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Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.

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Viertes Capitel.
Liebe

Weit ab von jenen geheimnissvollen Schranken des irdischen Geschehens, die wir im letzten Capitel berührten, liegt mitten im Centrum der molecularen Welt der unscheinbare Ursprung dessen, was unter dem Flammenzeichen des stolzen Namens »Liebe« sich zum mächtigsten Herrscher im Gesammtbereiche der Poesie aufgerungen hat. Das Wort Unsterblichkeit mit seinem Echo in den Gründen, »von wo kein Wandrer wiederkehrt,« muss seiner Natur nach den menschlichen Gedanken bis zu jenen Grenzen führen, die dem Forscher gestellt sind; das Wort Liebe, und mag das noch so hart hineintönen in alle unklaren Träumerseelen, bedeutet in seiner Quelle, seinem Verlauf und seinen Zielen eine durchaus irdische Erscheinung.

Der Naturforscher, von dem der gewissenhafte Dichter Aufschluss verlangt über die Resultate seiner unbefangenen Forschung nach der Natur der Liebesempfindung, ist gezwungen, den Fragenden vor die Anfänge jener ungeheuren Kette zu stellen, die wir zusammenfassend die organische Welt nennen. Tief unten an den Wurzeln dieses riesigen Lebensbaumes zeigt er ihm die einfache Zelle, ein selbstständiges Wesen, nicht Thier noch Pflanze – einen Crystall aus gleichem Stoffe geformt wie alle andern, aber von allen ewig geschieden durch die Besonderheit seiner molecularen Zusammensetzung. Gesetze, ihrem Wesen nach unbekannt, wie jene, die den crystallinischen Sprösslingen irgend einer Mutterlauge alltäglich vor unsern Augen jenes mathematisch starre Gefüge geben, das jeder Mineraliensammlung den allgemein bekannten Charakter verleiht, ermöglichen dieser organischen Zelle eine bestimmte Art von Aufnahme fremder Stoffe, die sie wachsen lassen, und eine Zertheilung in zwei oder mehrere Individuen vom Puncte an, wo dieses Wachsthum einen gewissen, nicht näher definirbaren Zustand der Reife erlangt hat. Wir kennen heute noch Geschöpfe solcher einfachsten Art, deren Leben in den beiden Processen des Wachsens durch Nahrungsaufnahme, das durch das Vermögen der Ortsbewegung unterstützt werden kann, und des Zerfallens in eine Anzahl neuer, kleiner Individuen, bei denen sich dasselbe wiederholt, erschöpft zu sein scheint. Die höchste Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass sie unveränderte Nachkommen uralter Formen sind, aus denen sich an andern Stellen durch Umwandlung die gesammte Linie der höheren Organismen entwickelt hat. Der Begriff der Fortpflanzung bedeutet hier einfach, wie bei Mutter und Kind: Trennung. Von Liebe, von einer Vereinigung zweier Individuen ist noch keine Rede. Aber in dieser Trennung liegt bereits der erste Schritt zum Kommenden. Gewisse äussere Ursachen, die im Princip jedenfalls am Besten in dem Darwin'schen Gedanken von der umwandelnden Macht des Kampfes um's Dasein, der kleinste chemisch und physicalisch bedingte individuelle Neigungen im bestehenden Typus zu grossen Verwandlungen heraufzüchtet, ausgesprochen sind, führten nämlich im Laufe der Zeit eine Fortentwickelung unter den einzelligen Wesen herbei. Die einfache Zelle zerfiel unter Umständen in ein Dutzend Tochterzellen. Anstatt sich nun nach allen Richtungen zu zerstreuen, konnte es für diese nützlich werden, beisammen zu bleiben. Wir sehen ein Conglomerat von Zellen einer einzigen Generation, die sich wie die Haut einer Blase um einen hohlen Mittelraum gruppiren und als Ganzes in einfachster Form das Schema eines thierischen Körpers bilden. Zwischen den Zellen entwickelt sich ein Gefühl der Gemeinschaft – der Freundschaft, wenn man so will. Aus der Generation von Zellen wird ein Zellenstaat, in dem die Mitglieder, selbst Sprösslinge einer Einheit, sich gewissermassen zu einer neuen, höheren Einheit zusammenthun. Sehr bald entwickelt sich Arbeitstheilung. Da die Nahrungssäfte durch die dünnen Zellwände hindurch bei näherem Aneinanderschliessen auf Grund physikalischer Gesetze frei circuliren, können sich einige wenige Zellen, indem sie alle Kraft darauf verwenden, ganz der Nahrungsaufnahme widmen und den übrigen die motorischen und sensitiven Eigenschaften überlassen. Durch diese Theilung der Functionen entstehen Organe, das heisst bestimmte Ecken des Zellenstaates, wo Zellen bloss noch für eine einzige Function thätig sind, diese aber so intensiv betreiben, dass sie für alle andern mit genügt. Am Ende ist ein höchst verwickelter Organismus geschaffen, dessen Theile nur mehr in der Gesammtmasse existiren können, so dass der Zellenstaat ein einheitliches Wesen, ein wahres Individuum wird. Die Frage ist: wie wird die Fortpflanzung dieser complicirten Maschine vor sich gehen? Das Zerfallen in neue Individuen war eine Function der Einzelzelle. Im Zellenstaat hat diese sich bei der allgemeinen Arbeitstheilung ebenfalls derartig in gewissen Zellen localisirt, dass nur noch diese zerfallen und Abkömmlinge des Ganzen in Gestalt einzelner Zellen entsenden. Von diesen Tochterzellen gründet später jede ihren neuen Staat für sich, indem sie den alten Weg der Selbsttheilung einschlägt und aus den Theilchen den Staat hervorgehen lässt. Der Vorgang ist jetzt complicirter, aber noch immer behauptet die Trennung allein ihr Recht, wo es sich um Fortpflanzung handelt. Erst die nächste Stufe erweitert sie zu etwas Neuem. Allenthalben bestehen Zellengemeinden, die kleine Einzelzellchen als Sprösslinge aussenden. Es ereignet sich, dass zwei dieser Sprösslinge – zwei von verschiedenen Gemeinden – auf einander stossen, sich vermischen. Jeder trägt das Bestreben in sich, durch Selbsttheilung einen neuen Staat zu gründen. Indem das Bestreben der Beiden sich vermischt, entsteht ein gemeinsamer Bau von doppelt starken Dimensionen. Wieder treten Gesetze in Kraft, die den Vortheil nicht verloren gehen lassen, es bildet sich bei einem grossen Theile der Zellenstaaten allmählich das Bestreben aus, seine Sprösslinge alle sich mit je einem Sprössling eines andern vermischen zu lassen, um dem künftigen Neubau eine Doppelbasis von verstärkter Kraft zu geben. Die Trennung des Keims vom Mutterorganismus bleibt nach wie vor; aber es folgt ihr eine Mischung, eine Vereinigung, ehe ein neuer Organismus entstehen kann.

