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Armadale

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Sechstes Kapitel

Die Droschke hielt am Thore, als Mrs. Gwilt sich dem Sanatorium näherte. Bashwood stieg aus und ging ihr entgegen. Sie nahm seinen Arm und führte ihn, damit sie der Kutscher nicht hören konnte, ein paar Schritte abseits.

»Denken Sie von mir, was Sie wollen«, sagte sie, ihren dichten schwarzen Schleier über das Gesicht herabziehend, »aber sprechen Sie heute Abend nicht mit mir. Fahren Sie nach Ihrem Hotel zurück, als wäre nichts passiert. Warten Sie morgen wie gewöhnlich auf den Zug und kommen Sie nachher zu mir ins Sanatorium. Gehen Sie, ohne weiter ein Wort zu sagen, und ich werde glauben, daß es einen Menschen auf der Erde gibt, der mich wirklich liebt. Bleiben Sie und fragen Sie mich, so sage ich Ihnen auf immer Lebewohl!«

Sie zeigte auf das Cab. Eine Minute später war es abgefahren und führte Bashwood nach seinem Gasthofe zurück.

Langsam wandelte sie durch das eiserne Gitterthor dem Hause zu. Ein Schauder durch rieselte sie, als sie die Klinge! zog. Sie lachte bitter. »Wieder schaudern!« sagte sie zu sich selbst. »Wer hätte gedacht, daß noch so viel Empfindung in mir geblieben wäre?«

Einmal in seinem Leben sprach das Gesicht des Doctors die Wahrheit, als sich zwischen zehn und elf Uhr abends die Thür seines Studierzimmers öffnete und Miß Gwilt eintrat.

»Gott erbarme sich!« rief er aus und sah sie mit dem höchsten Erstaunen an; »was hat dies zu bedeuten?«

»Es hat zu bedeuten«, antwortete sie, »daß ich mich anstatt morgen früh schon heute Abend entschlossen habe. Sie, der Sie die Frauen so gut kennen, sollten doch wissen, daß sie immer ihren Impulsen folgen; ich bin hier, weil mir’s eben in den Sinn kam. Nehmen Sie oder verlassen Sie mich nun, ganz wie es Ihnen beliebt.«

»Sie nehmen oder verlassen?« wiederholte der «Doctor, seine Geistesgegenwart wiedererlangend. »Meine verehrte Dame, wie furchtbar, dies so auszusprechen! Auf der Stelle soll Ihr Zimmer bereit sein! Wo ist Ihr Gepäck? Soll ich danach schicken? Nein? Sie können sich diese Nacht ohne Ihre Sachen behelfen? Welche bewundernswerthe Bravour! Sie wollen es morgen selbst holen? Was für eine außerordentliche Selbstständigkeit! Setzen Sie Ihren Hut ab und kommen Sie ans Feuer! Was kann ich Ihnen vorsetzen?«

»Setzen Sie mir den stärksten Schlaftrunk vor, den Sie noch je in Ihrem Leben bereitet haben«, entgegnete sie, »und lassen Sie mich allein, bis die Zeit kommt, wo ich ihn nehmen muß. Ich werde in vollem Ernste Ihre Kranke sein«, setzte sie heftig hinzu, als der Doctor ihr erwidern wollte. »Wenn Sie mich heute Abend reizen, so werde ich die Tollste von allen Ihren Tollen sein.«

Augenblicklich wurde der Chef des Sanatoriums berufsmäßig ernst und kurz.

»Setzen Sie sich dort in die dunkle Ecke«, sagte er; »keine Seele soll Sie stören. In einer halben Stunde wird Ihr Zimmer bereit sein und Ihr Schlaftrunk auf dem Tische stehen. « – Es ist für sie ein härterer Kampf gewesen, als ich geahnt habe!« dachte er, als er aus dem Zimmer ging und über den Vorsaal nach der gegenüberliegenden Hausapotheke schritt. »Gott im Himmel, was hat sie noch mit dem Gewissen zu thun nach einem Leben, wie das ihre gewesen ist!«

Die Apotheke war mit all den neuesten Erfindungen und Verbesserungen von medicinischen Apparaten und Geräthen ausgestattet, eine der Wände indeß war frei von Regalen und hier füllte den leeren Raum ein hübscher alter Schrein von geschnitztem Holze aus, der äußerlich mit dem sonst nur utilitarisch einfach aussehenden Lokale sehr contrastirte. Zu beiden Seiten des Schrankes waren zwei Sprachrohre in die Wand eingelassen, die mit den oberen Räumlichkeiten des Hauses communicirten und mit »Hauslaborant« und »Erste Krankenwärterin« bezeichnet waren. In das zweite dieser Rohre sprach der Doctor hinein, sowie er ins Zimmer getreten war. Eine ältliche Frau erschien, nahm den Befehl zur Instandsetzung von Mrs. Armadale’s Schlafzimmer entgegen und zog sich wieder zurück.

