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Der Mann im Mond

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DER TEE

Martiniz und der Hofrat traten ein. War es Emils hoher, kräftiger Tannenwuchs, war es die ungezwungene Grazie seiner würdigen Haltung, war es das Geistvolle seines sprechenden Auges, war es der wehmütige Ernst, der auf diesem schönen Gesichte lag und ihm einen so unendlichen Liebreiz gab, waren die Träume der Ballnacht wieder aufgestiegen, um süße Erinnerungen zu flüstern?—Ida stand versteinert, als sie den Grafen erblickte. Ach, sie hätte viel darum gegeben, in diesem Augenblicke nicht die Hausfrau machen zu dürfen! Sie hätte ganz von ferne ihn betrachten und selig sein wollen. Hofrat Berner stellte ihn mit einem vielsagenden Blicke seiner Ida vor; aber diese hätte sich in diesem wichtigen Moment selbst Schläge geben mögen; so links, meinte sie, so albern hatte sie sich noch nie benommen. Was mußte er nur von ihr denken? War sie doch gerade aus der Residenz gekommen, wo ihre Erziehung nach allen Regeln vollendet worden war, hatte sich in allen Zirkeln, in den feinsten Salons ohne Ängstlichkeit bewegt, und hier stand sie errötend, mit niedergeschlagenen Augen—und stammelte recht kleinstädtisch "von der Ehre, die Seine Exzellenz ihrem Hause erzeige".

Aber bei dem feinfühlenden Manne, der schon früher ihren Anstand, ihre Würde, ihre Erhabenheit über jedes Verlegenwerden bewundert hatte, erhöhte gerade diese süße Verlegenheit den Wert des Mädchens. Mit unendlicher Gewandtheit wußte er sie aus der peinlichen Verlegenheit dieser ersten Minuten herauszuführen; in wenigen Augenblicken war sie wieder das frohe, unbefangen scheinende Mädchen wie früher und konnte die Albernheit ihrer Cousine beobachten. Diese war, als die Flügeltüre aufging, dagestanden wie Frau von Loth bei Sodom, als sie in Steinsalz verwandelt wurde, starr, steif, atemlos, nur die beiden ungeheuern Fleischmassen ihres aufgepreßten Busens arbeiteten, von dem rasenden Schnellwalzer in Aufruhr gebracht, noch immer fort. Als ihr Martiniz vorgestellt wurde, war sie noch nicht zu Atem gekommen; sie ließ also nur einen Liebesblick auf ihn hinüberspazieren und verneigte sich hin und wieder. Als sie aber wieder Atem geschöpft hatte, fing sie in ihrer naivsten Manier an zu kichern und erzählte, daß sie für ihr Leben gern tanze und daß es ihr und dem kleinen Herzenscousinchen unwiderstehlich in die Füße gekommen sei. Sie plapperte fort und fort, aber leider schien ihr nur der Hofrat zuzuhören; denn Martiniz, der neben Ida Platz genommen hatte, war mit dieser schon in so tiefem Gespräch, daß er auf das Geschnatter der Dicken nicht hören konnte. Sich so vernachlässigt zu sehen, konnte das fünfundzwanzigjährige Kind nicht dulden; sie erhob also ihre Stimme noch lauter und wurde sogar witzig; aber der Graf, dachte sie, nein, einen so verschämten Anbeter hatte sie noch nicht gehabt, nicht einmal die Augen wagte er zu ihr aufzuschlagen; aber der Graf, denken wir, wie konnte sie auch nur verlangen, daß er zu ihr aufsehe? Hatte er denn jetzt nicht gerade alle Augen nötig, um die unnachahmliche Grazie zu sehen, mit welcher das Engelskind Ida ihren Tee machte? Wie appetitlich sah es aus, wenn sie in die Tassen warmes Wasser strömen ließ, um sie in dem Gümpchen zu reinigen; wie allerliebst drehte sie den Hahn in der Maschine auf und zu, wie verbindlich wußte sie die Tasse zu reichen; ach, er hätte sich auch die Butterbrötchen, den Zucker, den Arrak und alle andren Bedürfnisse viel lieber von ihr reichen lassen als von den fünf reich galonierten Dienern, die solches umherboten! Mit welchen Augen hing er an ihr, an allen ihren Bewegungen! Und Ida hätte nicht das pfiffige Mädchen sein müssen, wenn sie nicht in diesem sprechenden Auge das Gefühl bemerkt hätte, das für sie in seiner Brust lebte.

