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Armadale

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Nachdem er sich in diesen Worten und so, daß Bashwood sie hören konnte, für die bereits früher an gekündigte Aussage im Falle von Allan’s plötzlichem Tode im Sanatorium den Weg gebahnt hatte, war er im Begriffe, weiter zu sprechen, als von unten heraus der Ton wie von einer Thür, die man zu öffnen versucht, seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte.

Unverzüglich ging er die Treppe hinab und schloß die Verbindungsthür zwischen dem ersten und dem zweiten Stock auf, die er beim Herausgehen selbst zugeschlossen hatte. Allein die Person, die sich an der Thür versucht hatte, wenn dies wirklich der Fall gewesen, war zu schnell für ihn. Er sah den Corridor hinab und über die Treppe in das Vorhaus, entdeckte indeß nichts. So kehrte er, nachdem er die Verbindungsthür zum zweiten Male verschlossen hatte, zu Miß Gwilt zurück.

»Verzeihen Sie mir«, nahm er wieder das Wort; »es war mir, als hörte ich unten etwas. Hinsichtlich des kleinen Hakens, von dem ich so eben hatte sprechen wollen, muß ich Ihnen mittheilen, daß Mr. Armadale einen Freund mi gebracht hat, der den wunderlichen Namen Midwinter führt. Kennen Sie den Herrn?« fragte er mit einer argwöhnischen Besorgniß in seinen Blicken, welche die studierte Gleichgültigkeit in seinem Tone eigenthümlich Lügen strafte.

»Ich kenne ihn als einen alten Freund Mr. Armadale’s«,« sagte sie. »Bleibt er —« Die Stimme versagte ihr und ihre Augen senkten sich vor den forschenden Blicken des Doktors. Sie beherrschte aber die momentane Schwäche und vollendete ihre Frage. »Bleibt er auch die Nacht hier?«

»Mr. Midwinter ist ein Mann von rauhen Manieren und mißtrauischem Temperament«, entgegnete der Doctor, sie unverwandt ansehend. »Sobald als Mr. Armadale meine Einladung angenommen hatte, bestand er seinerseits brüsk genug darauf, ebensalls hier zu bleiben.«

Er hielt inne, um den Eindruck wahrzunehmen, den seine Worte auf sie machten. Da sie vorsichtig vermieden hatte, den angenommenen Namen ihres Mannes ihm zu nennen, so tappte natürlich der Doctor völlig im Finstern und sein Verdacht war nothwendig der allervagsten Art. Er hatte gehört, wie ihr die Stimme versagte, gesehen, wie sie die Farbe wechselte, er argwöhnte, daß sie hinsichtlich Midwinter’s eine gewisse Reserve beobachte, weiter nichts.

»Haben Sie ihm gewillfahrt?« fragte sie »An Ihrer Stelle hätte ich ihm die Thür gewiesen.«

Die unerschütterliche Gelassenheit ihres Tons sagte dem Doctor, daß heute Abend ihre Selbstbeherrschung nicht wieder zu afficiren war.

»Hätte ich nur meine eigenen Empfindungen zu berücksichtigen gehabt«, erwiderte er, »so berge ich Ihnen nicht, daß ich, wie Sie sich ausdrücken, Mr. Midwinter die Thür gewiesen haben würde. Als ich mich aber deshalb an Mr. Armadale wandte, sah ich, daß dieser vor einer Trennung von seinem Freunde die größte Angst hatte. Unter diesen Umständen blieb nichts Anderes übrig, als ihm wieder zu willfahren. Sich ihm zu widersetzen, ganz abgesehen von meinem natürlichen Widerwillen gegen Skandal und Unruhe in meinem Hause, wie sie mir ein Temperament wie das seines Freundes in Aussicht stellte«, setzte er hinzu, diesmal der Wahrheit nahe kommend, »an eine solche Verantwortlichkeit durfte keinen Augenblick gedacht werden. Demnach bleibt denn Mr. Midwinter heute Nacht im Hause und nimmt – er besteht darauf, sollte ich vielmehr sagen – nimmt das Zimmer neben dem Mr. Armadale’s ein. Rathen Sie mir, meine verehrte Dame«, schloß der Doctor so laut und nachdrücklich, als er konnte, »welche Zimmer sollen wir ihnen im ersten Stock anweisen?«

»Bringen Sie Mr. Armadale nach Nummer vier.«

»Und seinen Freund neben ihn nach Nummer drei?« fragte der Doctor. »Gut, ganz gut! Das sind vielleicht die behaglichsten Zimmer. Auf der Stelle will ich die nöthigen Anordnungen treffen. Eilen Sie nicht fort, Mr. Bashwood«, rief er munter aus, als er an die Treppe gekommen war. »Ich habe den Schlüssel meines Gehilfen unten auf dem Fensterstock liegen lassen, und Miß Gwilt kann Sie jederzeit hinauslassen. Bleiben Sie nicht so lange auf, Mrs. Armadale! Ihr Nervensystem verlangt viel Schlaf. Gott schütze Sie, gute Nacht!«

Noch immer in Gedanken versunken, in unaussprechlicher Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, schritt Bashwood aus seiner Ecke auf sie zu.