Inzwischen, während dieser letzte Fortschritt sich anbahnte, hat die Arbeitstheilung und Organisation in den einzelnen Zellenstaaten colossale Entwickelungen durchgemacht. Es giebt Zellstaaten, die aus Millionen einzelner Zellen bestehen, welche sich um die verschiedensten Hohlräume in mehrschichtigen Blasen gruppiren, und jeder Keimzelle wird durch bestimmte Vererbungsgesetze auferlegt, nach Verschmelzung mit einer solchen eines andern gleichartigen Staates ein Gebäude aufzuführen, das nach Kräften dem Mutterstaate gleichen muss. Indessen: die Welt ist gross, die gleichartigen Staaten sind oft weit von einander entfernt, die frei ausschwärmenden Keimzellen finden sich oft nicht zueinander. Es bahnt sich ein neuer Fortschritt an. Wie einst jene ersten Tochterzellen in einem Gefühle von Zugehörigkeit, von Freundschaft beisammen blieben und den Zellenstaat gründeten, so vereinigen sich jetzt je zwei Zellenstaaten – nicht um ganz zu verwachsen, sondern bloss, um ihren Keimzellen durch möglichst günstige locale Bedingungen das Verschmelzen zu erleichtern. Sie treten von Zeit zu Zeit nahe zusammen, und der eine entsendet seine Fortpflanzungszellen in einen der geschützten Hohlräume im Innern des andern, wo sie sich ungestört mit den Keimzellen dieses letztern verbinden können, um ihr Verschmelzungsproduct nachher von dort aus in's Freie treten zu lassen.