Jetzt schloß der Doctor die mittlere Abtheilung des Schrankes auf, welche eine Reihe von Flaschen enthielt, in denen die in der Medicin gebräuchlichen verschiedenen Gifte aufbewahrt wurden. Nachdem er die für den Schlaftrunk erforderliche Opiumtinctur herausgenommen und auf den Tisch gestellt hatte, ging er noch einmal an den Schrank, sah sich eine Weile darin um, schüttelte zweifelnd den Kopf und trat dann vor die offenen Regale auf der andern Seite. Hier hob er nach einiger weiteren Ueberlegung eine der großen Flaschen herunter, die mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war, stellte dann die Flasche ebenfalls auf den Tisch und öffnete hierauf ein anderes Fach des Schrankes, in dem sich allerhand böhmische Krystallflaschen befanden. Von ihnen wählte er ein mit Glasstöpsel versehenes hohes und enges rubinrothes Flacon aus. Dies füllte er mit der gelben Flüssigkeit, sodaß in der großen Flasche nur noch ein kleiner Rest blieb, der eben den Boden bedeckte, und schloß es dann wieder in das Fach ein, aus welchem er es herausgenommen hatte. Auch die Flasche selbst stellte er wieder an ihren Platz, nicht ohne jedoch zuvor aus einem daneben stehenden Becken Wasser hineingegossen zu haben, in welches er kleine Quantitäten chemischer Flüssigkeiten tröpfelte, sodaß dem Anschein nach der Inhalt der Flasche noch ganz derselbe war wie zuvor, ehe er diese zum größeren Theil entleert hatte. Endlich waren alle diese Operationen geschehen und der Doktor lachte leise, während er an das zweite Sprachrohr trat, um den Hausapotheker zu citiren.

Mit der gehörigen weißen Schürze angethan erschien dieser. Der Doctor schrieb gravitätisch das Recept zu einem Schlaftrunke und händigte es seinem Assistenten ein.

»Wird unverzüglich gebraucht, Benjamin«, sagte er in sanftem und melancholischcm Tone. »Für eine kranke Dame, Mrs. Armadale, Zimmer 21 im zweiten Stock. Ach Bester, Bester«, seufzte er, »ein schlimmer Fall, Benjamin, ein schlimmer Fall!« Er schlug das funkelnagelneue Journal des Etablissements auf und trug den Fall in voller Länge nebst einer kurzen Angabe des Recepts ein. »Sind Sie fertig mit dem Laudanum? Stellen Sie es wieder hinein und schließen Sie den Schrank zu. Den Schlüssel geben Sie mir. Auf den Trank schreiben Sie: »,Vor Bettgehen zu nehmen«, und bringen Sie ihn der ersten Wärterin, Benjamin, der ersten Wärterin, hören Sie?«

Während des Doctors Lippen feierlich diese Instructionen ertheilten, waren seine Hände damit beschäftigt, unter dem Pulte, auf welchem das Journal lag, einen Kasten hervorzuziehen. Hieraus nahm er mehrere buntgedruckte Eintrittskarten »zur Besichtigung des Sanatoriums in den Stunden von zwei bis vier Uhr nachmittags« und füllte darauf das Datum des nächsten Tages »10. December« aus. Als er ein Dutzend solcher Karten in ein Dutzend lithografierter Einladungsschreiben gewickelt und in ein Dutzend Couverts gesteckt hatte, adressierte er die Briefe an ein dutzend Familien der Nachbarschaft, von denen er ein Verzeichniß besaß. Anstatt sich wieder eines der Sprachrohre zu bedienen, schellte er diesmal, um den Diener zu berufen, dem er die Billets zur Besorgung für nächsten Morgen übergab. »So wird’s gehen, denke ich«, sagte der Doctor, nachdem der Bediente sich entfernt hatte; »es wird gehen, denke ich.« Während er noch in seine Betrachtungen versunken war, erschien die erste Wärterin wieder, um zu melden, daß das Schlafzimmer der Dame bereit sei, und darauf begab sich der Doctor wieder in sein Studierzimmer, um Miß Gwilt diese Mittheilung in aller Form zu machen.

Noch immer saß diese auf ihrem alten Platze. Ohne ein Wort zu sagen oder nur ihren Schleier aufzuschlagen, erhob sie sich jetzt aus ihrer dunkeln Ecke und glitt wie ein Geist aus dem Zimmer.