»Soll ich gehen?« fragte er.

»Nein, Sie sollen bleiben. Ich habe Ihnen gesagt, daß, wenn Sie warteten, Sie morgen Alles erfahren sollten. Warten Sie hier.«

Er zögerte und sah sich um. »Der Doctor«, stammelte er, »ich dachte, der Doctor hätte gesagt —«

Der Doctor wird sich in nichts mischen, was ich diese Nacht hier im Hause thue. Ich sage Ihnen, bleiben Sie da. Im oberen Stock gibt’s freie Zimmer genug. Nehmen Sie eins davon.«

Abermals kam das Zittern über Bashwood, als er sie ansah.

»Darf ich fragen —«, begann er.

»Nichts dürfen Sie fragen.«

»Wollen Sie nicht so gut sein, mir zu sagen —«

»Nichts will ich Ihnen sagen, bevor die Nacht vorüber und der Morgen gekommen ist.«

Seine Neugier überwand seine Furcht. Er ließ sich nicht abschrecken.

»Ist’s etwas Furchtbares, so furchtbar, daß Sie mir’s nicht sagen können?«

Sie verlor die Geduld und stampfte mit dem Fuße. »Gehen Sie!« sagte sie, rasch den Schlüssel vom Fensterstocke nehmend. »Sie thun ganz ruht, wenn Sie mir mißtrauen, ganz recht, wenn Sie mir im Dunkeln nicht weiter folgen. Gehen Sie, ehe das Haus geschlossen wird; ich kann ohne Sie auskommen.« Den Schlüssel in der einen, den Leuchter in der andern Hand schritt sie der Treppe zu.

Schweigend folgte ihr Bashwood Niemand, der ihre Vergangenheit kannte, konnte es entgehen, daß sie zum Aeußersten getrieben war und mit Bewußtsein am Rande eines Verbrechens stand. Im ersten Schrecken über diese Entdeckung machte er sich von der Gewalt los, die sie über ihn besaß, er dachte und handelte wie ein Mann, der wieder einen eigenen Willen hatte.

Sie steckte den Schlüssel in die Thür und wandte sich, von dem Lichte der Kerze voll beschienen, zu ihm um. »Vergessen Sie mich und vergeben Sie mir«, sagte sie. »Wir sehen uns nicht wieder.« Sie öffnete die Thür und gab ihm die Hand. Ihrem Blicke, ihren Worten hatte er widerstanden, der magnetische Zauber ihrer Berührung aber besiegte ihn schließlich. »Ich kann Sie nicht verlassen«, sagte er, verzweiflungsvoll die Hand drückend, die sie ihm bot; »was muß ich thun?«

»Kommen und sehen Sie«, antwortete sie, ohne ihm nur einen Augenblick zur Ueberlegung zu lassen.

Mit fester Hand führte sie ihn über den Corridor der ersten Etage vor das Zimmer Nummer vier. »Merken Sie sich das Zimmer da«, flüsterte sie. Nach einem raschen Blicke auf die Treppe, um sich zu vergewissern, daß auch Niemand dort sei, ging sie wieder an das entgegengesetzte Ende des Corridors. Hier, dem Fenster gegenüber, durch welches der Gang sein Licht erhielt, befand sich ein kleines Zimmer mit einem Gitter oben in der Thür, das zum Schlafzimmer für den erwarteten Assistenzarzt des Doctors bestimmt war. Bei der Lage des Zimmers konnte man durch das Gitter die Schlafräume zu beiden Seiten des Corridors übersehen, sodaß der Hilfsarzt im Stande war, alle etwaigen Unregelmäßigkeiten seitens der seiner Obhut Untergebenen Kranken wahrzunehmen, ohne selbst bemerkt zu werden. Miß Gwilt machte die Thür auf und führte ihn in dies leere Zimmer.