Der Laie, dem diese Dinge neu sind, denkt vielleicht, der Naturforscher, indem er die letzte Stufe der Zellenentwickelung schildert, stehe noch immer bei grauen Urzeiten. In Wahrheit sind wir bereits am Ziel. Der Mensch ist der höchste und vollendetste Zellenstaat der zuletzt besprochenen Art; und zwar ist der Mann der eine, das Weib der andere. Indem sie sich geschlechtlich nähern, vermischt sich eine Keimzelle des Mannes, die Samenzelle, mit einer Keimzelle des Weibes, der Eizelle, in geschütztem Hohlraum des weiblichen Körpers, aus der Mischung der beiden Zellen entsteht der neue Zellenstaat des kindlichen Organismus, der später aus dem bergenden Leibe des Mutterstaates an's Licht des Tages tritt, um sich hier fertig auszugestalten. Bei allen Verwickelungen des Details geht durch den ganzen Zeugungsprocess ein Athem staunenswerthester Einfachheit, ein Zurückgehen auf die ursprünglichsten Erscheinungen des organischen Lebens. In jenen beiden Keimzellen, der Samen- und der Eizelle, wird der werdende Organismus unter dem Bilde der anfänglichen Einzelzelle, des Urwesens, von dem die ganze Kette abstammt, wieder angelegt, und indem der wachsende Embryo sich aus ihnen formt, durchläuft er noch einmal die wichtigsten Stufen der ganzen Ahnenreihe in traumhaft verschwommenem Fluge. Noch einmal scheint die Natur sich durchzutasten durch die unzähligen Erinnerungen des organischen Stammbaums, über dessen einstigen lebenden Vertretern jetzt bereits der Sedimentärschutt vieler Jahrmillionen versteinernd lastet. Endlich wird der Mensch. Aber auch in ihm mischen sich Vater und Mutter noch immer so seltsam, dass man den doppelten Ursprung ahnen kann, selbst wenn wir vom Zeugungsacte gar keine Vorstellung hätten, die Eizelle des Weibes und die Samenzelle des Mannes nie im Lichtfelde unseres Mikroskops erschienen wären.

Geheimnisse für den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft giebt es hier im Einzelnen die Menge, Metaphysik gar nicht. Der Parallelismus des Psychischen und Molecularen wahrt seine gewöhnliche Rolle, das Geistige zeigt sich durchaus in stufenweisem Aufbau, je nach der Entwicklungshöhe des Körperlichen, und die menschlichen Seelenregungen äussern sich folgerichtig erst mit Vollendung des menschlichen Gehirns. Wer geneigt ist, den Schauer des Erhabenen besonders stark vor den Momenten der höchsten Vereinigung des Universellen und Geschichtlichen mit dem Individuellen und Vorübergehenden zu empfinden und dem Idealen die wissenschaftlich allein zulässige Bedeutung des Allgemeinen, über das Einzelne als höhere Einheit Hervorragenden zu geben, der wird in den gesammten Erscheinungen des Zeugungsprocesses eine hohe, vielleicht die allerhöchste ideale Erhebung des individuell Menschlichen erblicken müssen und ihnen gegenüber jene Regung stärker als irgendwo anders empfinden. Wir verdanken den Begleitungsphänomenen des Zeugungsgesetzes überhaupt, wenn nicht sogar den Sinn für Schönheit, so doch das Wichtigste, was wir schön nennen: die edeln Formen des Weibes in ihrer künstlerischen Gegensätzlichkeit zum Manne, die Farbenpracht der organischen Natur, deren Blüthen, Federn, Düfte in ihrer höchsten Entfaltung sämmtlich auf geschlechtlichen Beziehungen beruhen, die reichen Gaben des Gemüthes, die sich in der Gatten- und Elternliebe durch die höhere Thierwelt ziehen, um schliesslich in den verallgemeinernden Regungen des menschlichen Mitleids ihre höchsten Triumphe zu feiern.

 

Unsere grossen Dichter haben sich dementsprechend auch niemals gescheut, von den natürlichen Acten der Zeugung als etwas Grossartigem und im eminenten Sinne Idealem unbefangen zu reden und den Satz aufrecht zu erhalten, dass wir es in ihnen keineswegs mit einem der Sittlichkeit als »Sinnlichkeit« feindselig gegenübergestellten Principe, sondern vielmehr mit der Basis aller Sittlichkeit zu thun haben. Ohne eine solche naturgemässe Grundidee wäre beispielsweise die Gretchentragödie des Faust, in der gerade die Tiefe und Wahrheit der Neigung bei dem Weibe, das geschlechtlich »Echte« das versöhnende Element für alle Verletzung der Sitte abgiebt, vollkommen widersinnig. Hier wie in andern poetischen Meisterwerken liegt der Nachdruck auf dem Satze: die Liebe muss auf enge geschlechtliche Vereinigung als ihr natürliches Ziel hinauslaufen, wenn sie wahr sein soll – und wenn äussere Umstände gerade diese Wahrheit des Gefühls zur Tragödie gestalten, so ist sie selbst dann noch immer grösser als eine Unwahrheit im gleichen Falle wäre, so gut wie Wallenstein, obwohl er tragisch endet, grösser bleibt, als Einer, der in seiner Lage anders handelte; der ganze Begriff der Tragödie rankt sich eben um die Wahrheit auf.