Kurze Zeit darauf kam die erste Wärterin wieder die Treppe herab.

»Die Dame hat mir befohlen«, sagte sie leise, »sie morgen früh um sieben Uhr zu wecken. Sie will ihre Sachen selbst holen und, sobald sie angekleidet ist, eine Droschke haben. Was soll ich thun?«

»Thun Sie, was Ihnen die Dame sagt««, entgegnete der Doctor. »Man kann« sich ruhig darauf verlassen, daß sie sich im Sanatorium wieder einstellt.«

Die Frühstücksstunde der Anstalt war halb neun Uhr. Bis dahin hatte Miß Gwilt in ihrer vormaligen Wohnung Alles in Ordnung gebracht und war mit ihren Habseligkeiten zurückgekehrt. Der Doctor war ganz erstaunt über die Pünklichkeit seiner Patientin.

»Warum strapazieren Sie sich so?« fragte er, als sie sich am Frühstückstische trafen. »Warum sind Sie in solcher Eile, meine liebe Dame, wo Sie doch den ganzen Morgen vor sich hatten?«

»Nichts als Ruhelosigkeit«, gab sie zur Antwort. »Je länger ich lebe, desto ungeduldiger werde ich.«

Der Doctor, der bemerkt hatte, daß ihr Gesicht, ehe sie sprach, merkwürdig bleich und alt aussah, gewahrte, daß auch, als sie ihm antwortete, der sonst in nicht gewöhnlichem Grade bewegliche Ausdruck ihrer Züge von der Anstrengung des Sprechens ganz unberührt blieb. Nichts von dem gewöhnlichen Mienenspiel um ihre Lippen, nichts von dem gewöhnlichen Leben in ihren Augen; noch nie hatte er sie so undurchdringlich, kalt und gesehen gesehen wie jetzt. »Endlich ist sie mit sich im Reinen«, dachte er. »Was ich ihr gestern Abend nicht sagen konnte, heute Morgen kann ich es ihr sagen.«

Ein bedeutungsvoller Blick, auf ihre Wittwentoilette leitete die bevorstehenden Bemerkungen ein. »Jetzt, wo Sie Ihre« Sachen haben«, begann er würdevoll, »hielt ich es, wenn Sie erlauben, für passender, Sie legten die Haube da ab und zögen ein anderes Kleid an.«

»Warum?«

»Entsinnen Sie sich noch dessen«, fragte der Doctor, »was Sie mir vor ein paar Tagen gesagt haben? Sie sagten, es wäre ja möglich, daß Mr. Armadale in meinem Sanatorium stürbe.«

»Wenn Sie wollen, sag’ ich’s noch einmal.«

»Etwas Unwahrscheinlicheres«, fuhr der Doctor fort, wie immer taub gegen alle ihm nicht gelegenen Unterbrechungen, »läßt sich schwerlich vorstellen! Indeß solange es möglich ist, muß man es doch im Auge behalten. Sagen wir also, er stirbt, stirbt plötzlich und unerwartet, sodaß eine Todtenschau hier im Hause nothwendig wird. Was haben wir in einem solchen Falle zu thun? Wir müssen die Rollen fort spielen, die wir übernommen haben, Sie als seine Wittwe und ich als der Zeuge Ihrer Trauung, und in diesen Rollen müssen wir uns dem gründlichsten Verhör unterwerfen. Sollte das ganz und gar Unwahrscheinliche geschehen. daß er stirb, gerade wo wir seinen Tod wünschen und brauchen, so ist meine Idee, ja ich kann sagen, mein Entschluß, einzuräumen, daß wir von seiner Errettung aus dem Meere gewußt, und zu bekennen, daß wir Mr. Bashwood angewiesen haben, ihn durch falsche Nachrichten hinsichtlich Miß Milroy’s in die Anstalt hier zu locken. Wenn dann die unvermeidliche Frage nach dem Warum erfolgt, so meine ich, wir behaupten: er habe schon bald nach Ihrer Verheirathung Symptome von Geistesstörung gezeigt; sein Wahn bestehe darin, daß er diese seine Verheirathung mit Ihnen in Abrede stelle und erkläre, er sei mit Miß Milroy verlobt; Sie seien deshalb so erschrocken, als Sie von seinem Entkommen und seiner Rückkehr nach England gehört, daß Sie sich in einem Zustande von Nervenaufregung befanden, welcher meine Behandlung erfordere; auf Ihr Ersuchen und um Sie zu beruhigen, hätte ich ihn als Arzt besucht und ihn still ins Haus gebracht, dadurch daß ich, was in solchem Falle vollkommen zu rechtfertigen, auf seine fixe Idee eingegangen, und ich könne endlich bescheinigen, daß er von einem jener geheimnißvollen Geistesleiden befallen wäre, die, durchaus unheilbar und höchst verhängnißvoll, für die Medicin noch unergründliche Räthsel seien. Das wäre, bei dem nur sehr entfernt möglichen Ereignisse, das wir vorausgesetzt haben, in Ihrem und meinem Interesse unzweifelhaft das einzig richtige Verfahren und eine Toilette, wie Sie sie jetzt tragen, unter den obwaltenden Umständen, ganz und gar nicht am Platze.«