»Warten Sie hier«, sagte sie, »während ich die Treppe hinaufgehe, und schließen Sie sich ein, wenn Sie das wollen. Sie selbst werden zwar drinnen im Dunkeln sein, aber draußen auf dem Corridor brennt das Gas. Fassen Sie an dem Gitter Posto und vergewissern Sie sich, daß Mr. Armadale in das Zimmer geht, welches ich Ihnen so eben bezeichnet habe, und es nachher nicht wieder verläßt. Wenn Sie das Zimmer, ehe ich wiederkomme, nur eine Sekunde aus den Augen verlieren, so werden Sie es Zeit Ihres Lebens zu bereuen haben. Thun Sie aber, wie ich Ihnen sage, so sollen Sie mich morgen wiedersehen und selbst Ihren Lohn fordern dürfen. Rasch mit Ihrer Antwort! Ja oder Nein?«

In Worten konnte er nicht erwidern. Er zog ihre Hand an seine Lippen und küßte sie entzückt. Darauf ging sie. Von seinem Platze vom Gitter aus sah er sie über den Corridor nach der Treppe schlüpfen, durch deren Thür sie verschwand. Dann war Alles still.

Bald ließen sich indeß weibliche Stimmen hören. Es waren die zweier Dienstmädchen, die erschienen, die Betten in Nummer drei und vier zu überziehen. Die Mädchen waren außerordentlich guter Laune und lachten und plauderten durch die offenen Thüren der Zimmer hindurch lustig mit einander. Endlich kämen die Kunden des Herrn, meinten sie; wenn es so fortginge, würde das Haus bald ein freundliches Ansehen bekommen.

Nach einer Weile waren die Betten zurecht gemacht und die Mädchen eilten nach dem Erdgeschosse zurück, wo die Schlafräume des Dienstpersonals lagen. Dann war wieder Alles still.

Jetzt hörte man die Stimme des Doctors. Er erschien am Eingange des Corridors und zeigte Allan und Midwinter den Weg nach ihren Zimmern. Alle zusammen traten in Nummer vier ein. Wenige Minuten darauf kam der Doktor allein wieder heraus, wartete, bis Midwinter ihm folgte, und wies mit einer förmlichen Verneigung aus Nummer drei. Ohne ein Wort zu sagen, ging Midwinter in sein Zimmer und schloß sich darin ein. Der Doctor schritt der Treppenthür zu, schloß sie auf, wartete horchend auf dem Corridor und pfiff leise vor sich hin.

Vorsichtig gedämpfte Stimmen drangen aus der Halle herauf. Der Anstaltsapotheker und die erste Wärterin erschienen ihrerseits, um sich nach ihren im obersten Stockwerke des Hauses befindlichen Schlafzimmern zu begeben. Der Mann verbeugte sich stumm, als er an dem Doctor vorbeiging, stumm knixte die Wärterin und folgte ihm. Mit einer höflichen Handbewegung erwiderte der Doctor die ihm gebotenen Grüße, und wiederum allein, blieb er abermals horchend stehen, pfiff von neuem leise vor sich hin, schritt darauf nach der Thür von Nummer vier und öffnete den in der Ecke an der Wand angebrachten Räucherungsapparat. Als er in diesen hineinsah, hörte sein Pfeifen auf. Er nahm ein langes Flacon von Rubinglas heraus, prüfte es am Gaslichte, stellte es wieder an den alten Platz und machte den Kasten zu. Sobald dies geschehen, schlich er auf den Zehen zu der offenen Treppenthür, schritt hindurch und schloß sie wie gewöhnlich von innen.

 

Bashwood hatte ihn beim Apparat gesehen, hatte bemerkt, in welcher Weise er seinen Rückzug durch die Treppenthür bewerkstelligte – von neuem klopfte ihm das Herz vor unsaglicher Spannung. Die Angst preßte ihm kalten Schweiß aus die Stirn und unwillkürlich griffen seine Hände nach dem Schlüssel, der innen in der Thür seines Zimmers stak. In arger Furcht vor dem, was da kommen möchte, drehte er ihn herum und wartete zitternd.

Langsam dehnten sich ihm die Minuten – und nichts passierte. Das Todesschweigen war ihm fürchterlich, die Einsamkeit des öden Corridors dünkte ihm voll Verrath und Verbrechen. Er begann zu zählen, um seinen Geist abzulenken von seiner Situation, um sich die immer steigende Angst vom Halse zu halten. Langsam folgten sich die Zahlen, die er flüsterte, von eins bis hundert, und immer geschah nichts. Schon hatte er das zweite Hundert begonnen, schon war er bis zwanzig gekommen, als, ohne daß vorher nur ein Laut Kunde gegeben hätte, daß er sich in seinem Zimmer bewegte, Midwinter plötzlich aus dem Corridor erschien.

