Kostenlos

Blinde Liebe

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Es war nicht leicht, sich eine bestimmte Meinung über das junge Mädchen zu bilden, welches jetzt in Miß Henleys Zimmer erschien. Wenn es richtig ist, was von dem Geschmack der Türken erzählt wird, daß sie nämlich die Schönheit der weiblichen Gestalt höher schätzen als die des weiblichen Gesichtes, so würde die persönliche Erscheinung von Fanny Mere in Konstantinopel die Anerkennung gefunden haben, die ihr in London nicht zu teil wurde. Von schlanker, aber kräftiger und wohlgebauter Gestalt, zog sie die Augen der Männer und zuweilen auch der Frauen, mit denen sie zusammentraf, auf sich, so lange diese hinter ihr hergingen. Wenn sie aber ihre Schritte beschleunigten und im Vorbeigehen einen Blick in ihr Gesicht warfen, war bei ihnen sofort alles Interesse für Fanny verloren. Maler würden den Mangel in ihrem Gesicht als »Fehlen jeder Farbe« bezeichnet haben. Sie war eine der blondesten hübschen Frauen. Hellblonde Haare, mattblaue Augen ohne jeden Ausdruck und eine Hautfarbe, welche aussah, als ob sie vollständig blutlos wäre, riefen einen Eindruck hervor, welcher ihre Mitmenschen meistens unempfindlich für die Schönheit ihrer Figur machte. Trotzdem war diese eigentümliche Blässe kein Zeichen von schlechter Gesundheit, sie ließ im Gegenteil seltene physische Kraft vermuten. Durch ihre ruhige, höfliche Art und Weise schimmerte, wenn man so sagen darf, ein zu Grund liegendes Selbstbewußtsein durch, welches fähig zu sein schien, in bedenklichen Augenblicken des menschlichen Lebens rasch und furchtlos zu handeln. Im übrigen war jedoch der Ausdruck, den ihr Charakter in ihrem Gesicht fand, ein wesentlich passiver. Da war also ein ruhiges, energisches, junges Weib im Besitz von Eigenschaften, welche sich nicht an der Außenseite zeigten – ob von guten Eigenschaften oder schlechten, das konnte allein die Erfahrung lehren.

Da Iris es unmöglich fand, nach dem ersten Eindruck ein Urteil zu fällen und dadurch zu einem unmittelbaren Entschlusse zu kommen, mochte er nun günstig oder ungünstig für die Fremde ausfallen, begann sie das Gespräch mit der ihr eigenen Freimütigkeit ohne jeden Rückhalt.

»Nehmen Sie sich einen Stuhl, Fanny,« sagte sie, »und lassen Sie uns den Versuch machen, ob wir uns verstehen können. Ich denke, Sie werden mit mir darüber übereinstimmen, daß zwischen uns keine Unklarheit herrschen darf. Sie müssen daher auch wissen, daß Ihre frühere Herrin mir erzählte, warum sie Sie entlassen hat. Es war ihre Pflicht, mir die Wahrheit zu sagen, und es ist meine Pflicht, nicht gegen Sie in ungerechter Weise voreingenommen zu sein nach dem, was ich gehört habe. Bitte, glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht weiß und auch nicht zu wissen wünsche, von welcher Art die Versuchung gewesen ist, der Sie –«

»Ich bitte sehr um Entschuldigung, Miß, daß ich Sie unterbreche! Mein Unglück war meine Eitelkeit!«

Ob ihr dieses Bekenntnis schwer wurde oder nicht, war nicht möglich, zu erkennen. Ihre Stimme klang ruhig, ihr Verhalten war bescheiden und höflich wie immer, die Blässe ihres Gesichtes zeigte nicht den geringsten Farbenwechsel. Hatte das Mädchen überhaupt kein Gefühl? Iris fing schon wieder an, zu fürchten, daß sie einen Mißgriff gethan hätte.

