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Blinde Liebe

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Iris brauchte sich nur daran zu erinnern, in welcher Weise sie und Hugh die Erwartungen ihres Vaters getäuscht hatten, um die Notwendigkeit zu begreifen, Hugh Mountjoys Nebenbuhler von einem Besuche in Mr. Henleys Hause auf jeden Fall abzuhalten.

Sie schrieb daher sofort an Lord Harry in das Hotel, welches Mr. Vimpany genannt hatte, und beschwor ihn, ja nicht an einen Besuch in ihres Vaters Hause zu denken. Da sie aber ganz genau wußte, daß er auf einer persönlichen Verständigung bestehen würde, so versprach sie, ihm wiederholt zu schreiben, und schlug sogar eine Zusammenkunft außerhalb des Hauses vor.

Am nächsten Tage hatte sich Iris vorgenommen, nach Muswell Hill zu fahren, um Rhoda zu besuchen, wie sie es fast jede Woche that. Starker Regen jedoch zwang sie, auf eine günstigere Gelegenheit zu warten. Erst am dritten Tage klärte sich der Himmel auf, und das Wetter wurde wieder angenehm. An einem sonnigen Herbstmorgen ließ sie, da eine herrliche, erfrischende Luft wehte, den offenen Wagen anspannen. Da sie bemerkte, daß Fanny Mere, während sie ihr beim Anziehen behilflich war, blässer als gewöhnlich aussah, sagte sie in dem freundlichen Ton, den sie ihren Untergebenen gegenüber anzuschlagen pflegte:

»Sie sehen aus, als ob Ihnen eine Fahrt in die frische Luft auch gut thun würde? Sie sollen daher mit mir auf das Gut fahren und können bei dieser Gelegenheit Rhoda Bennet sehen.«

Als sie vor dem Hause anhielten, erschien die Frau des Pächters in Begleitung eines Herrn vor der Thüre. Iris erkannte sofort den Arzt des Ortes.

»Sie sind doch nicht etwa wegen Rhoda Bennet hier?« fragte sie.

Der Doktor berichtete, daß wieder eine der nervösen Störungen eingetreten sei, an denen das junge Mädchen litt. Wie er sagte, hinge das hauptsächlich mit dem Wetter zusammen. Er habe ihr vor allem anbefohlen, sich vor jeder Aufregung zu hüten. Rhoda war so weit auf dem Wege der Besserung vorgeschritten, daß sie auf seine Anordnung hin im Garten spazieren gehen sollte. Er fürchtete auch nicht, daß der Empfang von Besuchen sie allzu sehr angreifen würde in ihrem gegenwärtigen Zustande, nur sollte man sie nicht zu viel sprechen lassen. Da sich ihm einmal die Gelegenheit dargeboten, wolle er noch eine Bitte auszusprechen wagen. Rhoda wäre nach seiner Ansicht für diese Jahreszeit nicht warm genug gekleidet, und eine schwere Erkältung könne sich eine Person von ihrer Konstitution sehr leicht holen.

Iris trat in das Pächterhaus ein; Fanny Mere sollte unter den obwaltenden Umständen im Wagen auf sie warten.

Nach einer Abwesenheit von kaum zehn Minuten kam Miß Henley aus dem Hause zurück. Als sie in das Pächterhaus eingetreten war, hatte sie einen schönen Mantel von Sealskin getragen; als sie wieder heraus kam, war an seine Stelle ein ganz gewöhnlicher Umhang aus schwarzem Tuch getreten. Iris bemerkte sofort den Ausdruck lebhaften Erstaunens in Fannys Gesicht und brach in ein fröhliches Lachen aus.

»Nun, wie gefalle ich Ihnen in meinem neuen Mantel?« fragte sie.

Fanny sah nichts Lächerliches in dem Opfer des Sealskinmantels.