Er blieb einen Augenblick stehen und horchte, dann ging er an die Treppe und sah in die Halle hinab. Dann probierte er, zum zweiten Male heute Abend, das Schloß an der Treppenthür, und zum zweiten Male fand er es verschlossen. Er überlegte eine Minute, probierte darauf zunächst die Schlafzimmerthüren zur Rechten, alsdann die zur Linken, blickte in ein Zimmer nach dem andern und sah, daß sie leer waren, und kam endlich an die Thür des Gemaches, in welchem Bashwood sich versteckt hielt. Auch hier leistete das Schloß ihm Widerstand. Er lauschte und sah zum Gitter empor. Kein Laut regte, kein Licht zeigte sich drinnen. »Soll ich die Thür einschlagen«, sagte er zu sich selbst, »und mir Gewißheit verschaffen? Nein, es würde dem Doctor einen Anhalt an die Hand geben, mich aus dem Hause zu weisen.« Er entfernte sich und schritt dem Fenster bei der Treppe, ganz am Ende des Corridors, zu. Hier zog der Räucherungsapparat seine Aufmerksamkeit aus sich. Nachdem er umsonst versucht hatte, den Kasten zu öffnen, schien sein Argwohn zu erwachen. Er durchsuchte alle Thüren des Corridors und bemerkte, daß sich neben keiner andern eine ähnliche Vorrichtung befand. Von neuem ging er ans Fenster und betrachtete sich den Apparat von neuem, um sich endlich mit einer Gebärde abzuwenden, welche deutlich erkennen ließ, daß er das Räthsel dieser Vorrichtung vergeblich zu lösen suchte.

Dergestalt überall scheiternd, machte er doch noch keine Anstalt, sich wieder in sein Schlafzimmer zu verfügen. Die Augen auf Allan’s Zimmer heftend, blieb er nachdenklich am Fenster stehen. Hätte Bashwood, der ihn durch das Gitter verstohlen belauschte, ebenso gut Midwinter in die Seele blicken können, wie er dessen Körper sah, wohl möchte alsdann ihm das Herz noch stärker geklopft haben, wie es ihm vor kaum mehr erträglicher Spannung schon jetzt klopfte.

Worüber sann Midwinter, als er in tiefer Nacht einsam dastand in dem fremden Hause?

Er sann, wie er allmälig die Zusammenhanglosen Eindrücke, die auf ihn einstürmten, auf einen Punkt beziehen könne. Von Anfang an überzeugt, daß irgend eine verborgene Gefahr Allan im Sanatorium drohe, dehnte er seinen Verdacht, freilich vag und unbestimmt, zunächst auf die ganze Lokalität aus, auf seine Frau, von der er fest glaubte, daß sie sich jetzt unter einem Dache mit ihm befinde; auf den Doctor, welcher so offenbar wie Bashwood selbst in ihr Vertrauen gezogen war; jetzt verengerte er die Grenzen seines Argwohns, er concentrirte diesen nunmehr beharrlich auf Allan’s Zimmer. Umsonst hatte er seinen Verstand angestrengt, die Kränkung, die ihm gestern selbst zugefügt worden war, mit seinem Argwohne bezüglich eines gegen Allan gerichteten Complots in Verbindung zu bringen; jetzt gab er dies Beginnen als fruchtlos auf, und wirr und schwirr im Kopfe von vielem Sinnen und Grübeln, nahm er seine Zuflucht zu den Thatsachen, die ihm seit seiner Ankunft im Sanatorium entgegengetreten waren. Alles, was er unten wahrgenommen hatte, wies darauf hin, daß durch ihren Aufenthalt im Sanatorium ein geheimer Plan gefördert werden sollte; nach Allem, was er oben wahrnahm, stand der Schlupfwinkel, wo die Gefahr lauerte, mit Allan’s Zimmer in Zusammenhang. Zu dieser Folgerung gelangen und den Entschluß fassen, das Complott, welcher es auch sei, dadurch zu vereiteln, daß er selbst Allan’s Stelle einnahm, war bei Midwinter das Werk einer Minute. Der wirklichen Gefahr gegenüber machte sich die große Natur des Mannes instinctiv von der Schwäche frei, mit welcher sie in glücklichem und bessern Zeiten behaftet gewesen war. Der einzige Zweifel, der ihn noch quälte, als er am Fenster stand und sann, war der, ob er auch Allan zu einem Zimmertausche werde bewegen können, ohne eine Erklärung geben zu müssen, die Allan die Wahrheit ahnen lassen könnte.