»Ich erwarte nicht, daß Sie jetzt näher auf die Sache eingehen,« sagte sie, »und ich frage Sie auch nicht, um Sie irgendwie zu kränken und zu beschämen.«

»Als ich Ihren Brief empfing, Miß, da versuchte ich zuerst, mir klar zu werden, wie ich mich Ihrer Güte würdig zeigen könnte,« antwortete Fanny. »Der eine Weg dazu, der sich mir darbot, war: ich durfte es nicht geschehen lassen, daß Sie besser von mir dächten, als ich verdiente. Wenn einem Mädchen, wie ich bin, zum erstenmale gesagt wird, daß ihre Figur sie für ihr Gesicht entschädige, so fühlt sie sich natürlich durch dieses erste Kompliment, was ihr überhaupt in ihrem ganzen Leben gemacht wurde, sehr geschmeichelt. Meine Entschuldigung, Miß, – und ich habe eine Entschuldigung – ist eine sehr gewöhnliche – ich konnte der Schmeichelei nicht widerstehen. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

Iris fing an, ihre Meinung über Fanny zu ändern. Dieses junge Mädchen war jedenfalls keine gewöhnliche Erscheinung. Es gewann in ihren Augen den Anschein, und mehr noch als bloß den Anschein, daß Fanny eine helfende Hand verdiene, denn sie schien wahrheitsliebend und aufrichtig zu sein.

»Ich verstehe Sie und fühle mit Ihnen.«

Nachdem Iris diese Worte als Entgegnung gesagt hatte, änderte sie zartfühlend den Gegenstand des Gespräches.

»Lassen Sie mich jetzt hören, in welcher Lage Sie sich gegenwärtig befinden,« fuhr sie fort. »Sind Ihre Eltern noch am Leben?«

»Mein Vater und meine Mutter sind tot, Miß.«

»Haben Sie noch sonstige Verwandte?«

»Sie sind alle so arm, daß sie vollkommen außer stande sind, für mich etwas zu thun. Ich habe meine Ehre verloren – und ich muß mir jetzt selbst helfen.«

»Angenommen nun, es gelänge Ihnen nicht, eine andere Stelle zu finden,« entgegnete Iris.

»Es könnte leicht möglich sein, Miß.«

»Wie wollen Sie sich dann helfen?«

»Ich kann das Gleiche thun, was so viele andere Mädchen schon gethan haben.«

»Was soll das heißen?«

»Einige von uns verhungern als Nähterinnen, einige treiben sich auf den Straßen herum, einige enden ihr elendes Leben im Wasser. Wenn es für mich keine andere Aussicht mehr gibt, dann werde ich wohl auch diesen Weg gehen,« sagte das arme Mädchen so ruhig, als ob sie von einer Aussicht, die sich ihr eröffnet hätte, spräche. »Es wird niemand geben, der mich betrauert – und der Tod durch Ertränken soll, wie ich gelesen habe, kein sehr schmerzvoller sein.«

»Sie thun mir weh, Fanny,« sagte sie, »ich zum Beispiel würde darüber traurig sein!«

»Ich danke Ihnen, Miß!«

»Und dann überlegen Sie sich doch,« fuhr Iris fort, »es könnten sich ja auch noch in der Zukunft günstige Gelegenheiten darbieten, welche Sie jetzt nur noch nicht sehen. Sie sprechen von dem, was Sie gelesen haben, und ich habe schon bemerkt, wie klar und richtig Sie sich ausdrücken. Sie müssen eine gute Erziehung genossen haben; war es in der Schule oder zu Hause?«

»Ich habe einstens eine Schule besucht,« antwortete Fanny nicht ganz bereitwillig.

»Eine Privatschule?«

»Ja.«

Diese kurze Antwort warnte Iris, vorsichtig zu sein.