Die Gesellschaft war nach und nach größer geworden; der Präsident hatte einige seiner jungen Assessoren und Räte mitgebracht, einige junge Damen von Idas Bekanntschaft hatten sich eingefunden, und die Freilinger mußten sich alle, mit Ausnahme der Sorben, die sich schrecklich ennuyierte, gestehen, daß sie selten einen so geselligen, interessanten Abend verlebt hatten. Es kam dies wohl daher, daß der Präsident, der Hofrat und Idchen alles aufboten, um ihren neuen Gast zu erheitern; dadurch werde das Gespräch allgemein und anziehend. Es ist eine alte Erfahrung, daß der allgemein anerkannte Wert des Geliebten ihn in den Augen seines Mädchens noch unendlich reizender macht, ihm noch eine erhabenere Stellung in ihrem Herzen gibt; so ging es auch Ida. Der Umfang des Wissens, den Martiniz im Gespräch mit den Männern an den Tag legte, seine interessanten Mitteilungen von seinem Vaterlande, von den vielen Reisen, die er gemacht hatte, seine feine Gewandtheit, womit er auch die Damen in das Gespräch zog, die verbindliche Artigkeit, womit er jeder zuhörte und ihr Urteil weiter auszuführen und unbemerkt so zu drehen wußte, daß es wie etwas Bedeutendes klang, sein glänzender, lebhafter Witz, den ihm das immer rascher fortrollende Gespräch entriß—dies alles gewann ihm die Achtung der Männer, riß die Herzen der Damen zu dem glänzenden Fremden hin.

Und Ida—sie war ganz weg! Seine Reden hatten allen, seine Feuerblicke nur ihr gegolten; ihr Herzchen pochte stolz und froh; wo die Sorben und die andern Freilingerinnen seinen kühnen Ideen nicht mehr folgen konnten, da fing für sie erst die rechte Straße an, sie plauderte, wie ihr das Rosenschnäbelchen gewachsen war, lachte, scherzte in Witz und Schwank, daß dem Präsidenten vor Freuden das Herz aufging, wie gebildet, wie gesellschaftlich sein Kind geworden war. Er nahm sich in seinem Entzücken vor, gleich morgen ein Belobungsschreiben an Madame La Truiaire zu schreiben, die ihm eine so glänzende Weltdame mit ungetrübter Unschuld und Natürlichkeit erzogen habe. Die gute Madame La Truiaire aber hatte dieses Wunder nicht bewirkt; zwar galt Ida von Sanden in den ersten Häusern der Residenz für eine sehr feine und anständig erzogene junge Dame; doch war sie dort ernst, zurückhaltend, so daß, wer sie nicht näher kannte, über ihren Geist wenig oder gar nicht urteilen konnte; nein, eine andere Lehrmeisterin, die reine Seligkeit der ersten erwiderten Liebe, hatte sie so freudig, so selig gemacht, hatte alle Pforten ihres tiefen Herzens aufgeschlossen und den Reichtum ihres Geistes ans Licht gelockt.