 

»Soll ich ie sofort ablegen?« fragte sie und stand, ohne auf das ihr so eben Mitgetheilte die mindeste Antwort zu geben, vom Frühstückstische auf.

»Jedenfalls nur heute vor zwei Uhr nachmittags.«

Sie sah ihn mit matten Blicken an, aus denen etwas wie Neugier sprach, und fragte nur: »Warum vor zwei Uhr?«

»Weil heute einer meiner Besuchstage ist, und die Besuchszeit ist von zwei bis vier Uhr.«

»Was gehen mich ihre Besucher an?«

»Einfach dies. Ich dachte es für wichtig, daß vollkommen respectable und vollkommen unparteiische Zeugen Sie in der Rolle einer Kranken in meiner Anstalt sehen.«

»Ihr Beweggrund scheint mir weit hergeholt. Haben Sie dabei weiter kein Motiv?«

»Meine liebe, liebe Dame«, remonstrirte der Dator, »habe ich denn vor Ihnen Geheimnisse? Sie sollten mich doch wohl besser kennen.«

»Ja«, sagte sie mit dem Tone der Verachtung. »Es ist sehr bornirt von mir, daß ich Sie diesmal nicht verstehe. Lassen Sie mir’s hinauf sagen, wenn Sie mich brauchen.« Damit ging sie auf ihr Zimmer.

Zwei Uhr hatte es geschlagen, und eine Viertelstunde darauf fanden sich die Besucher ein. So kurz vorher auch die Einladung gekommen war, so trostlos auch das Sanatorium von außen sich darstellte, so waren trotzdem die weiblichen Mitglieder der Familien, an welche der Doctor seine Aufforderung gerichtet, zahlreich der Aufforderung gefolgt. In dem jämmerlich einförmigen Leben, das ein großer Theil der Mittelklassen in England führt, ist den Frauen Alles und Jedes willkommen, was ihnen eine harmlose Zuflucht gegen die bestehende Tyrannei des Grundsatzes gewährt, daß alle menschliche Glückseligkeit zu Hause anfange und ende. Während die gebieterischen Anforderungen eines Handelsstaates die Vertreter des stärkeren Geschlechts unter den Besuchern des Doctors auf einen hinfälligen alten Mann und auf einen schläfrigen Knaben beschränkte, hatten nicht weniger als sechzehn Weiber, alte und junge, ledige und verheirathete – die guten Seelen! – die goldene Gelegenheit ergriffen, einmal aus dem Hause herauszukommen. Einträchtig verbunden in dem Wunsche, der sie samt und sonders erfüllte, erstens sich gegenseitig und sodann das Sanatorium in Augenschein zu nehmen, strömten sie, eine schön geputzte Procession, sich den leisen Anschein gebend, als sei jede undamenhafte Erregung tief unter ihrer Würde, höchst charakteristisch und höchst bedauerlich anzusehen, durch das Eisenthor des Doctors herein.

In der Halle empfing der Besitzer, Miß Gwilt am Arme, seine Besucher. Als wenn solch ein Wesen gar nicht existirt hätte, sahen die neugierigen Augen sämtlicher Weiber der Gesellschaft über den Doctor hinweg und verschlangen die merkwürdige Dame vom Kopf bis zu den Füßen mit ihren gierigen Blicken.

»Meine erste Kranke«, sagte der Doctor und stellte Miß Gwilt vor. »Die Dame hier ist erst gestern Abend angekommen und benutzt die Gelegenheit – den ganzen Vormittag habe ich dazu leider keine Zeit gehabt – sich das Sanatorium mit anzusehen. Erlauben Sie mir, Madame«, sprach er weiter, Miß Gwilt loslassend und der ältesten Dame unter den Anwesenden den Arm bietend. »Nervenerschütterung infolge häuslichen Kummers«, flüsterte er vertraulich. »Eine liebe Frau! Trauriger Fall!« Er seufzte leise und führte die alte Dame durch die Halle.