»Schulerinnerungen,« sagte sie, gutgelaunt, »sind nicht immer die angenehmsten in unserem Leben. Ich habe damit vielleicht einen Gegenstand berührt, der Ihnen unangenehm ist?«

»Ja, Miß. Sie sind damit auf eines meiner vielen Mißgeschicke gekommen; so lange meine Mutter lebte, war sie meine Lehrerin. Nach ihrem Tode schickte mich mein Vater in eine Schule. Als er Bankerott machte, war ich gezwungen, dieselbe wieder zu verlassen, gerade als ich eigentlich erst anfing, zu lernen und am Lernen Geschmack zu finden. Außerdem hatten die anderen Mädchen auch in Erfahrung gebracht, daß ich wegging, weil keine Mittel zu Hause mehr vorhanden waren, um das Schulgeld zu bezahlen – und das kränkte mich sehr. Es gibt noch vieles, was ich Ihnen von der Zeit erzählen könnte, aber ich habe allen Grund, meine Schulerinnerungen zu hassen. Ich darf auch jetzt die Erinnerung an die hinter mir liegenden traurigen Tage meines Lebens nicht von neuem auffrischen, da Sie mir durch Ihre Güte Gelegenheit geben wollen, sie ganz zu vergessen.«

Alles dieses wurde so einfach und bescheiden gesagt und verfehlte nicht, auf Iris Eindruck zu machen. Nach einem kurzen Stillschweigen sagte sie:

»Können Sie erraten, Fanny, woran ich jetzt denke?«

»Nein, Miß.«

»Ich habe mir soeben eine Frage vorgelegt. Wenn ich Sie nun in meinen Dienst nehmen wollte, würde ich es wohl jemals zu bereuen haben?«

Für den ersten Augenblick bemächtigte sich Fannys eine heftige Erregung. Die Stimme versagte ihr bei dem Versuche zu sprechen.

Iris fuhr fort:

»Sie sollen den Platz eines Mädchens einnehmen, welches jahrelang bei mir gewesen ist – ein gutes, liebes Wesen, das mich nur verlassen hat, weil sie krank war. Ich darf nicht zu viel von Ihnen erwarten: ich kann nicht hoffen, daß Sie mir das sein werden, was mir Rhoda Bennet gewesen ist.«

Fanny hatte sich jetzt wieder gefaßt.

»Ist es vielleicht möglich,« fragte sie, »daß ich Rhoda Bennet einmal sehen und sprechen kann?«

»Warum wollen Sie das?«

»Sie haben sie gern. Miß, das ist der eine Grund.«

»Und der andere?«

»Rhoda Bennet soll mir dabei helfen, daß ich Sie so bediene, wie ich Sie bedienen möchte; sie kann mir vielleicht Mut machen zu dem Versuche, ihrem Beispiele zu folgen.«

Fanny hielt inne und preßte die Hände heftig gegen einander; der Gedanke, welcher in ihr lebendig geworden war, zwang sie, zu sprechen.

»Es ist so leicht,« sagte sie, »Dankbarkeit zu fühlen, und so schwer, sie zu beweisen!«

»Kommen Sie zu mir,« antwortete ihre neue Herrin, »und beweisen Sie es morgen.«

Von einem mitleidigen Gefühle bewegt, sprach Iris diese Worte, welche einem unglücklichen Mädchen die verlorene Ehre und die dadurch verscherzte Stellung wieder gaben.

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Von der Natur mit einer eisernen Konstitution beschenkt, welche jedem Kranksein erfolgreichen Widerstand leistete, wurde Mr. Henley dennoch hie und da von grundlosem Zweifel an seinem Gesundheitszustand gequält. Wieder einmal in einer derartigen Täuschung befangen, bildete er sich ein, Anzeichen einer Krankheit in sich zu spüren, welche einen Wohnungswechsel nötig machten, und beschloß daher, aus der Stadt aufs Land zu ziehen. Es war dies nur wenige Tage, nachdem seine Tochter ihr neues Kammermädchen in Dienst genommen hatte. Iris zeigte sich über diese Veränderung, welche ihren eigenen Wünschen so sehr entsprach, hocherfreut und war daher eifrigst bemüht, den Plan ihres Vaters zu unterstützen. Angst und Sorge hatten sie angegriffen, so daß auch für sie die Ruhe und Stille des Landlebens nur wohlthuend sein konnte. Schon die erste Woche brachte eine wesentliche Verbesserung ihrer Gesundheit. Sie erfreute sich an der heiteren Schönheit der Wälder und der Felder, sie atmete mit Entzücken die herrliche, reine Luft ein – zuweilen arbeitete sie in dem Garten, wo sie sich eine Ecke für ihre eigenen Gärtnerkünste vorbehalten hatte, zuweilen half sie den Frauen bei den leichteren Arbeiten in der Oekonomie – und so wurden ihre Nerven wieder gekräftigt, und ihr Gemütszustand fand wieder seine frühere Heiterkeit.