Der Hofrat war ein feiner Menschenkenner; von Anfang, als das Gespräch noch nicht recht fortwollte, hatte er alles getan, um es ins rechte Geleis zu bringen. Nachher aber hatte er sich zurückgezogen und nur beobachtet. Da entging ihm denn nicht, daß der Graf, je länger er mit dem süßen Zauberkind sprach, je tiefer er ihm in das geistvolle Veilchenauge sah, je mehr sich vor ihm diese zarte Mädchenhaftigkeit, dieser reiche Geist, diese hohe Herzensgüte entfaltete, immer mächtiger zu ihr hingezogen wurde; wie gestern, als er ihm von des Mädchens gebildetem Geist, seinen stillen Tugenden erzählte, so verschwand auch jetzt nach und nach die Wehmut aus seinen Zügen; eine rosige Laune, die diesem Gesicht unendlichen Reiz gab, ging an ihm auf; er konnte, was der Hofrat bei diesem Unglücklichen nicht für möglich gehalten hätte, sogar recht herzlich lachen; er konnte—Nein, der alte Mann war selbst verliebt in ihn, er sah ja vor Seligkeit und Liebe aus wie ein verklärter Cherub.

Kam übrigens der Graf dem Hofrat wie ein Cherub vor, so sah in ihm die Sorben den leibhaftigen Satan. Hatte sie sich doch alle erdenkliche Mühe gegeben, ihm ihre Neigung zu ihm zu zeigen. Hatte sie nicht die kleinen Kalmuckenaugen aufgerissen, daß ihr das Wasser daran aufstieg, nur um ihm das Feuer zu zeigen, das für ihn strahle? Hatte sie nicht alle naiven Künste aufgeboten, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen? Aber jetzt sah sie klar: die kleine, unzeitige Kokette, ihre Cousine, hatte ihr den herrlichen Mann weggeschnappt. Sie warf allen Haß auf diese; hatte sie sich doch vorhin so kindisch gestellt, als könnte sie nicht fünfe zählen. Sie selbst—o, sie hätte sich können auf den Mund schlagen für die Dummheit—ja, sie selbst hatte offenbar das Mädchen, das eigentlich noch ein Backfisch war, dazu aufgereizt, den Grafen zu fangen. Wäre sie mit ihrer Anleitung zur Routine zurückgeblieben, das Kind hätte nie daran gedacht, ihr Auge zu dem schönen Fremden zu erheben. So dachte die Sorben.

Ihr pomeranzenfarbiger Teint rötete sich vor Zorn, sich so hintangesetzt zu sehen; hatte ja doch, wenn sie recht darüber nachdachte, der Graf sogar ihrer gespottet, als sie glaubte, etwas recht Witziges gesagt zu haben. Es war davon die Rede gewesen, daß jetzt alles Fräulein heiße, was man sonst wohl auch schlechthin Mamsell genannt habe. Man sprach her und hin darüber, und um Ida einen Stich zu geben, die zwar von väterlicher Seite von altem Adel war, aber eine Bürgerliche zur Mutter gehabt hatte, warf sie die witzige Bemerkung ein: Die Fräulein kommen ihr gerade vor wie die Spitzen. Es heiße alles Spitzen, und doch sei ein so großer Unterschied zwischen den echten und unechten, daß jedes Kind die Feinheit der echten von den gröberen unterscheiden könne. Sie hatte triumphierend über ihr Bonmot im Kreise umhergesehen; die Antwort des Grafen machte sie aber stutzen. "Sie haben recht, gnädiges Fräulein," hatte er gesagt, "und die echten unterscheiden sich, wenn ich nicht irre, hie und da auch durch ihre Farbe von den unechten; wenigstens habe ich mir sagen lassen, daß die ganz echten gelblichbraun aussehen." Hatte er auf ihre bräunliche Haut anspielen wollen? Die Herren, und namentlich der Hofrat, hatten so höhnisch dabei ausgesehen. Das Betragen des Grafen, der sie über Ida gänzlich zu ignorieren schien, bestätigte die Meinung. Sie kochte Rache in ihrer Brust und schwur sich mit den fürchterlichsten Eiden, daß der Backfisch seine Eroberungen nicht weiter fortsetzen solle. Sie war auch die erste, welche aufstand, und weil es schon ziemlich spät war, folgten die übrigen. Nein, es war ihr unerträglich! An der Türe noch mußte sie mit ansehen, wie der Graf, welcher sich auch verabschiedete, mit seinen Blicken Ida beinahe verzehren wollte. Sie mußte hören, wie er versprach, recht oft herüberzukommen. Verachtungsvoll wandte sie ihrer Cousine, die ihre Freundinnen zum Abschied küßte, den Rücken, stürmte die Treppe hinab und setzte sich, mit der ganzen Welt zerfallen, in ihren Wagen.