Die Heerde der Besucher folgte. Miß Gwilt begleitete sie schweigend und ging unter ihnen, doch nicht als zu ihnen gehörend, allein als die letzte von allen.

»Wie Sie bemerkt haben werden, meine Damen und Herren«, redete der Doctor an der Treppe, sich rundherum verneigend, sein Publikum an, »sind die Gartenanlagen noch zum Theil unvollendet. Da wir die Haide von Hampstead so nahe haben und Fahren und Reiten zu meinem Systeme gehören, lege ich auf den Garten keinen so großen Werth. Ebenso brauche ich Ihre Aufmerksamkeit für das Erdgeschoß meines Etablissements, in dem wir uns jetzt befinden, nur wenig in Anspruch zu nehmen. Der Wartesaal und das Arbeitszimmer auf dieser Seite hier und die kleine Apotheke, für die ich mir alsbald Ihr Interesse erbitte, sind fertig, das große Gesellschaftszimmer ist indeß noch in der Ausschmückung begriffen. In demselben, natürlich erst wenn die Wände trocken sind, keinen Augenblick früher, werden sich meine Kranken zu heiterer Geselligkeit versammeln. Nichts wird außerdem gespart werden, was, wie diese kleinen Gesellschaften, das Leben verbessern, erheben, schmücken kann. Jeden Abend zum Beispiel soll für die, welche sie lieben, Musik stattfinden.«

Bei dieser Stelle der Ansprache des Doktors machte sich eine kleine Bewegung unter den Besuchern bemerklich. Eine Familienmutter unterbrach ihn. Sie wollte wissen, ob jeden Abend, auch des Sonntags, Musik statthaben sollte, und wenn dies Letztere der Fall, welche Musik dann aufgeführt würde.

»Geistliche Musik, selbstverständlich, Madame«, sagte der Doctor. »Am Sonntagsabend Händel, gewöhnlich auch wohl minder heitere Piecen von Haydn. Doch ich wollte bemerken, daß Musik nicht die einzige Unterhaltung ist, welche ich meinen Nervenkranken biete. Für die, welche lieber lesen, ist für erheiternde Lectüre gesorgt.«

Wieder ließ sich eine Bewegung unter den Anwesenden verspüren. Eine zweite Familienmutter bat um Auskunft, ob erheiternde Lectüre so viel bedeuten solle wie Romane.

»Blos solche Romane, die ich selbst ausgewählt und gelesen habe«, antwortete der Doctor. »Nichts Trauriges, Madame! Gewiß gibt es im wirklichen Leben des Traurigen die Hülle und Fülle, allein gerade deshalb wollen wir ihm nicht auch in Büchern begegnen. Der englische Novellist, der Zugang finden will zu meinem Hause – kein ausländischer Romanschreiber wird zugelassen – muß seine Kunst so verstehen, wie sie in unsern Tagen der geistesgesunde Leser versteht. Er muß wissen, daß unser heutiger reinerer Geschmack, unsere heutige höhere Moralität ihn auf zweierlei beschränkt, wenn er für uns ein Buch schreibt. Alles, was wir von ihm fordern, ist, daß er uns dann und wann lachen macht und immer in behagliche Stimmung versetzt.«

Hier zeigte sich eine dritte Bewegung unter den Besuchern, diesmal jedoch einzig und allein infolge des allgemeinen Beifalls, welchen die so eben vernommenen Ansichten fanden. In weiser Vorsicht störte der Doctor den guten Eindruck nicht, den er hervorgebracht hatte, sondern ließ das Thema vom Gesellschaftssaale fallen und führte die Anwesenden die Treppe hinauf. Wie vorhin schritt Miß Gwilt als die letzte von allen schweigend hinterdrein. Eine nach der andern sahen sie die Dame an und wollten mit ihr sprechen, etwas ihnen völlig Unerklärliches aber, was sie auf ihrem Gesichte lasen, hemmte die wohlgemeinten Worte, die sich ihnen auf die Lippen drängen wollten. Der Eindruck überwog, daß der Chef des Sanatoriums ihnen zartfühlend die Wahrheit Verborgen halte – daß seine erste Patientin wahnsinnig sei.

Mit den passenden Erholungspausen für die alte Dame an seinem Arme, der das Athmen Beschwerde machte, geleitete er die Versammlung direct nach dem obersten Stock des Hauses. Auf dem Corridor machte er inmitten seiner Besucher Halt, wies mit der Hand auf die bezifferten Thüren zu beiden Seiten und forderte das Publikum auf, ganz nach Lust und Belieben eins oder sämtliche der Gemächer in Augenschein zu nehmen.