»Ich darf nicht wagen,« entgegnete sie ernst, »meine Meinung darüber zu äußern!«

»Jedenfalls,« fuhr Iris fort, »können Sie nicht menschlich fühlen, wenn der Wechsel in meiner Kleidung Ihr Erstaunen und Ihre Mißbilligung erregt. Ich fand Rhoda Bennet im Garten, vor der kalten Luft durch dieses häßliche, dünne Ding nur notdürftig geschützt. Nach dem, was der Doktor mir gesagt hatte, war es höchste Zeit, daß ich meine Autorität geltend machte. Ich bestand darauf, mit Rhoda den Mantel zu tauschen. Sie machte zuerst den Versuch, sich zu sträuben, die arme Kleine, sie kennt mich aber von früher her, und so hatte ich meinen Willen. Es thut mir sehr leid, daß Sie Rhoda nicht sehen konnten, aber Sie sollen, sobald sie wieder gesund ist, die Gelegenheit haben. Sehen Sie gern eine schöne Aussicht? Nun gut, dann wollen wir einen andern Weg auf unserer Rückfahrt benützen. Nach Hause!« rief sie dem Kutscher zu, »über Highgate Hampstead!«

Fannys Augen ruhten auf dem unscheinbaren Mantel mit einem wohlbegründeten Mißtrauen gegen dieses Kleidungsstück, welches doch keinesfalls einen genügenden Schutz gegen die Witterung bieten konnte. Sie erlaubte sich daher zu bemerken, daß ihre Herrin das Fehlen des warmen Mantels, welchen sie auf Rhodas Schultern zurückgelassen hatte, in dem offenen Wagen bald genug empfindlich spüren würde.

Iris suchte sie darüber zu beruhigen.

Währenddessen hatten sie schon Highgate passirt und näherten sich jenem Wege, welcher in gerader Linie über den hohen Bergrücken von Hampstead Heath führt. Iris mußte jetzt doch selbst zugeben, daß sie die Kälte empfinde.

»Sie müssen eine gute Fußgängerin sein,« sagte sie, indem sie die feste Gestalt ihres Mädchens mit einem Blick überflog. »Bewegung ist das einzige, was mich wieder warm machen wird. Was meinen Sie, wollen wir zu Fuß den Heimweg beendigen?«

Fanny war sofort bereit, ihre Herrin zu begleiten. Der Wagen wurde vorausgeschickt, und die beiden Mädchen traten ihre Fußwanderung an.

Als sie an dem Gasthof des Ortes, welcher den Namen »die Spanier« führte, vorbei kamen, standen zwei Frauen an der Gartenthüre, welche Iris neugierig betrachteten und lachten. Ein paar Schritte weiter, trafen sie mit einem jungen Burschen zusammen; auch er sah sich die jungen Damen aufmerksam an und legte seine Hand spöttisch an seine Mütze, während er einen lauten Freudenpfiff ertönen ließ.

»Ich scheine diese Leute zu amüsiren!« sagte Iris. »Was sehen sie denn eigentlich an mir?«

Fanny strengte sich an, ihren Ernst zu bewahren, was ihr aber doch nicht vollkommen gelang, und antwortete:

»Verzeihen Sie, Miß, ich glaube, die Leute bemerken alle den Unterschied zwischen Ihrem schönen Hut und Ihrem abgetragenen Mantel.«

Leute von erregbarem Temperament fürchten nicht leicht etwas mehr als die Lächerlichkeit.

Iris brauste auf.

»Warum haben Sie mir das nicht gesagt,« fragte sie scharf, »bevor ich den Wagen verließ? Wie kann ich denn so weiter gehen, wenn jedermann über mich lacht?«

Sie hielt inne, überlegte einen Augenblick und bog dann von der Landstraße nach rechts ab auf eine schöne Gruppe von Tannenbäumen zu, welche den berühmten Aussichtspunkt jener Gegend überragen.