In dem Augenblicke jedoch, in dem seine Blicke noch auf das Zimmer geheftet blieben, war der Zweifel gelöst, er fand den unbedeutenden, doch hinreichenden Grund, welchen er suchte. Bashwood sah, wie er schnell nach der Thür ging, und hörte ihn leise anklopfen und flüftern: »Allan, bist Du schon zu Bette?«

»Nein«, antwortete es drinnen; »komm herein.«

Eben schien Midwinter im Begriffe zu stehen, die Thür aufzumachen, als er plötzlich inne hielt, wie wenn ihm plötzlich etwas einfiele. »Warte einen Augenblick, sagte er durch die Thür und schritt dann stracks auf das letzte Zimmer zu. »Ist da drinnen Jemand, der uns belauert«, rief er laut, »so soll er uns durch das da belauern!« Er nahm sein Taschentuch heraus und stopfte es zwischen die Drahtstäbe des Gitters, sodaß die Oeffnung vollkommen geschlossen war. So hatte er den drinnen lauernden Spion – wenn wirklich einer drin war – gezwungen, entweder sich durch Wegnehmen des Tuchs zu verrathen oder für Alles, was zunächst geschehen konnte, blind zu bleiben, und nun erst trat er bei Allan ein.

»Du weißt, was für elende Nerven ich habe«, begann er, »und wie jämmerlich ich selbst in meinen besten Tagen schlafe. Heute kann ich wieder einmal nicht schlafen; das Fenster in meinem Zimmer rasselt bei jedem Windstöße. Ich wünschte, es wäre so fest wie Deines hier.«

»Mein lieber Junge«, rief Allan, »ich mache mir aus einem klappernden Fenster nichts. Laß uns mit den Zimmern tauschen! Unsinn! Warum entschuldigst Du Dich gegen mich? Weiß ich nicht, wie leicht so erregbare Nerven wie Deine von Kleinigkeiten afficirt werden? Nun der Doctor mich hinsichtlich der armen lieben Neelie beruhigt hat, beginne ich die Strapazen der Reise zu spüren, und ich stehe dafür, daß ich, sei es, wo es wolle, bis in den hellen Tag hinein schlafen werde.« Er nahm seine Reisetasche. »Wir müssen uns beeilen«, setzte er hinzu, indem er auf seine Kerze wies. »Man hat mir nicht viel Licht zum Zubettgehen gegeben.«

»Sei ganz still, Allan«, sagte Midwinter, ihm die Thür öffnend. »Wir dürfen in so später Stunde das Haus nicht stören.«

»Ja, ja«, entgegnete Allan flüsternd »Gute Nacht! Hoffentlich schläfst Du nun so gut, wie ich schlafen werde.«

Midwinter begleitete ihn nach Nummer drei und bemerkte, daß seine eigene Kerze, die er darin hatte stehen lassen, nicht größer war als die Allan’s. »Gute Nacht«, sagte er und trat wieder auf den Corridor heraus.

Von neuem ging er auf das Gitter zu und horchte von neuem. Das Taschentuch war noch genau so darin, wie er es hineingestopft hatte, und noch immer kein Laut drinnen zu vernehmen. In tiefen Gedanken schritt er über den Corridor seinem neuen Zimmer zu. Gab es kein anderes Mittel als das, welches er versucht hatte? Keins. Jedwede offene Vertheidigung oder Schutzmaßregel wäre da, wo die Art der Gefahr und die Seite, woher sie kam, gleich unbekannt blieben, an und für sich nutzlos gewesen, und mehr als nutzlos, weil sie die Leute im Hause aufmerksam gemacht und veranlaßt hätte, auf ihrer Hut zu sein. Das Einzige was Midwinter zum Schutze seines Freundes thun konnte, dem er seinen auf keine bestimmte Thatsache gegründeten Verdacht nicht mittheilen durfte und dessen Vertrauen auf den äußerlich so bieder sich darstellenden Doctor er nicht erschüttern mochte, blieb die Vertauschung der Zimmer und die einzig zu befolgende Politik die Politik des Zuwartens. »Auf eins kann ich bauen«, sagte er zu sich selbst, als er zum letzten Male den Corridor überblickte; »ich kann darauf bauen, daß ich wach bleibe.

Nach einem Blicke auf die gegenüber tickende Wanduhr begab er sich nach Nummer vier. Man hörte das Geräusch der sich schließenden Thür und des vorgeschobenen Riegels, dann lag von neuem das ganze Haus in Grabesschweigen.

Nach und nach überwand das Grausen vor der Stille und Finsterniß in Bashwood die Furcht, das Taschentuch zu berühren. Vorsichtig zog er einen Zipfel desselben heraus, wartete, sah sich um und faßte sich endlich das Herz, das ganze Taschentuch durch die Drahtstäbe des Gitters zu sich hereinzuziehen. Er steckte es in die Tasche, dachte aber sogleich an die Folgen, die es haben könne, wenn man es bei ihm fände, und warf es in einen Winkel des Zimmers. Er zitterte dabei, sah furchtsam nach seiner Uhr und stellte sich wieder ans Gitter, um auf Miß Gwilt zu warten.