 

"Herrlicher Mensch, der Martiniz," sagte der Präsident, als die Gesellschaft auseinander gegangen war, zu Ida und dem Hofrat, die noch bei ihm saßen; "scharmanter Mensch! Wie gewandt, wie fein! Schade nur, daß er sich nicht aufs diplomatische Fach gelegt hat! Wie er alles so artig zu geben weiß; wie er allem, auch dem Trivialsten, was unsere Damen sagten, mit einer Engelsgeduld zuhörte und gutmütig ein glänzendes Mäntelchen umhing, wenn sie etwas Dummes plapperten. Er wäre eine wahre Zierde des Landes, wenn er sich bei uns ankaufte. Die Gräfin Aarstein mag ich ihm auch ganz wohl gönnen, möchte übrigens wissen, wie weit er mit ihr steht—"

Ida, die dem Lob des Geliebten mit niedergeschlagenen Augen und fliegender Brust zugehört hatte, fühlte bei den letzten Worten nicht nur einen Stich ins Herz, sondern auch einen leisen Druck auf ihr Füßchen. Sie merkte gleich, woher dies kam, und begegnete dem listigen Auge des Hofrats, der ihr Trost zuwinkte und den alten Papa über seine Fehlschüsse auszulachen schien. Ja, es stieg reiner, süßer Trost in ihr auf. Zwar sie hatte schon von der hohen Verstellungsgabe der Männer gehört und gelesen; sie wußte das Sprichwort solcher Reisenden: "Ein ander Städtchen, ein ander Mädchen". Sie erinnerte sich an die üppigen Reize der Aarstein, an ihre Verführungskunst, die schon so manches junge unerfahrene Männerherz betörte, an ihre wichtigen Verbindungen mit dem Hof, an ihre eigene, nicht ganz streng stiftsfähige Geburt. Aber was wollte sie denn? Sie wollte ja gar nicht an das Glück denken, Hand in Hand mit diesem Manne durchs Leben zu gehen, sie wollte ja nur geliebt sein, und daß sie es war, sagte ihr scharfes Auge, ihr Herz, das jeden Ton der Liebe verstanden hatte. Aber konnte dieses alles nicht dennoch Verstellung sein? Wer sagte ihr, daß dieser fremde Mann sie nicht betr—

Nein, betrügen konnte dieses edle, reine Gesicht nicht, die Glut dieser Augen konnte nicht täuschen! Froh dieser Überzeugung, die sie während des Auskleidens gewann, hüpfte sie in ihr Schlafzimmer und machte dort vor dem Spiegel einen komischen Knix. "Habe die Ehre, mich zu empfehlen, Frau Exzellenz, Gräfin von Aarstein," sprach die Mutwillige, "hier steht eine junge Dame, die sich mit Ihnen in den Kampf um den schönen Polacken einlassen will, welchen Eure Exzellenz als Sattelpferd an Ihren Triumphwagen spannen möchten. Ich bin zwar weder so dick, noch so geschminkt als Sie; aber dennoch wagt es meine Wenigkeit, gegen Höchstdieselben zu streiten." Noch einen Knicks und dann Unterröckchen und Strümpfchen herunter und mit einem Satz in das weiche Bettchen! Dort streckte sie das Engelsköpfchen noch einmal aus der Decke hervor, warf ein Kußhändchen nach dem Goldenen Mond hinüber und flüsterte: "Gute Nacht, mein armer Emil, schlafe sanft und träume süß, träume auch ein ganz klein wenig von Ida!" Sie schloß selig die Augen und legte sich zurecht, wollte eben hinüberwandern in das unbekannte Land der Träume; da schüttelte sie ein jäher Schrecken wieder auf und jagte sie aus dem Bette.—

* * * * *

DAS STÄNDCHEN

Dem Oberleutnant von Schulderoff hatte die Demonstration seiner gnädigen Frau Mama zu wohl gefallen, als daß er sich durch den ersten, ziemlich bedeutenden Durchfall, den er überall lieber als vor Präsidents Haus erlebt hätte, abschrecken ließ.