»Da läßt sich fürs erste nur das eine thun,« sagte sie, nachdem sie ihre gute Laune wieder gewonnen hatte, »wir müssen meinen schönen Hut mit dem alten Mantel in Einklang zu bringen suchen. Sie werden die Feder und die Spitzen abreißen – wenn Sie wollen, können Sie sie für sich behalten – und dann werde ich wohl vom Kopf bis zum Fuß schäbig genug aussehen. Nein, nein, nicht hier, man kann uns ja von der Straße aus bemerken, und was könnte dann das dumme Volk denken, wenn es sähe, wie Sie die Verzierung von meinem Hute entfernen! Wir wollen dort zwischen das dichte Buschwerk treten, da kann uns niemand sehen.«

Sie waren beinahe den schmalen Pfad hinabgestiegen, der zu dem Platze unter der Tannengruppe führte, als sie durch einen entsetzlichen Anblick aufgehalten wurden.

Nahe bei dem Gesträuch in einer Höhlung lag der regungslose Körper eines Mannes ausgestreckt. Er lag auf der Seite, mit dem Gesicht von ihnen abgekehrt, ein offenes Rasirmesser neben ihm auf dem Boden. Iris bückte sich über den Körper, um das Gesicht zu sehen. Das erste, was sie bemerkte, war Blut, das aus einer klaffenden Wunde an seinem Halse rann. Ihre Augen schlossen sich unwillkürlich, während sie vor diesem furchtbaren Anblick zurückwich. Im nächsten Augenblick öffnete sie sie aber wieder und sah nun in das Gesicht.

Sterbend oder tot, es war das Gesicht Lord Harrys.

Der Schrei, den sie ausstieß, als sie diese gräßliche Entdeckung machte, wurde von zwei Männern vernommen, welche in einiger Entfernung über das Feld gingen. Sie sahen die Frauen und kamen herzugelaufen. Der eine der Männer war ein Arbeiter, der andere, besser gekleidete, sah aus wie ein Aufseher in einer Fabrik. Er war der erste, der den Platz erreichte.

»Grund genug, um entsetzt zu sein, meine Damen,« sagte er höflich, »da scheint, so viel ich sehe, ein Selbstmord vorzuliegen!«

»Um Gottes willen, lassen Sie uns etwas thun, um ihm zu helfen!« rief Iris ganz außer sich. »Ich kenne ihn, ich kenne ihn!«

Fanny allein zeigte sich der Situation gewachsen; sie bat Miß Henley um ihr Taschentuch, nahm ihr eigenes noch dazu und legte einen Verband um die Wunde.

»Fühlen Sie, ob sein Puls noch schlägt!« sagte sie mit ruhiger Fassung zu ihrer Herrin.

Iris glaubte noch einen schwachen Pulsschlag bemerken zu können.

»Wohnt denn kein Doktor hier in der Nähe?« rief sie. »Ist denn kein Wagen aufzutreiben an diesem schrecklichen Orte?«

Der Aufseher hatte in den Taschen des Hingestreckten zwei Briefe gefunden. Iris las auf einem derselben ihren eigenen Namen, der andere trug die Aufschrift: »An die Person, welche meinen Körper findet!« Sie riß das Couvert auf. Der Brief enthielt eine Adreßkarte von Mr. Vimpany, auf welcher mit Bleistift die verzweifelten Worte geschrieben standen: »Bringen Sie meinen Körper in das Haus des Doktors, er soll mich verbrennen oder zerschneiden, wie es ihm beliebt.« Iris zeigte die Karte dem Aufseher.

»Ist das in der Nähe?« fragte sie.

»Ja, Miß,« antwortete der Aufseher, »wir können ihn in kurzer Zeit dorthin bringen, wenn wir nur irgend ein Transportmittel finden!«

Fanny, die noch immer ihre Geistesgegenwart bewahrt hatte, zeigte mit der Hand in die Richtung nach dem Wirtshaus.

»Dort werden wir bekommen, was wir brauchen,« sagte sie.