Es war dreiviertel auf eins; der Mond stand jetzt der Hauptfronte des Sanatoriums gerade gegenüber. Von Zeit zu Zeit fiel sein Licht hell auf das Corridorfenster, wenn die Zwischenräume in den jagenden Wolken es durchließen. Der Wind hatte sich erhoben und sang leise seinen trübseligen Gesang, wenn er über die öde Umgebung des Hauses strich.

Als der Zeiger der Uhr aus ein Viertel zwei wies, trat Miß Gwilt leise in den Corridon »Kommen Sie heraus«, flüsterte sie durch das Gitter, »und folgen Sie mir. Sie ging an die Treppe zurück, die sie eben herabgekommen war, stieß die Thür sanft auf und führte Bashwood, der inzwischen sein Zimmer verlassen hatte, nach dem Treppenabsatz vor der zweiten Gage. Hier fragte sie ihn, was sie unten zu fragen nicht gewagt hatte.

»Ist Mr. Armadale in Nummer vier untergebracht worden?«

Ohne zu sprechen, nickte er mit dem Kopfe.

»Antworten Sie mir in Worten. Hat Mr. Armadale seitdem das Zimmer verlassen?«

»Nein«, entgegnete er.

»Haben Sie, seit ich von Ihnen ging, auch das Zimmer niemals aus den Augen gelassen?«

»Niemals«, lautete seine Antwort.

Etwas Eigenthümliches in seinem Wesen, etwas Ungewohntes im Tone seiner Stimme zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie nahm ihren Leuchter von einem nahestehenden Tische, auf den sie denselben gestellt hatte, und ließ den Schein des Lichts auf sein Gesicht fallen. Seine Augen stierten, die Zähne klapperten ihm, Alles verrieth die Angst, in der er sich befand, nichts aber sagte ihr, daß diese Angst von dem Bewußtsein seiner Schuld, von dem Bewußtsein herrührte, daß er sie zum ersten Male in seinem Leben betrogen hatte. Hätte sie ihm nicht so unumwunden gedroht, hätte sie minder rückhaltslos von dem Zusammensein gesprochen, das ihn am nächsten Morgen belohnen sollte, dann hätte er vielleicht die Wahrheit gestanden. So hatten seine schlimmsten Befürchtungen und seine liebsten Hoffnungen das gleiche Interesse, ihr jene verhängnißvolle Lüge zu sagen, die er ihr auch jetzt wiederholte, als sie ihre Frage zum zweiten Male an ihn richtete.

Sie sah ihn an, den Mann, von dem sie am allerwenigsten erwartete, daß er sie betrügen würde, den Mann, den sie selbst betrogen hatte.

»Sie scheinen mir überreizt«, sprach sie gelassen. »Die Nacht ist über Ihre Kräfte gegangen. Gehen Sie hinauf und ruhen Sie aus. Sie werden die Thür von einem der Zimmer offen finden; das nehmen Sie. Gute Nacht!«

Damit reichte sie ihm die Hand und wollte gehen. Verzweiflungsvoll hielt er sie zurück. Die Angst vor dem, was geschehen möchte, wenn sie allein gelassen würde, zwang ihm die-Worte auf die Lippen, zu denen ihm zu einer andern Zeit der Muth gefehlt haben würde.

»Thun Sie’s nicht«, flehte er flüsternd, »ach, thun Sie’s nicht, gehen Sie heute Nacht nicht hinunter!«

Sie ließ seine Hand los und bedeutete ihn, die Kerze zu nehmen. »Morgen sollen Sie mich sprechen«, sagte sie. »Heute kein Wort mehr!«

Wie immer beherrschte ihn ihr starker Wille auch im letzten Augenblicke. Er nahm die Kerze, wartete aber und folgte ihr mit gierigen Blicken, während sie die Treppe hinabstieg. Die Kälte der Decembernacht schien durch alle Wärme des Hauses ihren Weg bis zu ihr gefunden zu haben. Sie hatte einen langen dicken schwarzen Shwal umgethan und ihn fest um ihre Brust gezogen. Der Flechtenkranz zu dem sie ihr Haar zu ordnen pflegte, schien ihrem Kopfe zu schwer geworden zu sein; sie hatte ihn aufgelöst und über ihre Schultern fallen lassen. Der alte Mann betrachtete ihr wallendes Haar, wie es roth auf dem schwarzen Shawle lag, betrachtete ihre schlanke Hand mit den langen feinen Fingern, betrachtete die verführerische Grazie jeder ihrer Bewegungen, die sie ihm weiter und weiter entführten. »Die Nacht wird rasch vergehen«, dachte er, als sie ihm aus den Blicken entschwand; »ich werde von ihr träumen, bis der Morgen kommt.«