Im Gegenteil, wenn er recht darüber nachsann, so schien ihm die Sache eine glücklichere Wendung genommen zu haben, als er dachte. Schon oft hatte er ja von dem zarten Mitleiden der Mädchen gelesen, und daß aus Mitleid leicht Liebe werde, hatte er an sich selbst erfahren. Einer seiner Kameraden hatte einen Hund gehabt, eine prachtvolle englische Dogge. Dieser war der Fuß abgefahren worden, und,—wie es mit den Invaliden zu gehen pflegt,—der Herr Bruder wollte Diana dem Schinder geben. Schulderoff aber bat, von Mitleiden ergriffen, um ihr Leben, erhielt sie als Geschenk, und jetzt läuft sie auf allen Vieren so gut als zuvor. Ihr Herr aber liebt sie, wie man nur einen Hund lieben kann, und das alles aus Mitleiden! So konnte auch ihr Mitleiden bald in Liebe verwandelt werden. Daß sie aber Mitleiden fühle, war gar keine Frage. War sie nicht, als er die verdammte Mähre nicht mehr erreichen konnte, ganz bleich mit dem Kopf zum Fenster hinausgefahren, als wollte sie durch die Tafelscheiben brechen? Hatte sie nicht seinem Roß mit einem Jammerblick nachgesehen, der ihm deutlich sagte, daß sie den innigsten Anteil an seiner Fatalität nehme?

Der erste Coup war solchergestalt unglücklich und dennoch glücklich ausgefallen; der zweite sollte um so brillanter werden. Mama hatte auf Nr. 2 im Eroberungsplan die ungemeine Nachtmusik mit den Regimentstrompetern angegeben, sie hatte ihm noch einmal eingeprägt, wie er sich dabei zu gebärden habe, und endlich schritt man an das große Werk.

Schulderoff hatte einige Kameraden, denen auch Rollen von diesem neuen Don Juan zugeteilt worden waren, in ein Weinhaus geführt, wo sie sich gütlich taten, bis der entscheidende Moment kam. Je näher es aber an zwölf Uhr ging, desto besorgter sahen sich die Freunde an; denn Schulderoff hatte, sie wußten nicht wie, einen kapitalen Hips bekommen, daß er allerlei tolles Zeug untereinander vorbrachte. Aber die Kälte draußen konnte ihn schon zur Besinnung bringen; man brach also Schlag zwölf Uhr auf, rief die Regimentsmusik aus einem Bierhaus, wo sie sich versammelt hatte, und fort ging es vor des Präsidenten Haus. Da man voraussetzen konnte, daß Ida schon sanft entschlafen sei, so werde zum ersten Stück kein Adagio gewählt, sondern das rauschendste Fortissimo, das unter den Dragonern Tagwache oder Reveille genannt wurde, weil die achthundert Dragoner alle Morgen mit diesem Stück aus ihrem sanften Morgenschlummer trompetet wurden. Zu dieser Reveille setzten die zwanzig Trompeter ihre Hörner, Posaunen und Trompeten an, der Stabstrompeter oder—wie er sich lieber nennen ließ—Kapellmeister winkte, und in rauschendem Geschmetter, als wollten sie den jüngsten Tag anblasen, tönte die Reveille durch die stille Mitternacht zu dem einsamen Bettchen Idas und weckte sie aus süßen Träumen. Diese Art von Attention war ihr so ungewohnt, daß sie von Anfang glaubte, es brenne irgendwo im Städtchen; als sie aber nachher deutlich einige Walzer unterschied, so war kein Zweifel mehr, daß es eine Nachtmusik sei, die ihr gelte.