Diese Anschauungen unserer grossen Dichter, die viel genannt, aber weniger gelesen werden, sind jedoch keineswegs die gleichen wie die einer ungeheuren Masse kleiner Dichter, die weniger genannt, aber vermöge ihrer colossalen Menge weit mehr gelesen werden. Die Begriffe, die unser Publicum sich seit Jahrhunderten von der Bedeutung der geschlechtlichen Dinge für das unausgesetzt behandelte Thema der Liebe bildet, sind unter dem Einflusse dieser zweiten Sorte von Dichtern nach und nach ganz eigenthümliche geworden.

Ich halte diesen Punct für lehrreich genug, um ein deutliches Beispiel für jene eigenartige Krankheitsgeschichte abzugeben, die sich unter dem Titel der sogenannten »rein idealistischen« Richtung durch die erotische Weltliteratur und wohl mit am ärgsten durch unsere neuere erotische Poesie zieht, eine Krankheitsgeschichte, die sich freilich, wie schon gesagt, zumeist nur an der breiten Masse der Dichterwerke bemerkbar macht, aber von hier aus schwere Ansteckungsstoffe in's Publicum verbreitet hat. Man wirft der modernen realistischen Richtung die Vorliebe für pathologische Probleme vor. Ich erlaube mir im Nachfolgenden, ein solches an einem ganzen Kreise poetischer Bestrebungen zu entwickeln, auf die Gefahr hin, jenem Vorwurfe zu verfallen. Ich schicke dabei voraus, dass ich keineswegs der Erste bin, der darauf hin weist, dass aber, wie so viele Fälle, die unmittelbar in's Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen naturwissenschaftlichem Denken und poetischem Schaffen gehören, auch dieser noch lange nicht eindringlich und oft genug öffentlich besprochen wird und darum in den Prämissen einer realistischen Aesthetik nicht fehlen darf.

Nehmen wir einmal für einen heitern Moment an, es gäbe eine Dichterschule, die den kühnen Satz als poetisches Programm aufstellte, die physiologische Function der Nahrungsaufnahme im Menschen gehöre zu den höchsten und dankbarsten Vorwürfen der Poesie, und thatsächlich durch practische Werke ersten Ranges die Haltbarkeit dieses Programmes darthäte. Man müsste die Gründe prüfen, die jenem Unterfangen zu Grunde lägen und, wofern diese stichhaltig wären, sich darein finden und der Sache freuen. Jetzt aber käme eine Spaltung innerhalb der neuen Partei und es erhöben sich beredte Apostel, die Folgendes aufstellten. Das Essen selbst sei etwas Unschönes, Unappetitliches, wohl gar Unmoralisches, dürfe nur im Geheimen geübt werden, sei kein Gegenstand der Poesie. Ein poetisches Element stecke bloss im Hunger. Von unvergleichlichem dichterischen Werthe sei jener eigenartige nervöse Zustand des Gehirns bei leise dämmerndem Hungergefühl, jener Wechsel von geistigem Eifer und geistiger Abspannung in seinen tausend feinen Nuancen, wie er dem Mahle vorausgehe, bis zu jenen Anfällen von Raserei, von Hallucinationen und von völliger Lethargie, wie sie bei Verhungernden in der Wüste sich zeigten, oder dem Ekel vor aller Nahrungsaufnahme, der Blasirtheit im Puncte des Appetits, wie sie durch sonstige Störungen des Nervensystems hervorgebracht würden.

Ich glaube, man würde, selbst das Ganze zugestanden, diese Sectirer der letztern Sorte für Narren erklären.

