ich im Elend ende.«

»Selbst dann, Iris, werden wir nicht ganz geschieden sein. Der liebende Freund, der Ihnen jetzt nahe ist, wird auch dann noch Ihr liebender Freund bleiben.«

Zum erstenmal in ihrem Leben schlang sie ihre Arme um seinen Hals. In dem unendlichen Weh des letzten Abschiedes drückte sie den treuen Freund an ihre Brust.

»Lebe wohl, Du Guter!« sagte sie leise und küßte ihn.

Im nächsten Moment überzog ihr Gesicht eine tödliche Blässe; sie schwankte, als sie sich von ihm entfernte, und sank in einen Stuhl. In der Furcht, sie könnte ohnmächtig werden, eilte Mountjoy aus dem Zimmer, um ein Wiederbelebungsmittel zu holen. Sein Schlafzimmer lag am Ende des Korridors, dort hatte er Riechsalz in seinem Toilettekasten. Als er den Deckel aufhob, hörte er die einzige Thür des Zimmers von der Außenseite verschließen.

Er eilte schnell zur Thür hin und rief nach Iris. Von dem äußersten Ende des Korridors erreichte ihn ihre Stimme zum letztenmale – sie wiederholte ihre melancholischen Abschiedsworte: »Lebe wohl!« – Es kam zu keiner Erneuerung der traurigen Abschiedsscene, nicht noch einmal zu all dem Trennungsschmerz; Iris hatte ihm ein rasches Ende bereitet.