 

Sie verschloß die Treppenthür und horchte, nichts rührte sich; dann ging sie langsam den Corridor hinab bis zum Fenster. An den Fensterstock gelehnt, sah sie in die Nacht hinaus. Der Mond war eben hinter Wolken verborgen, nichts in der Finsterniß draußen zu erkennen als die zerstreuten Gaslichter in der Vorstadt. Sie wandte sich wieder vom Fenster ab und sah nach der Uhr. Es war zwanzig Minuten nach eins.

Zum letzten Male zwang sich ihr der Gedanke auf, der ihr gekommen war, als sie wußte, daß ihr Gatte im Hause war; zum letzten Male sagte ihr die innere Stimme: »Ueberlege, ob es keinen andern Weg gibt!«

Sie sann, bis der Minutenzeiger auf halb wies. »Nein!« sagte sie, noch immer an ihren Gatten denkend. »Nein, es gibt nur den Weg, es bis zu Ende zu vollbringen. Er wird ungethan lassen, um deswillen er hierher gekommen; er wird die Worte ungesprochen lassen, die zu sagen er erschienen ist, sobald er erfährt, daß seine Schritte einen öffentlichen Skandal hervorrufen und seine Worte mich dem Schafott überantworten werden!« Ein höheres Roth erglühte auf ihrem Gesicht und sie lächelte mit einer entsetzlichen Ironie, als sie jetzt nach der Thür des Zimmers blickte. »In einer halben Stunde«, sagte sie, »werde ich Deine Witwe sein!«

Sie schloß den Kasten des Apparats auf und nahm das rothe Flacon in die Hand. Nach einem Blicke auf die Uhr, um zu sehen, welche Zeit es sei, tröpfelte sie in den gläsernen Trichter die erste der sechs Portionen, wie sie die Papierstreifen für sie abgemessen hatten.

Als sie das Flacon wieder hinstellte, legte sie das Ohr an die Mündung des Trichters. Kein Laut ließ sich vernehmen, schweigend wie der Tod selbst vollbrachte der tödtliche Proceß sein Werk. Als sie sich empor richtete und aufsah, schien der Mond hell zum Fenster herein und das Aechzen des Windes war verstummt.

Ach die Zeit, die lange Zeit! Wäre es doch wenigstens mit dieser ersten Dosis abgethan gewesen!

Sie ging hinab in das Vorhaus, sie wanderte auf und nieder und horchte an der offenen Thür, die in die Küche hinabführte. Dann kam sie wieder heraus und stieg wieder hinunter. Die Zeit schien still zu stehen, das Warten war zum Wahnsinnig werden.

Die Zwischenzeit verstrich. Als sie das Flacon zum zweiten Male nahm und die zweite Dosis in den Trichter goß, jagten die Wolken über den Mond und verdunkelten das Nachtbild draußen vor dem Fenster.

Die Unruhe, die sie treppauf und treppab und hin und her in der Halle getrieben hatte, wich so plötzlich von ihr, wie sie erschienen war. Am Fensterstocke lehnend und, ohne sich irgend eines Gedankens bewußt zu werden, in die schwarze Nacht hinaus starrend, wartete sie die zweite Zwischenpause ab. Aus einer entfernten Gegend der Vorstadt trug der Wind das langgezogene Geheul eines ins Ohr. Mit dumpfer Aufmerksamkeit folgte sie dem Tone, bis er allmälig erstarb, und lauschte mit noch dumpferer Erwartung, bis er sich wieder erhob. Wie Blei lagen ihre Arme auf dem Fensterstock, ohne die Kälte zu empfinden, drückte sie ihre Stirn an die Scheiben. Erst als der Mond wieder hell aus dem Gewölke hervortrat, kam ihr das Bewußtsein der Situation wieder. Schnell drehte sie sich um und sah nach der Uhr. Sieben Minuten waren seit dem Auströpfeln der zweiten Dosis verflossen.

Als sie die Flasche ergriff und den Trichter zum dritten Male füllte, ward sie sich des Moments wieder voll bewußt. Fieberhitze entzündete ihr Blut und stieg ihr glühend in die Wangen. Schnell und leise, die Arme unter dem Shawl gekreuzt und mit dem Auge Sekunde um Sekunde die Uhr verfolgend, schritt sie den Corridor auf und nieder.