Ich bin weit entfernt, diesen Titel auf alle Poeten anzuwenden, die das Liebesproblem nach derselben Seite hin einseitig gefasst haben, aber das Gefühl eines vollkommenen Parallelismus kann ich nicht opfern. Das natürliche Ziel der Liebesempfindung, so höre ich von allen Seiten, soll man in der Poesie verschleiern und beseitigen, die Empfindung selbst, die voraufgeht, verherrlichen. Ersteres soll etwas grob Sinnliches sein, letzteres etwas Geistiges. In der That, auch der Hunger ist scheinbar mehr ein nervösgeistiges Phänomen als das Zerkauen der Nahrung zwischen den Zähnen. Aber diese geistige Disposition ist, was beim Hunger kein kleines Kind je bezweifelt hat, doch unmittelbares Erzeugniss eines physiologischen Vorganges. Ganz so die Liebe. Es ist physiologisch sogar leichter, die Liebe aus dem Geschlechtsbedürfniss, als den Hunger aus dem leeren Magen abzuleiten. Erst von einem gewissen Alter ab entwickeln sich beim Menschen die mechanischen Bedingungen des Zeugungsactes; Hand in Hand mit dieser Entwickelung schreitet das allmähliche Erwachen und Functioniren des sexuellen Hauptcentrums im Gehirn vor, dessen Thätigkeit wir uns in der geistigen, nervösen Erscheinung des Liebesgefühls bewusst werden. Jüngling und Mädchen beginnen sich als etwas Gegensätzliches zu betrachten, das doch eine Vereinigung fordert, der Unterschied der Formen erweckt unklare Phantasiebilder, die durch individuelle Sympathieen meist sehr bald eine feste Gestalt annehmen, die Gestalt eines subjectiven Ideals, mit dem vorkommenden Falles die geschlechtliche Vereinigung grössern Reiz gewähren würde, als mit jedem zweiten Wesen des andern Geschlechtes.

Gegen diese einfache, dem Thatsächlichen Rechnung tragende Auffassung der Liebe als Anregung einer gewissen Gehirnpartie in Folge eines dem Gesammtorganismus, dem Zellenstaate, erwachsenen Bedürfnisses erhebt sich aber jene andere Meinung mit erneuter Macht, indem sie das Wort »die Liebe ist etwas Geistiges« so gefasst haben will, dass darin noch etwas Besonderes stecken soll. Dieses Besondere aber, das meist nicht näher definirt, dafür aber desto mehr gepriesen und dem »Gemeinen« gegenüber gesetzt wird, stellt sich bei kritischer Zerlegung sehr leicht als ein Doppeltes heraus. Einmal ist es ein »Göttliches«, ein »göttlicher Funke«, der in der Liebe zum Ausdruck kommen soll, also ein Stück Metaphysik – das andere Mal ein »Wahnsinn«, eine »zerstörende Macht«, also, physiologisch gesprochen, ein Stück Psychiatrie. Wer sich davon überzeugen will, ob diese Zerlegung des beliebten Begriffes richtig ist, der unterziehe sich der Aufgabe, aus einigen Dutzend Romanen und lyrischen Gedichtsammlungen der Alltagsmode die Phrasen herauszuschreiben, in denen der Autor selbst oder seine Haupthelden ihre Liebesgefühle definiren. Stets wird er das Entweder – Oder finden: die Liebe ist von Gott – die Liebe ist Wahnsinn. Nur höchst selten wird er auch einmal verschämt angedeutet finden, dass die Liebe auf natürlichen Gesetzen und Functionen basirt, die ihre feste und geordnete Stellung im Zellenstaate des menschlichen Organismus einnehmen. Am »Göttlichen« in der Liebe zweifeln, ist für diese Poeten und ihre Verehrer gleichbedeutend mit äusserster Roheit und Gefühllosigkeit. Gleichwohl ist der realistische Aesthetiker, der auf naturwissenschaftlichem Boden steht, genöthigt, den Ausdruck für gänzlich werthlose Phrase zu erklären. Wenn »göttlich« so viel heissen will, wie in eminentem Sinne gemahnend an unsere Abhängigkeit von einer grossen Entwicklungswelle, an die Unterordnung des Subjectiven unter das Allgemeine, so kann man sich das Wort gefallen lassen für das eigentliche Ziel der Liebe, für die ganze Annäherung und Vereinigung der Geschlechter. Das angeblich Roheste und Gemeinste ist dann das hochgradig Göttlichste und die Verbindung von Mann und Weib in ihrer physiologischen Thatsächlichkeit der göttlichste, d. h. der Gottheit nächst stehende Act, den das individuelle Menschenleben überhaupt umschliesst. Die göttliche Mission des Weibes besteht dann in seiner Schönheit, die den Mann reizt – die Liebe, mit der die Gatten einander begegnen, ist der höchste Gottesdienst. In solchem Sinne mag das Wort gelten. Aber diese Auslegung läuft dem gewöhnlichen Wortbegriffe schnurstracks entgegen. Andererseits die Liebe schlechthin als Wahnsinn zu bezeichnen, ist physiologisch eine Ungeheuerlichkeit. Das Geschlechtscentrum im geistigen Apparate des Menschen kann erkranken, das ist richtig. Die Liebe kann eine Verrücktheit werden, sie kann vermöge der Trennung von functionirendem Geschlechtsorgan und nervösem Gehirncentrum eine Geisteskrankheit werden, deren Wahngebilde jede Fühlung mit den wahren Zielen des natürlichen Triebes verlieren, so gut wie es psychiatrische Fälle giebt, in denen der Kranke jedes Gefühl für Nahrungsaufnahme verliert und ohne Hilfe bei normalem Munde und Magen verhungern würde. Diese sexuellen Geisteskrankheiten sind streng zu unterscheiden von den Krankheiten der sexuellen Functionsorgane. Sie treten zumeist als Folgen bereits vorhandener anderer Verbildungen des Gehirns auf. Seit uralten Zeiten sind sie eine Begleiterscheinung bestimmter Formen von religiösem Wahnsinn gewesen und lassen sich als solche durch die Geschichte der orientalischen Völker wie der abendländischen bis in's Mittelalter und bis auf den heutigen Tag verfolgen – eine Aufgabe, der allerdings noch kein grosser Historiker sich im rechten Masse unterzogen hat. Sie treten ferner chronisch und wahrscheinlich sogar erblich bei Nationen auf, deren cerebrale Centra durch Ueberbildung und zwecklosen Luxus geschwächt und verdorben sind; dahin gehört die gesammte historische Entwickelung der Päderastie, bei deren Beurtheilung übrigens der moderne Rechtsstandpunct so wenig durch die Erkenntniss des Krankhaften verrückt wird, wie es durch die Leugnung der Willensfreiheit auf andern Gebieten geschieht. Selbst die einfache Einseitigkeit in der Anstrengung gewisser Gehirnpartieen beim vollkräftigen Genie besitzt meistens einen irgendwie schädigenden Einfluss auf die benachbarte sexuelle Gegend des nervösen Centralapparates, so dass die geschlechtlichen Neigungen sehr grosser Männer durchweg nicht als Muster des Normalen gelten können, äussere sich dieses Abweichen von der Linie nun in widernatürlicher Enthaltsamkeit oder unbändiger Ausschweifung.