»Nummer eins bis drei, meine Damen und Herren«, begann der Doctor, »bezeichnen die Schlafzimmer des Wärterpersonals Nummer vier bis acht sind die Zimmer für Patienten aus den ärmern Klassen, die ich zu Bedingungen aufnehme, welche lediglich meine Kosten decken, nichts weiter. Für solche ärmere Personen unter meinen leidenden Mitmenschen sind persönliche Frömmigkeit und die Empfehlung zweier Geistlichen zur Aufnahme unerläßlich. Das die einzigen Bedingungen, die ich stelle, aber auf ihnen bestehe ich. Bitte, beobachten Sie, daß alle Zimmer ventiliert und sämtliche Bettstellen von Eisen sind, und bemerken Sie gütigst, während wir wieder in das untere Stock hinabsteigen, daß die Thür dort im Nothfall jede Verbindung zwischen der dritten und der zweiten Etage abschließt. Die Zimmer dieser letzteren sind, mit Ausnahme meiner eigenen, ganz für die Aufnahme von weiblichen Kranken bestimmt. Die Erfahrung hat mich gelehrt, daß die größere Empfindlichkeit oder Empfindungsfähigkeit der weiblichen Constitution im Hinblick auf die größere Reinheit und freiere Circulation der Luft die höhere Lage des Schlafzimmers erheischt. Hier befinden sich die Damen unmittelbar unter meiner Behandlung, während mein Assistenzarzt, dessen Ankunft ich in acht Tagen erwarte, für die Herren im unteren Stocke sorgt. Bemerken Sie wieder beim Hinabsteigen in diese untere oder erste Etage eine Thür, welche außer mir und dem Hilfsarzte Jedermann einen Verkehr zwischen diesen beiden Stockwerken des Nachts unmöglich macht. Und nun, wo wir die Herrenstation der Anstalt erreicht und Sie ihre Einrichtung kennen gelernt haben, gestatten Sie mir, Sie in mein System selbst einzuweihen. Ich kann Ihnen gleich ein praktisches Beispiel davon geben, indem ich Ihnen ein unter meiner speciellen Leitung ausgestattetes Zimmer zeige, das ich für die Behandlung der complicirtesten Nervenleiden und Nervenzerrüttungen bestimmt habe, die etwa meiner Obhut anvertraut werden.«

Er öffnete die Thür eines am Ende des Corridors gelegenen, mit Nummer Vier bezifferten Zimmers. »Sehen Sie hinein, meine Damen und Herren«, sagte er, »und wenn Sie etwas bemerken, was Ihnen auffälIt, so erwähnen Sie es gefälligst.«

Der Raum war nicht sehr groß, ein breites Fenster aber machte ihn sehr hell. Comfortable möbliert als Schlafzimmer, unterschied er sich sonst von andern Zimmern ähnlicher Art blos in einem Punkte: er hatte keinen Kamin. Auf ihre betreffende Frage wurden die Besucher bedeutet, daß das Zimmer im Winter mittels heißen Wassers geheizt werde, und dann gebeten, wieder auf den Corridor hinauszutreten, um sich unter sachverständiger Belehrung mit der besonderen Einrichtung des Raums bekannt zu machen, die ihnen allein entgehen dürfte.