Es war kalt; sie hüllte sich fröstelnd wieder in ihre seidene Decke und dachte unter den lockenden Tönen nach, ob wohl Martiniz auf so unzarte Weise ihr eine Aufmerksamkeit erweisen wolle. Nein, der Unglückliche mußte ja der Zeit nach jetzt in der Kirche sein; und er, der sich in allem so zartfühlend, so sinnig bewies, er konnte nicht diese Trompeten zu Organen wählen, um seine Empfindungen auszudrücken; in Walzerchen und Polonaisechen, in diesem rauhtönenden Deideldum und Schnirkeldum konnte Emil seine Liebe nicht ausdrücken.

Jetzt schwieg die Musik; sie hörte Stimmen auf der Straße.

Die Offiziere hatten Schulderoff in den Schein einer Straßenlaterne an eine Mauer gelehnt. Verabredeterweise fingen sie nach dem dritten Walzer an: "Herr Bruder Schulderoff! Wo steckst du denn? Ich glaube, die Liebe hat den armen Kerl ganz voll gemacht."

"Ach, Kameraden, mir ist so weh, so weh!" stammelte der begeisterte Liebhaber, dem nur noch ein Teil seiner Rolle beifiel, und zwar gerade der Teil, welchen er in seiner jetzigen Lage mit großer Wahrheit spielte. "Blast, blast!" rief er dann und focht mit den Armen in der Luft. "Blast! O wären das die schwedischen Hörner und ging's von hier gerade ins Feld des Todes!"

"Wie der Herr Leutnant befehlen," antwortete der Stabstrompeter. "Frisch auf, Nr. 62, die Galoppade!" Und jetzt ging der Tanz von neuem los, daß alle Hunde in der Nachbarschaft laut wurden und die Nachbarn sich beklagten, daß man ihre Nachtruhe störe. Ida war kein Wörtchen des Gespräches entgangen, und sie schämte sich ordentlich, dem Herrn von Schulderoff, der ihr gerade nicht von der empfehlendsten Seite bekannt war, diese Musik zu verdanken. Es schlug ein Uhr, als die Künstler abzogen, und von Idas Augen war aller Schlaf gewichen. Sie warf sich hin und her; aber es wollte ihr nicht gelingen, den mohnbekränzten Gott, den Schulderoff so unzarterweise verscheucht hatte, zurückzurufen. Sie ging noch einmal die Bilder dieses Abends und der letzten Tage durch; durfte sie auch mit Recht hoffen, daß sie ihm nicht gleichgültig—

Der Ball? Es ist wahr, er hatte immer nach ihr gesehen; aber das bewies nur, daß auch sie immer nach ihm gesehen hatte; konnte ihm nicht ihr wiederholtes Hinsehen aufgefallen sein? Konnte er nicht deswegen so oft nach ihr gesehen haben?—Bei dem Souper, ja, da war er hinter ihr gestanden, hatte, als sie anstießen auf Liebe und Freude, tief geseufzt; aber durfte sie dies auch auf sich beziehen? Konnte ihn, der so unglücklich schien, nicht so manches seufzen machen?—Nachher bei dem Kotillon,—ja, er errötete, als sie ihn zum Tanz aufzog; aber etwa nur wegen ihr? Nicht, weil sie die einzige war, die es wagte, ihn aufzuziehen?—Heute abend, als er beim Tee neben ihr gesessen, da hatte er oft sonderbare Winke ihr zugeflüstert: einmal, als man ihn fragte, was ihm an der hiesigen Gegend so anziehend sei, hatte er ihre Hand unter dem Tische gefaßt, sie gedrückt und ihr zugeflüstert: "Ich weiß wohl, darf es aber nicht sagen." Was konnte er damit gemeint haben? Es war wohl bloße Galanterie gegen sie, als Dame des Hauses.