Iris gab ihr Zeichen, bei dem verwundeten Mann zu bleiben, und stieg selbst die schlüpferige Anhöhe hinauf: dann lief sie, so rasch sie konnte, nach der Straße zu. Die Männer hatten inzwischen auf Fannys Anweisung den Körper emporgehoben und folgten der Vorangegangenen langsam, indem sie sich einen bequemeren Aufstieg aussuchten. Als Iris die Straße erreicht hatte, fuhr gerade ein vierräderiger Wagen vorbei. Ohne einen Augenblick zu zögern, rief sie den Kutscher an, er möge halten. Er zügelte rasch seine Pferde. Sie sah sich einem einzelnen Herrn gegenüber, welcher aus dem Wagenfenster schaute und aussah, als ob er glaube, eine Dame habe sich mit ihm einen Spaß gemacht. Iris ließ aber dem erzürnten Herrn keine Gelegenheit, seine Gedanken zu äußern. Atemlos, wie sie war, ergriff sie eilig das Wort: »Bitte, verzeihen Sie mir – Sie sitzen allein in dem Wagen – da ist noch Platz für einen Herrn, der tödlich verwundet ist. Er wird sich verbluten, wenn wir nicht bald Hilfe finden. Ein Doktor wohnt hier in der Nähe; bitte, schlagen Sie mir Ihre Hilfe nicht ab!«

 

Sie blickte zurück, während sie sich fest an der Thüre des Wagens anklammerte, und sah Fanny und die Männer, die langsam herankamen.

»Bringen Sie ihn hierher!« schrie sie laut.

»Daraus wird nichts!« entgegnete der Herr, der im Wagen saß.

Fanny gehorchte jedoch ihrer Herrin, und die Männer gehorchten Fanny.

Iris drehte sich entrüstet nach dem erbarmungslosen Fremden um.

»Ich ersuche Sie um einen Akt christlicher Menschenliebe!« sagte sie. »Wie können Sie, wie dürfen Sie da noch zögern?«

»Fahren Sie weiter!« schrie der Fremde dem Kutscher zu.

»Sie thun es auf Ihre Gefahr!« rief Iris ihrerseits.

Der Kutscher saß schweigend und stumpfsinnig auf seinem Bocke und wartete ruhig ab, was sich ereignen würde.

Langsam näherten sich die Männer, welche den noch immer bewußtlosen Lord Harry trugen. Die Taschentücher um seinen Hals waren mit Blut getränkt. Bei diesem Anblicke überwältigte seine feige, erbärmliche Denkungsweise den Fremden vollständig.

»Lassen Sie mich heraus,« jammerte er, »lassen Sie mich heraus!«

Nachdem so der Wagen zu ihrer Verfügung stand, dankte Iris dem Fremden. Er sah sie mit einem bösen Blicke an und brummte:

»Ich muß Ihnen gestehen, die Sache kommt mir höchst verdächtig vor! Wenn es etwa zur Untersuchung vor Gericht kommt, so will ich nicht in diese Angelegenheit hineingezogen werden. Es sind schon ganz unschuldige Leute aufgehängt worden, wenn der Schein gegen sie war.«

Mit diesen Worten ging er weg und setzte seiner niedrigen Denkungsweise dadurch die Krone auf, daß er das Fahrgeld zu bezahlen vergaß. Der Kutscher stand gerade im Begriff, ihn zu verfolgen, als er in wirksamer Weise davon zurückgehalten wurde. Iris zeigte ihm einen Sovereign. Auf diesen Wink hin sagte er:

»'s ist alles schon gut, Miß. Ich sehe, der arme Herr blutet. Geben Sie nur acht, bitte, daß er meine Wagenkissen nicht verdirbt!«

Der Kutscher war kein gefühlloser Mensch; nachsichtig stellte er sein Eigentum zur Verfügung mit einem schlauen Lächeln.

Iris wendete sich nun an die beiden braven Männer, die in so bereitwilliger Weise ihr geholfen hatten, und sagte ihnen in herzlichen Worten Lebewohl und ihren Dank, dem sie einen klingenden Ausdruck beifügte. Die beiden Männer vergessen es ihr Lebtag nicht.

Fanny war schon in den Wagen gestiegen und hielt den Körper Lord Harrys in ihren Armen. Iris folgte ihr. Der Kutscher fuhr vorsichtig nach der Wohnung Mr. Vimpanys.