Aus allen diesen Einschränkungen ergiebt sich nun aber doch noch lange nicht die Krankhaftigkeit aller Liebeserscheinungen. Die Liebe soll ein Zwang sein, der auf dem freien Bewusstsein lastet, der die Seele knechtet und zu Gemeinem treibt. Da liegt der fundamentale Irrthum. Um das freie Bewusstsein, die unabhängige göttliche Seele zu retten, erklärt man den einfachsten und logischsten Naturtrieb für eine unwürdige Fessel, die uns an's Gemeine kettet. Hier, wie bei dem andern Falle liegen die Wurzeln im Metaphysischen, sagen wir immerhin, da wir von modernen Dichtern sprechen: im Christlichen. Die künstliche Seele, die uns diese religiösen Anschauungen in den Menschen hineingedacht haben, empfindet schliesslich die ganze Natur, auch wo sie heiter und glücklich macht, als Zwang. Der Zeugungsact verwandelt sich ihr, obwohl von anderem Standpuncte, von anderer cerebraler Verbildung aus, als bei dem sexuell erkrankten Don Juan oder dem geschlechtlich complet wahnsinnigen alten Griechen, in ein leeres Spiel, eine Dummheit, von der wir uns frei machen möchten. Das fällt aber selbst bereits in's Gebiet der sexuellen Gehirnkrankheit.