 

In der Ausübung ihrer Pflichten rechtfertigte das neue Kammermädchen während des Landaufenthaltes vollkommen das Vertrauen, welches Miß Henley in sie gesetzt hatte.

Sie bewies in ihrer ruhigen, gelassenen Art und Weise die aufrichtigste Dankbarkeit gegen ihre Herrin. Ihren verschiedenartigen Beschäftigungen lag sie verständig und aufmerksam ob, ihr gleichmäßiger Charakter schien sich nie zu verändern; sie gab den übrigen Dienstboten keinen Grund, zu klagen. Eine Eigentümlichkeit in ihrem Wesen rief jedoch feindselige Bemerkungen in den unteren Regionen hervor. So oft sie einen freien Tag zu ihrer eigenen Verwendung hatte, fand sie jedesmal eine Entschuldigung, daß sie nicht irgend einem andern der weiblichen Dienstboten sich anzuschließen brauchte, welche an demselben Tag die gleiche Vergünstigung genossen. Der einzige Gebrauch, den sie von ihrem Ausgehtage machte, war, daß sie mit der Eisenbahn nach einem unbekannten Orte fuhr. Am Abend kehrte sie jedesmal zur rechten Zeit wieder zurück. Iris wußte genug von Fannys traurigen Lebensumständen, um die Gründe ihres Verhaltens achten zu können, und sah daher auch die Notwendigkeit ein, den Zweck dieser jedesmaligen Reise der andern Dienerschaft gegenüber geheim zu halten.

Das angenehme Leben auf dem Landgut hatte schon ungefähr einen Monat gedauert, als Iris die Nachricht erhielt, daß Hugh in der nächsten Zeit nach England zurückkehren würde. Sein Vater war nach einer langen Krankheit gestorben, und das Begräbnis hatte auch schon stattgefunden. Geschäfte, welche in Verbindung mit der Uebernahme der Hinterlassenschaft seines Vaters standen, würden ihn noch wenige Tage in London aufhalten. Dann aber, wenn diese notwendigen Formalitäten erledigt seien, hoffe er, an dem ersten freien Tage Iris besuchen zu dürfen.

Als Mr. Henley diese Nachrichten erhielt, kam er eigensinnig auf seinen alten Plan wieder zurück, obgleich er schon zweimal durchkreuzt worden war, auf eine Heirat zwischen Hugh Mountjoy und Iris.

Er schrieb an den jungen Mann und lud ihn in so herzlicher Weise ein, daß Iris ganz erstaunt darüber war. Und als nun der Gast wirklich ankam, da hatte der liebenswürdige Empfang des alten Henley nur einen Fehler – Iris überbot ihn noch. Iris' Vater gab den beiden jungen Leuten immerfort Gelegenheit, sich allein zu sprechen, und übersah dabei doch, dem bekannten Grundsatze gemäß, daß niemand so blind war wie der, der nicht sehen wollte, daß die Beziehungen zwischen den beiden doch immer nur freundschaftliche Beziehungen blieben, er mochte nun anstellen, was er wollte. Die lange Pflege, welche Hugh seinem sterbenden Vater hatte angedeihen lassen, hatte ihn selbst sehr niedergedrückt und angegriffen. Iris verstand ihn und hatte Mitgefühl mit ihm. Seine bestimmte Ansicht über ihr neues Kammermädchen wollte er zunächst nicht äußern, nachdem er Fanny Mere zum erstenmale gesehen hatte.