Neunundzwanzigstes Kapitel

Das Haus Nummer fünf lag ungefähr in der Mitte einer kleinen Straße der Vorstadt, welche den Namen Redburn Road führte. Als der Wagen anfuhr, blickte Mr. Vimpany gerade gähnend aus einem der Parterrefenster. Iris winkte ihn heran.

»Ist Ihnen etwas zugestoßen?« fragte er, an die Thür des Wagens herantretend. Sie zog sich vom Fenster zurück und ließ ihn so schweigend sehen, was geschehen war. Der Doktor bewahrte bei dem gräßlichen Anblick seine volle Haltung und ließ den bewußtlosen Mann in das nächste Zimmer im Erdgeschoß tragen. Bleich und zitternd berichtete Iris, wie sie Lord Harry gefunden, und fragte den Doktor, ob irgend eine Hoffnung vorhanden sei, daß derselbe gerettet werden könnte.

»Das will ich Ihnen sofort sagen,« antwortete Mr. Vimpany. Er entfernte den Verband und untersuchte die Wunde. »Eine gehörige Menge Blut hat er verloren,« sagte er, »aber ich werd' es versuchen, ihn durchzubringen. Während ich mich jedoch mit unserem gemeinsamen Freunde beschäftige, bitte ich Sie, Miß Henley, hinauf in das Empfangszimmer zu gehen!« Darauf öffnete er einen schönen Kasten aus Mahagoniholz. »Das sind die Werkzeuge meines Berufes,« fuhr er fort, »ich werde jetzt die Kehle Seiner Lordschaft wieder zunähen.«

Iris schauderte, als sie diese Worte vernahm, und verließ eiligst das Zimmer. Fanny folgte ihrer Herrin die Treppe hinauf. Als sie oben angekommen waren, sagte Fanny: »In der Tasche des Herrn wurde noch ein zweiter Brief gefunden. Entschuldigen Sie, Miß, wenn ich Sie daran erinnere, daß Sie ihn noch nicht gelesen haben!«

Iris las folgende Zeilen:

»Verzeihe mir zum letztenmal, Geliebte! Mein Brief soll Dir sagen, daß ich Dich niemals wieder in dieser Welt belästigen werde – ob in der andern Welt, wer weiß das? Ich brachte einiges Geld zurück von den Goldfeldern. Es war nicht genug, um ein Vermögen genannt zu werden, wenigstens nicht ein solches Vermögen, das Deinen Vater bestimmen konnte, seine Einwilligung zu Deiner Heirat mit mir zu geben. Nun, hier in England bot sich eine günstige Gelegenheit, dasselbe mehr als zu verzehnfachen – nämlich auf dem Rennplatze, und laß mich hinzufügen, nach im geheimen eingezogenen Erkundigungen über die Rennpferde, auf deren Sieg ich gewiß rechnen konnte. Ich will mich hier nicht damit aufhalten, zu untersuchen, welches grausame Mißgeschick mich ins Unglück stürzte. Mein Geld ist dahin und mit ihm meine letzte Hoffnung auf ein glückliches und sorgenloses Leben an Deiner Seite, meine Iris. Ich sterbe mit dem Hinschwinden dieser Hoffnung. Ein gewisses Gefühl hält mich ab, in dem grausigen Gewühl des großen, übervölkerten Londons Hand an mich zu legen. Ich ziehe es vor, mich aus diesem elenden Leben hinwegzustehlen mitten in der freien Natur, deren Grün mich an mein geliebtes altes Irland erinnern soll. Wenn Du zuweilen später an mich denken wirst, so sage Dir, der Arme hat mich geliebt – vielleicht wird mir dann die Erde leichter sein wegen dieser lieben Worte, und die Blumen werden vielleicht auf meinem Grabe schöner blühen, wenn Du mir überhaupt die Gunst erweisen willst, einige darauf zu pflanzen.«

Hier endete der Brief.