»Zuvörderst, meine Damen und Herren«, sagte der Doctor, »ein Wort, buchstäblich nur ein Wort über Nervenstörung im Allgemeinen. Wie pflegt die Behandlung vor sich zu gehen, wenn, setzen wir den Fall, Seelenleiden Ihre körperliche Gesundheit untergraben hat und Sie sich an Ihren Arzt wenden? Er sieht Sie, hört Sie und verschreibt Ihnen zweierlei, ein Recept auf dem Papiere, das in der Apotheke bereitet wird, und ein anderes mündlich, in dem glücklichen Momente, wo Sie ihm sein Honorar bezahlen; dies letztere besteht in der allgemeinen Empfehlung, sich nicht aufzuregen. Mit diesem vortrefflichen Rathe verläßt Sie der Doctor und ersucht Sie, sich nur aller weiteren Sorge wegen Ihres Leidens zu entschlagen, bis er wiederkommt. Da tritt jetzt mein System ein und hilft Ihnen. Wenn ich sehe, es ist nothwendig, daß Sie sich geistig ruhig verhalten, so packe ich den Stier bei den Hörnern und verrichte das Erforderliche für Sie. Ich versetze Sie in eine Sphäre der Thätigkeit, wo die zehntausend Kleinigkeiten, welche nervöse Leute zu Hause irritieren, ausdrücklich berücksichtigt und aus dem Wege geräumt sind; undurchdringliche moralische Bollwerke sind aufgerichtet zwischen dem Aerger und Ihnen. Finden Sie mir hier in diesem Hause eine Thür, die knarrt, wenn Sie kommen! Finden Sie mir einen dienstbaren Geist in diesem Hause, der mit dem Theegeschirr klappert, wenn er es abräumt! Entdecken Sie mir kläffende Hunde, krähende Hähne, hämmernde Arbeiter, schreiende Kinder hier, und ich mache mich verbindlich, morgenden Tags mein Sanatorium zu schließen! Sind solche Störungen nervösen Personen etwa angenehme Unterhaltungen? Fragen Sie einmal bei ihnen nach! Können Sie dergleichen Störungen zu Hause entgehen? Fragen Sie einmal! Wird nicht ein zehn Minuten langes Hundegebell oder Kindergeheul Alles wieder in Frage stellen, was eine monatelange ärztliche Behandlung dem Nervenleidenden etwa genützt hat? Kein competenter Arzt in England wird dies zu leugnen wagen! Aus diesen einfachen Grundsätzen basiert nun mein System. Meiner Ansicht nach ist die ärztliche Behandlung der Nervenleiden blos ein Unterstützungsmittel für die moralische. Diese moralische Behandlung aber finden Sie hier bei mir; diese moralische Behandlung, wie sie den ganzen Tag hindurch unablässig prakticirt wird, folgt dem Kranken in sein Schlafzimmer des Nachts und beschwichtigt, stärkt und heilt ihn, ohne daß er es selbst gewahr wird. Sie sollen sogleich erfahren wie.« Der Doctor pausierte, um zu verschnaufen, und sah sich zum ersten Male, seit seine Besucher bei ihm waren, nach Miß Gwilt um. Zum ersten Male mischte sie ihrerseits sich unter die Anwesenden und sah ihn wieder an. Nach einem kurzen Hüsteln fuhr der Doctor fort:

 

»Nehmen Sie an, meine Damen und Herren, mein Kranker sei so eben erst in die Anstalt gekommen. Sein Geist ist nichts als ein Chaos von nervösen Einbildungen und Capricen, die seine Angehörigen und Freunde beim besten Willen unbewußt genährt und gereizt haben. Sie haben sich zum Beispiel des Nachts vor ihm gefürchtet, haben ihn gezwungen, Jemand im selben Zimmer mit ihm schlafen zu lassen, oder ihm verboten, seine Thür zu verschließen, um im Nothfall zu ihm kommen zu können. Den ersten Abend nun sagt er zu mir: « «Hören Sie, ich will Niemand mit in meinem Zimmer haben!« – »Gewiß nicht!« – »Meine Thür muß ich verschließen dürfen!« – »Versteht sich von selbst!« Er geht hinein, verschließt seine Thür und ist besänftigt und beruhigt, weil man ihm seinen Willen gelassen, dem Vertrauen wie dem Schlafe zugänglich. »Alles gut und schön«, werden Sie sagen; »allein gesetzt, es passiert ihm etwas, er hat einen Krampfanfall oder dergleichen in der Nacht, was dann?« Sie werden es sehen. Halloh, mein junger Freund«, rief der Doctor, plötzlich den schläfrigen kleinen Knaben anredend, »wir wollen einmal mit einander spielen. Du sollst der arme kranke Mann sein und ich bin der gute Doctor. Geh da in das Zimmer hinein und mache die Thür zu. Schön, das ist ein braver Junge! Hast Du zugeschlossen? Sehr gut. Glaubst Du, daß ich zu Dir kommen kann, wenn ich will? Ich warte hübsch, bis Du eingeschlafen bist, dann drücke ich auf diesen kleinen weißen Knopf hier, der im Muster der Tapete verschwindet; geräuschlos schiebt sich drinnen der Riegel des Schlosses zurück und ich gehe ins Zimmer, so oft ich eben Lust habe. Ganz so geschieht es mit dem Fenster. Mein capriciöser Kranker will es des Nachts nicht öffnen, wenn es Vielleicht gut für ihn wäre. »Machen Sie es zu, lieber Herr, unter allen Umständen!» sage ich ihm freundlich, und sobald er schläft, ziehe ich an dem in der Ecke der Wand verborgenen Griff, und leise geht das Fenster auf, wie Sie sehen. Nehmen wir jetzt an, der Patient gefällt sich gerade im Gegentheil in der Caprice, das Fenster während der Nacht nicht schließen zu wollen. Lassen Sie ihn nur machen! Wenn er in seinem Bette liegt, ziehe ich an einem andern Griff, dem hier, und geräuschlos und im Nu fällt das Fenster zu. Nichts, was ihn reizt, meine Damen und Herren, absolut nichts, was ihn reizen kann! Doch ich bin noch nicht fertig mit ihm. Trotz aller meiner Vorsichtsmaßregeln kann es geschehen, daß einmal eine epidemische Krankheit ihren Weg in mein Sanatorium findet und die Luftreinigung des Krankenzimmers unerläßlich wird. Nun kann aber der Kranke außer seinem Nervenleiden noch mit andern Uebeln zu kämpfen haben, zum Beispiel mit asthmatischen Beschwerden; in dem einen Falle wird Räucherung im andern eine größere Zuführung von Sauerstoff ihm Erleichterung gewähren. Der typhöse Kranke sagt: »Ich will nicht im Rauche ersticken!«, der Asthmatiker verliert den Athem bei dem entsetzlichen Gedanken, daß eine chemische Explosion im Zimmer losgehen soll. Geräuschlos räuchere ich den erstern und ebenso geräuschlos oxygenisire ich den andern mittels eines einfachen Apparats, welcher außen in der Ecke hier angebracht ist. Ein hölzernes Futteral umhüllt ihn, zu welchem ich allein den Schlüssel habe, und durch eine Röhre communicirt er mit dem inneren Raum des Zimmers. Sehen Sie sich den Apparat an!«