»Ich bin geneigt,« sagte er, »dem Mädchen Vertrauen zu schenken, und doch habe ich auf der andern Seite Bedenken, dieser Stimmung zu folgen – ich weiß nicht warum.«

Als das Ende seines Besuches herangekommen war, setzte Hugh seine Reise in nördlicher Richtung fort. Zu der Hinterlassenschaft seines Vaters, die er jetzt angetreten hatte, gehörte auch ein Landhaus an der schottischen Küste des Solwaymeerbusen. Das Besitztum war während der längeren Abwesenheit des ältern Mountjoy auf dem Kontinent sehr vernachlässigt worden. Hugh wollte sich nun mit eigenen Augen überzeugen, ob irgend welche Verbesserungen und Reparaturen notwendig wären.

Nach der Abreise seines Gastes nahm Mr. Henley, der immer noch eigensinnig die Hoffnung auf eine Verbindung zwischen Hugh und Iris nicht aufgegeben hatte, eine scherzhafte Art und Weise im Verkehr mit Iris an und fragte, ob das schottische Landhaus für die Flitterwochen in stand gesetzt werden sollte. Ihre Antwort jedoch, so freundlich sie auch ausgedrückt war, versetzte ihn in heftigen Zorn. Sein rachsüchtiger Charakter riß ihn nicht nur zu harten Worten, sondern sogar zu boshaften Handlungen hin. Er verkaufte einen von seinen Hunden, der sich besonders an Iris angeschlossen hatte, und als er sah, daß sie noch an dem Landaufenthalte Freude hatte, beschloß er, sofort nach London zurückzukehren.

Sie unterwarf sich stillschweigend seinen Anordnungen. Aber die Vorfälle vergangener Tage, als das harte Benehmen ihres Vaters sie aus seinem Hause vertrieben hatte, tauchten wieder unheilverkündend in ihrer Erinnerung auf. Sie legte sich selbst die Frage vor:

»Soll wieder ein Tag kommen, an dem ich meinen Vater von neuem verlassen muß?«

Und der Tag kam – sie hatte keine Ahnung, durch welche Umstände veranlaßt.

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Die Haushaltung Mr. Henleys war in London wieder vollständig eingerichtet, als eines Morgens eines der Dienstmädchen in Iris' Zimmer erschien mit einer Karte in der Hand und einen Herrn meldete, der Miß Henley zu sprechen wünsche. Iris sah auf die Karte. Der Herr war Mr. Vimpany.

Sie stand schon im Begriff, ihm sagen zu lassen, daß sie verhindert sei, ihn zu empfangen, als sie sich eines bessern besann. Die Worte, welche Mrs. Vimpany beim Abschiede zu ihr gesagt, hatten lebhaften Eindruck auf sie gemacht. Sie hatte die Empfindung, als sei es hartherzig von ihr gewesen, daß sie noch nicht an diese arme, aber reuige Sünderin geschrieben. Führte sie immer noch das einsame, traurige Leben in jener alten, verfallenen Stadt? Oder hatte sie einen neuen Versuch gemacht, auf die Bühne zurückzukehren? Ihr dicker Gatte, der sich jetzt in so unverfrorener Weise bei ihr melden ließ, konnte wenigstens diese Fragen beantworten. Nur aus diesem Grunde entschloß sich Iris, ihn zu empfangen.

Als sie das Empfangszimmer betrat, bot sich ihr ein unerwarteter, sie in doppelter Hinsicht überraschender Anblick dar.

Die äußere Erscheinung des Doktors zeigte eine vollkommene, sofort in die Augen fallende Veränderung; er war in schönster Uebereinstimmung mit seinem Beruf ganz in Schwarz gekleidet. Was aber noch viel merkwürdiger war, der unwissende, ungebildete Mr. Vimpany hatte eine französische Novelle zur Hand genommen, die zufällig unter anderen Büchern auf dem Tische lag, und schien sehr eifrig darein vertieft. Iris blickte ihn überrascht an.

»Ist das der Grund Ihres Staunens?« fragte der Doktor, indem er ihr das französische Buch entgegen hielt.