Iris verlor all ihre Fassung, als sie die melancholischen Abschiedsworte gelesen. Wenn er diesen verzweifelten Selbstmordversuch überlebte, zu welchem Ende sollte das führen? Schweigend schob das junge Mädchen, das ihn liebte, den Brief vorn in ihr Kleid. Fanny hatte sie aufmerksam beobachtet. Nach einer Weile machte sie den Vorschlag, hinunter gehen und wieder einmal fragen zu wollen, wie es um den verwundeten Lord stünde. Iris kannte jedoch den Doktor zu genau, um ihr Mädchen diesen nutzlosen Gang machen zu lassen.

»Manche Männer würden in der liebenswürdigsten Weise bemüht sein, mich in meinem Kummer und meiner Sorge zu beruhigen und zu trösten,« sagte sie, »Der Mann da unten gehört aber nicht zu ihnen. Ich muß warten, bis er selbst kommt oder mich holen läßt. Ich möchte jetzt vielmehr, solange wir allein sind, über etwas anderes mit Ihnen sprechen, Fanny. Sie stehen erst sehr kurze Zeit in meinen Diensten. Ist es daher zu früh, wenn ich Sie jetzt schon frage, ob Sie irgend welches Interesse für mich fühlen?«

»Wenn ich Ihnen etwas zu Gefallen thun oder Ihnen irgendwie helfen kann, Miß, so bitte ich Sie, mir nur zu sagen, wie.«

Sie sprach diese Antwort in ihrer gewöhnlichen ruhigen und höflichen Art und Weise; ihre bleichen Wangen zeigten keinen Farbenwechsel, und ihre blaßblauen Augen ruhten unverwandt auf Miß Henleys Gesicht.

Iris fuhr fort:

»Wenn ich Sie nun bitte, das, was sich an diesem schrecklichen Tage ereignet hat, geheim zu halten vor jedermann, darf ich, obgleich Sie mich erst so wenig kennen gelernt haben, Ihnen trauen, wie ich Rhoda Bennet getraut habe?«

»Ich verspreche es. Miß!«

Das Mädchen schien der Meinung zu sein, mit diesen wenigen Worten genug gesagt zu haben.

Iris blieb keine Wahl, als eine neue Bitte an sie zu stellen.

»Wie Sie auch immer die Neugierde plagen mag, wollen Sie sich damit zufrieden geben, daß Sie mir einen Gefallen erweisen, ohne eine nähere Erklärung zu fordern?«

»Es ist meine Pflicht, die Geheimnisse meiner Herrin zu achten; ich werde diese Pflicht erfüllen.«

Keine Gefühlsäußerung, kein Zeichen von Teilnahme konnte Iris an Fanny bemerken; eine einfache Erklärung ihrer treuen Ergebenheit und Pflichterfüllung war alles, was das bleiche Mädchen zu sagen für nötig hielt. Hatte sich ihr Herz verhärtet durch das Unglück, welches ihr Leben verdüstert hatte? Oder war sie nur ein lebendiges Beispiel der ihrem Volke angeborenen Zurückhaltung, welche vor jeder freien Gefühlsäußerung zurückschreckt und gewissermaßen lebt und stirbt in einer selbstgewählten Gefangenschaft und Einsamkeit?

Nachdem ungefähr eine halbe Stunde vergangen war, erschien Mr. Vimpany. Er blieb an der Thür stehen, zog seine Uhr aus der Tasche, sah nach der Zeit und stellte dann eine Berechnung an, die für seine Tüchtigkeit als Arzt zeugen sollte.