Mit einem Blick auf Miß Gwilt schloß der Doctor den Deckel des hölzernen Kastens auf und enthüllte nichts Merkwürdigeres als einen großen Steinkrug, in dessen Korkstöpsel ein gläserner Trichter und ein mit der Wand communicirendes Rohr eingefügt waren. Mit einem abermaligen Blicke auf Miß Gwilt schloß der Doctor den Deckel wieder zu und fragte so sanft wie nur möglich, ob man jetzt sein System verstände.

»Ich könnte Sie noch«, nahm er wieder das Wort, als er seinen Besuch die Treppe hinabführte »mit verschiedenen andern Vorrichtungen der nämlichen Art bekannt machen, allein es wäre doch nur eine Wiederholung des bereits Gesehenen. Ein Nervenleidender, welchem man immer den Willen läßt, ist ein Nervenleidender, der sich niemals ärgert und aufregt, und ein Nervenleidender, welcher sich niemals ärgert und aufregt, ist geheilt. Da haben Sie meine Theorie in nuce! Kommen Sie, meine Damen, und sehen Sie sich die Apotheke an, erst die Apotheke und dann die Küche.«

Von neuem schlüpfte Miß Gwilt hinter die Besucher und wartete hier, das Zimmer, welches der Doctor geöffnet, und den Apparat, den er aufgeschlossen hatte. fest ins Auge fassend. Ohne daß ein Wort zwischen den Beiden gefallen wäre, hatte sie ihn abermals verstanden. So gut, als wenn er es ihr ausdrücklich eingestanden hätte, wußte sie, daß er ihr schlau die erforderliche Versuchung in den Weg führte, vor Zeugen, die, falls etwas Ernstliches passierte, den anscheinend so unschuldigen Vorgang bekunden konnten. Der Apparat, ursprünglich construirt, um den medicinischen Schrullen des Doctors zu dienen, konnte offenbar noch andere Zwecke erfüllen, von welchen sich dieser selbst bis jetzt wahrscheinlich nichts hatte träumen lassen. Und jedenfalls wurde ihr, noch ehe der Tag vorüber, dieser andere Gebrauch im rechten Momente vor dem rechten Zeugen offenbart. »Diesmal wird Armadale sterben«, sagte sie zu sich selbst, als sie langsam die Treppe hinabging. »Durch meine Hand wird ihn der Doctor umbringen.«

In der Apotheke gesellte sie sich wieder zu den Besuchern. Alle Damen bewunderten die Schönheit des alterthümlichen Schrankes, und in natürlicher Folge wollten alle sehen, was darin war. Nachdem er erst einen raschen Blick auf Miß Gwilt geworfen hatte, schüttelte der Doctor gutgelaunt den Kopf. »Es ist nichts darin«, sagte er, »was Sie interessieren kann, nichts als armselige kleine Flaschen mit den in der Medicin gebräuchlichen Giften, die ich unter Schloß und Riegel halte. Kommen Sie lieber in die Küche, meine Damen, und beehren Sie mich unten mit Ihrem Rathe über die Haushaltungsangelegenheiten.« Während die Gesellschaft durch das Vorhaus schritt, warf er abermals einen Blick auf Miß Gwilt, welcher deutlich sagte: »Warten Sie hier!«