»Ich muß gestehen, daß ich allerdings nicht auf solche Veränderungen und Fortschritte vorbereitet war,« antwortete Iris.

»O, sprechen Sie nicht von Fortschritten! Ich habe in Paris studirt. Beinahe drei Jahre lebte ich unter französischen Studenten der Medizin. Als ich dieses Buch auf dem Tische bemerkte, dachte ich bei mir: ›Du solltest doch einmal versuchen, ob du die Sprache ganz vergessen hast in der langen Zeit, die – wie Sie wissen – seit jenen Tagen vergangen ist.‹ Nun, mein Gedächtnis ist in den meisten Dingen nicht besonders gut, aber sonderbarerweise sind doch einige von den französischen Brocken hängen geblieben. Hoffentlich befinden Sie sich wohl, Miß Henley. Darf ich fragen, ob Sie meine neue Adresse bemerkt haben, als ich meine Karte hereinschickte.«

»Ich habe nur Ihren Namen gelesen.«

Der Doktor zog sein Taschenbuch heraus und entnahm ihm eine zweite Karte. Mit stolzer Miene zeigte er auf die Adresse: »5, Redburn Road, Hampstead Heath,« dann betrachtete er mit dem gleichen Stolze seine schwarzen Kleider.

»Ganz meinem Berufe entsprechend gekleidet! Nicht wahr?« fragte er. »Ich habe mir eine neue Praxis gekauft und bin ein neuer Mensch geworden. Im Anfang ist es mir nicht leicht gefallen, aber, zum Teufel – ich bitte sehr um Entschuldigung – ich wollte sagen, die Achtung vor mir selbst forderte es und ließ mir keine Ruhe. Wenn Sie nichts dagegen haben, werd' ich mir eine Freiheit erlauben. Aber nicht böse sein!«

Er brachte eine Anzahl Visitenkarten aus der Tasche und legte sie in einem zierlichen Halbkreis auf den Tisch.

»Ein empfehlendes Wort würde, wenn sich gerade die Gelegenheit bietet, eine große Freundlichkeit Ihrerseits sein,« erklärte er. »Vortreffliche Luft in Redburn Road, eine brillante Aussicht – leider nur zu abgelegen von dem großen Verkehr. Nicht, daß ich mich darüber beklagte. Arme Leute können sich nicht alles aussuchen, wie sie es wünschen. Ich würde es selbstverständlich auch vorgezogen haben, in einem vornehmen Stadtteile Londons meinen Beruf auszuüben. Aber unser kleiner Glücksfall –«

Er machte mit diesen Worten gleich einen Sprung mitten hinein in das, was er sagen wollte. Nun war aber gerade der Verkauf der wunderbaren Diamantnadel, durch welche Lord Harry Mrs. Vimpanys traurige Dienste bezahlt hatte, von allen gewiß das letzte, was der Doktor in der Gegenwart von Miß Henley hätte erzählen sollen. Er war auch noch so ungeschickt, eine Pause darnach eintreten zu lassen.

Iris benützte diesen Umstand und leitete das Gespräch auf ein Thema über, welches sie interessirte.

»Wie geht es Mrs. Vimpany?« fragte sie.

»O, sie befindet sich wohl.«

»Ist sie gern in ihrem neuen Hause?«

Der Doktor gab eine seltsame Antwort.

»Ich kann es wirklich nicht sagen,« entgegnete er.

»Soll das heißen, daß Mrs. Vimpany ihre Ansicht darüber für sich behält?«

Der Doktor lachte.

»Bei aller meiner Erfahrung,« sagte er, »bin ich noch niemals in meinem ganzen Leben einer Frau begegnet, die das gethan hätte. Nein, nein, die Sache ist einfach die, meine Frau und ich, wir haben uns getrennt. Aber dabei ist doch gar keine Ursache, so finster und ernst auszusehen! Mangel an Uebereinstimmung der Charaktere, wie man zu sagen pflegt, hat uns zu einer Trennung, in aller Freundschaft selbstverständlich, veranlaßt. Es war für beide Teile eine Wohlthat; sie geht ihren Weg, und ich gehe den meinigen.«

Seine Worte verursachten Iris Ekel, und sie ließ es ihn fühlen.