Der einfache Schluss ergiebt sich: jene ganze Literatur, die in guten oder schlechten Versen, reiner oder fehlerhafter Prosa uns unablässig von dem Dämon der Liebe, von der Knechtung unter das Joch Amors seufzt und die reine, heilige, göttliche Minne preist – jene ganze Literatur ist Product einer mehr oder minder entwickelten sexuellen Gehirnschwächung, die täglich weiter um sich greift, je mehr Menschen mit empfänglichem, für die Gewohnheitslinien des Unterrichts geebnetem Gehirn jene Literatur lesen und wieder lesen. Ein schwererer Vorwurf kann meines Erachtens gegen eine ganze Richtung der Poesie nicht wohl erhoben werden. Die nothwendige practische Folge ist, dass eine Scheidung entsteht zwischen der gewöhnlichen, normalen Liebe, der sogenannten hausbackenen, und jenem metaphysisch verbildeten, in lauter Jammer und Träumen dahinsiechenden Zerrbilde der Liebe, das Roman, Drama und Lyrik allerorten predigen. Der gesunde Spiessbürger, der seine Gehirncentra noch in erfreulicher Ordnung beisammen hat, unterscheidet schliesslich mit sicherm Gefühl die »Liebe, wie sie im Leben vorkommt« von der »Liebe in Büchern und Theaterstücken«, und der junge Mann oder das junge Mädchen, die sich schon in unreifen Jahren durch das beständige Hören und Lesen in letztere zuerst hineinhimmeln, sehen sich durchweg bei späterm, reifem Eintritt in das wirkliche Leben genöthigt, jenes erste Bild zwangsweise wieder aus dem Gehirn herauszuschaffen – ein Process, der in nur zu vielen Fällen gar nicht mehr gelingt – so wenig, wie ein Kind, das man an Morphium gewöhnt hat, später noch normal einschlafen kann. Wer nicht blind ist, muss einsehen, dass wir hier dem vollkommenen Bankerotte der erotischen Poesie entgegensteuern, denn was sich vom Normalen derartig trennt, muss über kurz oder lang nothwendig gewaltsam unterdrückt werden. Anstatt aber Hilfe zu schaffen, wüthet man vielmehr gegen jede Sorte von Schriftstellern, die der Liebe in ihren Dichtungen wieder zu einem natürlichen Boden verhelfen möchten. Es ist eine höchst traurige Erscheinung, wie dabei alles durcheinander geworfen wird. Männer, die mit Bewusstsein daran gehen, die Kehrseite der echten Liebe in den krankhaften Entartungen zu schildern, stellt man ganz unbefangen neben oder unter solche, die selbst im Banne sexueller Gehirnaffectionen stehen und ihre Bücher mit den unlogischen Gebilden ihrer kranken Phantasie füllen, ohne ihre Abirrung vom Normalen selbst zu empfinden. Gewiss sind auch jene bewussten Studien über das Abnorme mehr oder weniger eine unerfreuliche Lectüre und gewinnen höchstens durch den Contrast, den das Logische und Helle der wahren Liebe selbst unausgesprochen gegen alle diese Fratzen und Verirrungen bildet. Aber welcher unendliche Fortschritt liegt schon allein in dem Bewusstsein, wie es Zola's Nana oder Daudet's Sappho vertreten – dem schneidig scharfen Bewusstsein, dass wir es hier mit kranken Menschen zu thun haben, mit krankhaften Situationen, krankhaften Verwickelungen. Von der Erkenntniss des Falschen, Ungesunden zur Erkenntniss des Wahren und Gesunden ist aber nur ein Schritt. Jene Schriftsteller, die vor unsern Augen sich so eifrig mit dem Studium der entarteten Liebe befassen, bekunden bereits auf Schritt und Tritt eine weit tiefere Einsicht in das Gebiet des Normalen, wie hundert andere, die nach ihrer und ihrer Leser Meinung niemals die Linie des Erhabenen auf erotischem Gebiete verlassen haben. Eine zukünftige Poesie, die sich an die Ersteren anlehnt, ohne ihnen auf ihr Specialgebiet zu folgen, wird das Grösste zu leisten im Stande sein. Wir wollen übrigens darin Gerechtigkeit walten lassen, dass wir unsern Poeten, die theils unbefangen, theils mit kritischem Bewusstsein immerfort das Krankhafte in der Liebe schildern, nicht die ganze Schuld daran aufbürden. Die Poesie – wenigstens die unbefangene – hilft zwar das Gift weiterverbreiten, aber sie empfängt es auch unablässig aus dem Leben zurück. Eine ungeheure Masse falscher Sentimentalität, künstlicher Gefühle, moralischer Unnatur belastet unser ganzes modernes Liebesleben. Freytag hat gelegentlich in seinem Romane von der verlorenen Handschrift ein anmuthiges Bildchen vom deutschen Mädchen entworfen, wie es unsere Bildung in unsern Städten heranbildet. Das Bild ist anmuthig geblieben, weil der Kern