»Wenn Sie die Zeit in Rechnung ziehen, welche ich brauchte, um Mylord wieder zum Bewußtsein zu bringen, als er in Ohnmacht gefallen war, und um ihn mit einem Tropfen Branntwein zu stärken und um mir dann meine Hände zu waschen – sehen Sie, wie rein sie sind! – dann habe ich nicht mehr als zwanzig Minuten gebraucht, um seinen Hals wieder in Ordnung zu bringen. Keine schlechte Leistung für einen Wundarzt, Miß Henley.«

»Ist sein Leben jetzt gerettet, Mr. Vimpany?«

»Er hat es seinem Glück zu danken – ja!«

»Seinem Glück?«

»Sicherlich! In erster Linie verdankt er sein Leben Ihnen, dadurch, daß Sie ihn aufgefunden haben und zwar noch zur rechten Zeit; wenn Sie nur ein wenig später gekommen wären, so würde es mit Lord Harry vorbei gewesen sein. Der zweite Glücksumstand war, daß Sie den Arzt zu Hause trafen, gerade, da er am nötigsten gebraucht wurde, und der dritte Glücksumstand endlich: unser Freund wußte nicht, wie man sich mit einem Messer die Kehle ordentlich abschneidet. Sie brauchen mich nicht so finster anzusehen, Miß Henley, ich scherze nicht! Für einen Selbstmörder, mit einem Rasirmesser in der Hand, ist meistenteils etwas sehr günstig – er hat keine Ahnung von der Anatomie, und das ist auch bei Lord Harry der Fall gewesen. Er hat sich nur die äußeren fleischigen Teile an seinem Halse durchschnitten, bis an die größeren und wichtigeren Blutgefässe ist er nicht gekommen. Nehmen Sie mein Wort, er wird sich jetzt schon ziemlich wohl fühlen und schuldet dafür Ihnen, mir und seiner Unwissenheit Dank. Nun, was sagen Sie zu meiner Geschicklichkeit? Ja, heute bin ich noch im vollständigen Besitz meiner Arbeits- und Geisteskraft; heute habe ich noch keinen französischen Rotwein von Mr. Mountjoy getrunken. Verstehen Sie, was das sagen will, Miß Henley?«

Als er sich in der Erinnerung an seine eigene Betrunkenheit vor Lachen fast ausschütten wollte, bemerkte er Fanny Mere.

»Oho, da ist ja auch eine andere Person, welche mich wahrscheinlich auch nötig hat! Sie sind ja so weiß wie Leinwand, Miß! Wenn Sie vielleicht in Ohnmacht fallen wollen, dann thun Sie mir nur den einzigen Gefallen und warten Sie, bis ich die Cognacflasche geholt habe. O, die Farbe ist von Natur so bei Ihnen, nicht wahr? Ich sehe es jetzt; eine dicke Haut und langsamer Blutumlauf. Eine Freundin von Ihnen, Miß Henley?«

Fanny antwortete ruhig für sich selbst:

»Ich bin Miß Henleys Kammermädchen, Sir.«

»Was ist denn aus der andern geworden?« fragte Mr. Vimpany. »Weilt sie noch immer in dem Pächterhause zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit? Wenn es meine Zeit erlaubt hätte, würde ich sie wieder wie damals in meine Behandlung genommen haben, die kleine Rhoda Bennet. Es gibt keinen Arzt in England, Miß, der mehr von den Nervenkrankheiten der Frauen weiß als ich, und was ist mein Lohn? Ist mein Wartezimmer mit reichen Leuten gefüllt, die kommen, um mich um Rat zu fragen? Wohne ich in einem eleganten Viertel von London? Hat man mich etwa zum Baronet gemacht? Zum Donnerwetter – ich bitte um Entschuldigung, Miß Henley – aber es ist für einen Mann von meinen Fähigkeiten kränkend, daß er sich so vollständig vernachlässigt sieht. Während der letzten drei Tage hat nicht ein Mensch meine Schwelle überschritten. Kann ich Ihnen noch mit sonst etwas dienen, Miß?«

Er führte Iris geheimnisvoll in eine Ecke des Zimmers. »Vielleicht in Betreff unseres Freundes da unten?« fragte er.