Drei von den nächsten fünf Minuten waren vorüber und wieder brachte fie das Warten fast von Sinnen. Der Corridor wurde der unüberwindlichen Unruhe ihrer Glieder zu eng. Sie ging abermals in die Halle hinab und rannte darin im Kreise umher wie ein wildes Thier im Käfig. Beim dritten Umgang fühlte sie, daß etwas leise ihr Kleid berührte. Die Hauskatze war durch die offene Küchenthür hereingekommem eine große, dreifarbige, gesellige Katze, die behaglich schnurrte, und folgte ihr als Begleiterin. Sie nahm das Thier auf den Arm, das seinen weichen Kopf an ihrem Kinne rieb, als sie sich zu ihm niederbog. »Armadale haßt die Katzen«, flüsterte sie dem Thiere ins Ohr; »komm und sieh ihn sterben!« Im nächsten Augenblick erschrak sie vor ihrer eigenen fürchterlichen Phantasie. Zusammenschaudernd ließ sie die Katze fallen und jagte sie mit drohender Hand hinaus. Eine Minute blieb sie stehen, dann stürmte sie Hals über Kopf die Treppe hinauf. Der Gedanke an ihren Mann hatte sich ihr wieder gewaltsam aufgedrängt, er drohte ihr mit einer Gefahr, die ihr zuvor noch gar nicht in den Sinn gekommen war. Wie, wenn er nicht schliefe? Wie, wenn er plötzlich herauskäme und sie mit dem Flacon in der Hand fände?

Sie schlich an die Thür von Nummer drei und horchte. Das langsame regelmäßige Athmen eines Schlafenden ließ sich vernehmen. Erleichtert und beruhigt wartete sie einen Augenblick, that einen Schritt auf Nummer vier zu und blieb dann wieder stehen. An dieser Thür brauchte sie nicht zu horchen. So gewiß wie der Tod nachher, kam in der vergifteten Luft zuerst der Schlaf, hatte ihr der Doctor gesagt. Sie warf einen Seitenblick auf die Uhr; es war Zeit zur vierten Dosis.

Ihre Hände zitterten heftig, als sie den Trichter zum vierten Male füllte. Die Angst vor ihrem Manne machte ihr wieder das Herz klopfen. Wie, wenn ihn ein Geräusch aufstörte, ehe die sechste Dosis ausgegossen war? Wie, wenn er, wie sie es so oft an ihm gesehen hatte, plötzlich auch ohne Geräusch erwachte?

Ihre Augen irrten im Corridor umher. Das Zimmer, wo sich Bashwood versteckt gehalten hatte, bot sich ihr jetzt selbst als Schlupfwinkel. »Ich könnte da hineingehen!« dachte sie. »Hat er den Schlüssel stecken lassen?« Sie machte die Thür auf und sah das auf den Boden geworfene Taschentuch. War es Bashwood’s Tuch, das er zufällig hatte liegen lassen? Sie musterte die Zipfel; im zweiten fand sie den Namen ihres Gatten!

Im ersten Momente wollte sie die Treppe hinauf, um Bashwood zu wecken und auf Erklärung zu dringen. Im nächsten Augenblicke dachte sie an das rothe Flacon und an die Gefahr, den Corridor zu verlassen. Sie wandte sich um und sah nach Nummer drei. Nach dem Taschentuche zu schließen, war ihr Mann ohne allen Zweifel außerhalb des Zimmers gewesen und Bashwood hatte ihr nichts davon gesagt. War er jetzt in seinem Zimmer? Im Sturme ihrer Aufregung vergaß sie, als ihr diese Frage durch den Kopf schwirrte, die Entdeckung, die sie selbst kaum vor einer Minute gemacht hatte. Von neuem horchte sie an der Thür, von neuem hörte sie das regelmäßige Athmen des Schlafenden. Das erste Mal hatte das Zeugniß ihrer Ohren hingereicht, sie zu besänftigen; diesmal, bei ihrem zehnfach gesteigerten Argwohn und ihrem Schrecken, wollte sie auch das Zeugniß ihrer Augen haben.

»Alle Thüren in diesem Hause lassen sich geräuschlos öffnen«, sagte sie zu sich selbst; »ich brauche nicht zu besorgen, daß er aufwacht.« Leise und ganz allmälig machte sie die unverschlossene Thür auf und sah hinein, sobald diese weit genug aufstand. In dem wenigen Lichte, das ins Zimmer fiel, nur der Kopf des Schläfers auf dem Kissen sichtbar. Hob sich dieser ganz so dunkel vom weißen Pfühle ab wie der Kopf ihres Gatten, wenn er im Bett lag? Ging der Athem so leise wie der ihres Mannes, wenn er schlief?