Schelmchen Ida wußte es wohl, was es war; aber sie belog sich selbst, um immer wieder aufs neue zu zweifeln und zu hoffen. Sie lächelte sich selbst aus über ihren Zweifel. "Nein, der Hofrat muß mir beichten," sagte sie zu sich und klopfte auf die seidene Decke, "der muß beichten; hat er doch so geheimnisvoll getan, als habe der Graf sein ganzes Herz gegen ihn ausgeschüttet; da will ich schon erfahren, ob er mich lie—"

Einige rasche, volle Griffe auf einer Gitarre unterbrachen ihr Selbstgespräch; sie setzte sich im Bettchen auf, sie lauschte; ein süßes, melancholisches Adagio wurde gespielt; Ida hatte selbst etwas Weniges klimpern gelernt, sie kannte hinlänglich die Schwierigkeit dieses Instruments, wenn es ohne Begleitung der Stimme oder eines andern Instruments die Gefühle in wohlgerundeten vollen Sätzen ausdrücken sollte; aber so hatte sie dieses Instrument nie spielen gehört. Es graute ihr vor diesen fließenden Läufen, wenn sie daran dachte, wie schwer sie seien, und diese vollen, runden Klänge, diese melodischen Klagen, die den ärmlichen sechs Saiten entlockt wurden! Wer konnte nur in Freilingen so hinreißend, so süß spielen? Sie huschte schnell in die Pantöffelchen, zog die seidene Mantille um und schlich sich ans Fenster; sollte Mart—

Ja, weiß Gott! Seine Zimmer waren noch hell erleuchtet, die Gardinen waren herabgelassen; aber deutlich konnte sie den Schatten eines an den Fenstern Auf- und Abwandelnden erspähen. Es war Martiniz; und jetzt gewann sein Spiel erst volle Bedeutung, jetzt verstand sie seine flüsternden Klagen, seine sehnenden Übergänge, die süße Melancholie seiner Moll-Akkorde. Er schwieg, er stand—sie sah deutlich seinen Schatten—er stand ihr gegenüber am Fenster. Ein bedeutungsvolles Vorspiel begann. "O, wenn er auch singen könnte, wie köstlich, wie wunderschön wäre es!" dachte Ida, hüllte sich tiefer in ihr Mäntelchen und setzte sich ans Fenster; ihr Herzchen pochte voll Erwartung.—Er sang; eine tiefe, volle, klare Männerstimme trug eines jener polnischen Nationallieder vor, wie sie schon mehrere gehört hatte und die jedes fühlende Herz durch ihre Innigkeit, durch ihre sanften Klagen so tief ansprechen; er sang,—sie verstand kein Silbchen von den polnischen Wörtern; aber dennoch faßte sie den Sinn so gut als irgend eine polnische Schöne; ach, es waren ja die Töne, die man auf der ganzen Erde versteht, die Klagen der Liebe, die sich nach dem geliebten Gegenstande sehnt, die um Erwiderung fleht, die ihren Schmerz in den flüsternden Tönen der Wehmut ausweint. Tränen stürzten dem liebenden Mädchen aus den Augen; sie schlich sich zurück zu ihrem einsamen Lager; Emils Töne begleiteten sie. Die geheimnisvolle Stille der Nacht, das rätselhafte Leiden des interessanten, unglücklichen Mannes, sein Liebe atmender Gesang, der ja ihr allein in der schweigenden Mitternacht galt, dies alles erfüllte sie mit einer nie gekannten Sehnsucht, es war ein unaussprechliches, aber süßes Gefühl der Wehmut und des Glückes; ja, sie war geliebt—diese liebewarmen Töne wisperten es ihr in die Seele—sie war geliebt, wahr und innig, wie auch sie liebte; sie preßte ihre weichen Händchen auf das lautpochende Herz, auf die entfesselte Brust, wo es siedete und brannte, als habe das dunkle Feuerauge des Geliebten das wallende Blut wie dürren Zunder angezündet. Verschämt, als könne er durch die finstere Nacht, durch ihre dichten Jalousien zu ihr herübersehen, verhüllte sie das pochende Herzchen, zog die Decke bis an den Mund herauf, preßte die Äuglein zu und flüsterte hinüber in die weichen Töne seiner Laute noch ein herzliches: "Schlaf wohl!"

 
* * * * *