»Wann dürfen wir hoffen, ihn wieder ganz hergestellt zu sehen, Mr. Vimpany?«

 

»Etwa in drei Wochen, spätestens in einem Monate. Leider habe ich niemand im Hause außer einer dummen Dienstmagd. Wir müssen jedoch eine erfahrene Pflegerin haben. Ich kann eine durchaus zuverlässige Person vom Hospitale bekommen, aber da ist eine kleine Schwierigkeit. Ich bin, wie Sie wissen, ein Mann, der frei von der Leber weg redet; wenn ich arm bin, so geb' ich es auch zu, daß ich arm bin; unser Lord braucht aber gute und kräftige Nahrung, und auch die Pflegerin will gutes Essen haben. Würden Sie sich nun, Miß, dazu verstehen, mir ein kleines Darlehen zu geben, damit ich vorderhand alle Kosten der Verpflegung bestreiten könnte?«

Iris händigte dem Doktor eine Geldbörse ein, welche Mr. Vimpany sehr mager vorkam.

»Haben Sie vorläufig weiter nichts nötig?« fragte sie und ging nach der Thüre.

»Nein, ich danke, ich bin Ihnen sehr verbunden!«

Als sie sich dem im Erdgeschoß gelegenen Zimmer näherten, blieb Iris stehen. Ihre Augen ruhten fragend auf dem Doktor. Selbst für diesen gefühllosen Menschen war der sprechende Blick ihrer Augen verständlich genug. Fanny bemerkte es und wendete plötzlich ihren Kopf nach der Seite. Ueber das weiße Gesicht des Mädchens huschte finster ein Ausdruck von unaussprechlicher Verachtung. Die Schwäche ihrer Herrin hatte sich verraten – Schwäche für einen der Verräter an dem weiblichen Geschlechte, Schwäche für einen Mann!

Inzwischen war Mr. Vimpany, da er nun das Geld in der Tasche hatte, die Bereitwilligkeit selbst, jedem Wunsche der wegen ihres stets gefüllten Geldbeutels beneideten jungen Dame zu entsprechen.

»Wollen Sie Lord Harry sehen, bevor Sie weggehen?« fragte er und freute sich im stillen auf das, was es da zu beobachten geben würde. »Aber eines leg' ich Ihnen ans Herz: Sie dürfen ihn nicht stören, nicht sprechen und nicht weinen. Sind Sie bereit? So, jetzt treten Sie ein!«

Da lag er auf einem elenden, kleinen Sofa in einem erbärmlichen, engen Zimmer. Seine Augen waren geschlossen. Eine Hand hing hilflos zum Boden herunter. Ueber sein geisterbleiches Antlitz breitete sich eine Ruhe, welche erschreckende Aehnlichkeit mit der Ruhe des Todes hatte. – Da lag er, das unbesonnene Opfer seiner Liebe für das Mädchen, das wieder und immer wieder verzweiflungsvoll Verzicht auf ihn geleistet und das ihn jetzt zum drittenmale gerettet hatte. O, wie ihr verräterisches Herz für ihn sprach!

»Kannst du ihn, nachdem dieses geschehen ist, von dir zurückstoßen, du, die du ihn liebst?«

Plötzlich fühlte sie sich gewaltsam in den Hausgang zurückgezogen. Die Thür wurde geschlossen. Der Doktor flüsterte ihr zu:

»Halten Sie sich aufrecht, Miß! Ich habe mehr Fassung von Ihnen erwartet. Kommen Sie, kommen Sie! Nur keine Ohnmacht, wenn ich bitten darf, Sie werden ihn morgen schon ganz anders finden. Besuchen Sie uns nur, dann können Sie selbst urteilen.«

Nach dem, was Iris erduldet hatte, verlangte sie heftig nach einer innigen, aufrichtigen Teilnahme.

»Ist es nicht bejammernswürdig?« sagte sie zu ihrem Kammermädchen, als sie das Haus verlassen hatten.

»Ich weiß es nicht,« entgegnete Fanny.

»Sie wissen es nicht? Gott im Himmel, sind Sie denn von Stein? Haben Sie denn nicht so etwas wie ein Herz in sich?«

»Nicht für die Männer,« antwortete Fanny. »Ich spare mir mein Mitleid für die Frauen auf.«

Iris wußte, welch bittere Erinnerungen sie dieses Geständnis machen ließen. Wie vermißte sie in diesem Augenblicke Rhoda Bennet!