»Wird es irgend welchen Erfolg haben, nach Mrs. Vimpanys Adresse zu fragen?« sagte sie.

Die unverwüstliche gute Laune des Doktors hielt auch diesmal wie immer stand.

»Bedaure, Ihnen nicht dienen zu können! Mrs. Vimpany hat mir ihre Adresse nicht mitgeteilt. Das ist merkwürdig, nicht wahr? Die Sache ist die: Nachdem Sie uns verlassen hatten, war sie sehr traurig; sie sprach von ihrer Pflicht und von der Sorge um ihr Seelenheil, und was dergleichen dummes Zeug mehr ist. Sobald ich aber erfahre, wo sie sich aufhält, werde ich mir das Vergnügen machen, es Ihnen mitzuteilen. So viel ich weiß, ist sie irgendwo Krankenpflegerin geworden.«

»Krankenpflegerin? In einem Spital?«

»Hm, sie gehört zu einer sogenannten Schwesterschaft; sie läuft herum in einem schäbigen, schwarzen Kleide und in einer weißen Haube, die aussieht, als ob sie Hörner hätte. Wenigstens hat es mir Lord Harry gestern so erzählt.«

Iris vermochte die heftige Erregung, die sich sofort bei diesen Worten ihrer bemächtigte, nicht zu verbergen.

»Lord Harry?« rief sie aus. »Wo ist er? In London?«

»Ja, in Parkers Hotel.«

»Wann ist er denn zurückgekommen?«

»Vor einigen Tagen, und – was glauben Sie wohl – er ist von den Goldfeldern als ein glücklicher, als ein reicher Mann zurückgekehrt. Ja, ja, ich habe die Katze aus dem Sacke gelockt! Ich soll es aber vor jedermann geheim halten, namentlich vor Ihnen; er hat noch einige ganz besondere Ueberraschungen für Sie in Aussicht. Sagen Sie ihm deshalb nicht, daß ich geplaudert habe. Wir hatten in den letzten Tagen in Honeybuzzard einen kleinen Zwist, jetzt sind wir aber wieder versöhnt, und ich möcht' um alles in der Welt nicht die Freundschaft des Lord verlieren.«

Iris versprach, darüber zu schweigen, aber zu wissen, daß der wilde Lord wieder in England war und in Ungewißheit darüber zu bleiben, ob er zurückgekehrt sei mit der Blutschuld auf dem Gewissen oder nicht, das war mehr, als sie ertragen konnte.

»Ich muß noch eine Frage an Sie stellen,« sagte sie. »Ich habe nämlich Grund, zu fürchten, daß Lord Harry dieses Land verließ mit der Absicht, Rache an –«

Mr. Vimpany brauchte keine weitere Erklärung.

»Ja, ja, ich weiß,« sagte er. »Sie können aber ruhig darüber sein, es ist nichts Unrechtes geschehen, weder auf diese noch auf jene Weise. Der Mann, den er verfolgte, war ihm, als er in Südafrika landete, schon wieder entschlüpft. So hat er mir wenigstens selbst erzählt.«

 

Nach dieser Antwort suchte der Doktor so schnell als möglich, das Gespräch zu beenden. Er wolle, wie er scherzend bemerkte, nur rasch die Flucht ergreifen, bevor Miß Henley ihn zu weiteren Geständnissen verleite.

Nachdem er jedoch die Thüre schon geöffnet hatte, kehrte er plötzlich um und kam zu Iris zurück, der er noch einige Worte in tiefster Heimlichkeit zuflüsterte.

»Wenn Sie es nicht vergessen wollen, mich Ihren Freunden zu empfehlen,« sagte er, »dann werde ich Ihnen noch ein anderes Geheimnis anvertrauen. Sie werden in einem oder zwei Tagen den Lord sehen, sobald er von den Rennen zurückkehrt. Leben Sie wohl!«

»Von den Rennen? Was hat denn Lord Harry bei den Rennen zu thun?«