in diesem einzelnen Mädchen durch und durch gesunde Erbschaft war und das Sentimentale sich bloss in einer Form darüber ranken konnte, die dem Humor Stoff bot, aber ohne ernste Folgen blieb. Leider ist dieses Bild schon nicht mehr überall das Typische. Eine widerwärtige Sentimentalität greift wie ein schleichendes Gift allenthalben um sich und zeitigt ein Geschlecht von Menschenkindern, in deren Empfindungen so wenig waschechte Natur steckt, wie auf den Wangen einer Pariser Ballschönheit. Es ist vor allen Dingen Mission der Poesie, die hier viel gesündigt und viel gelitten, mit festem Muthe sich mehr und mehr dem Modegeschmacke entgegenzustellen. Sie kann es aber nur, indem sie echt realistisch wird, das heisst: sich an die Natur anlehnt. Der einfache Realismus, der den Menschen die wahren Kleider des Lebens anzieht, ist noch lange nicht ausreichend zum wirklichen Zweck. Es gilt tiefer zu gehen und die Welt wieder an den Gedanken zu gewöhnen, den sie durch Metaphysik, Sentimentalität und Katzenjammer so vielfach verloren: dass die Liebe weder etwas überirdisch Göttliches, noch etwas Verrücktes und Teuflisches, dass sie weder ein Traum, noch eine Gemeinheit sei, sondern diejenige Erscheinung des menschlichen Geisteslebens darstelle, die den Menschen mit Bewusstsein zu der folgenreichsten und tiefsten aller physischen Functionen hinleitet, zum Zeugungsacte. Damit eine derartige Rolle für die Poesie aber ermöglicht werde, ist es allererste Bedingung für den realistischen Dichter, sich über die näheren Puncte der physiologischen Basis des Liebesgefühls zu unterrichten. Nur eine strenge Beobachtung der Gesetze und Erscheinungen des Körperlichen in seinen verschiedenen Phasen kann zu neuen Zielen führen. Das erfordert freilich auch an dieser Stelle wieder harte Arbeit für den Poeten. Das leichte Fabuliren von den lustigen oder bösen Abenteuern verliebter Seelchen hört dabei auf, und der Dichter wird nothgedrungen sogar hin und wieder Pfade wandeln müssen, wo die landläufige Moral erschreckt zurückschaudert. Wer dazu nicht das Zeug in sich fühlt, der soll dem Liebesproblem fern bleiben; besser gar keine Liebesgeschichten mehr, als jene gefälschten; denn der Dichter mag lügen, wo er Lust hat – es ist alles harmlos gegen das Lügen auf erotischem Gebiete, dessen Folgen bei dem von Natur gesetzten Nachahmungs- und Gewohnheitstriebe des menschlichen Geistes unmittelbar in's practische Leben hineingreifen. Ich nehme keinen Anstand, zu behaupten, dass wir überhaupt eine erschöpfende dichterische Darstellung des ganzen normalen Liebeslebens in Weib und Mann von seinen ersten Keimen bis zur reifen Mitte und wiederum abwärts bis zum langsamen Versiegen im alternden Organismus in der gesammten Weltliteratur noch nicht besitzen. Zola hat in seinem geistvollen und tiefen Romane »La joie de vivre« wenigstens gelegentlich einmal den Versuch gemacht, an einem gesunden weiblichen Typus ein vollkommen plastisches Bild zu entwickeln; aber bei seiner Neigung für das Pathologische, die ihm nun einmal im Blute steckt, ist das Ganze nach meisterhafter Anlage schliesslich doch einseitig und ohne die natürliche Versöhnung ausgelaufen. Was ich fordere, ist noch weitaus mehr. Ich fordere neben vollkommen scharfer Beobachtung eine bestimmte Tendenz. Man rede mir nicht davon, die realistische Dichtung müsse sich ganz frei machen von jeder Tendenz. Ihre Tendenz ist die Richtung auf das Normale, das Natürliche, das bewusst Gesetzmässige. Die Poesie hat mit wenigen, allerdings sehr hoch stehenden Ausnahmen bisher zu allen Sorten abnormer Liebe erzogen. Sie muss in Zukunft versuchen, dem Leser gerade das Normale als das im eminenten Sinne Ideale, Anzustrebende auszumalen. Nur dann giebt es noch einen Aufschwung in der erotischen Poesie. Der vermessene Ausspruch muss mit Macht widerlegt werden: das Gewöhnliche, jene Liebe, die der einfache Spiessbürger auch erlebt, wenn er gesund ist, sei zu gering für den edeln Schwung der Poesie. Das ist die schwerste Unwahrheit, die je Geltung gewonnen hat in der Literatur. Ihre Folge ist gewesen, dass wir hunderttausend Bände über eine sentimentale, nervös überspannte Liebe und eben so viele über eine unter alles Natürliche herabgesunkene Liebe besitzen – eine Literatur voller Göttinnen und Cocotten, aber ohne Normalmenschen.