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Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie.

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Zweites Capitel.
Willensfreiheit

Ich will als Dichter einen Menschen, den ich in eine bestimmte Lage des Lebens gebracht habe, eine Handlung begehen lassen und zwar diejenige, welche ein wirklicher Mensch in gleicher Lage wahrscheinlich oder sogar sicher begehen würde.

Ich will als Kritiker einer Dichtung beurtheilen, ob eine bestimmte Handlung, die ein bestimmter Held dieser Dichtung unter bestimmten Umständen begeht, wirklich richtig, das heisst den Gesetzen der Wirklichkeit entsprechend, erfunden ist.

In beiden Fällen werde ich beim geringsten Nachdenken auf die allgemeine Frage der Willensfreiheit geführt.

Diese Frage aber ist weder eine dichterische, noch eine philosophische, sondern eine naturwissenschaftliche. In ihr kreuzen sich die sämmtlichen Grundfragen der wissenschaftlichen Psychologie, und sie ist meiner Ansicht nach die erste und wichtigste Frage, mit der sich die Prämissen der realistischen Poesie und Aesthetik zu befassen haben.

Die oberflächlichste Anschauung der wahren Dinge in der Welt lehrt, dass die menschliche Willensfreiheit nicht ist, was das Wort nahe legt: eine absolute Freiheit. Wir sehen nicht nur die Macht des Willens physikalisch beschränkt, sondern gewahren auch in dem eigenthümlichen Gefüge und Bau der Gedanken, die den Willen zu irgend etwas schliesslich als äussern Act entstehen lassen, beständig sehr eigenthümliche, subjective Factoren, die in uns sofort das Gefühl eines eingeschränkten Laufes der Gedankenketten entstehen lassen. Genau dieselbe Thatsache erweckt im Geiste verschiedener Menschen verschiedene Gedankenreihen, die oft den genau entgegengesetzten Willen hervorrufen. Eine unbewacht gelassene Casse ruft in einem Gewohnheitsdiebe den Gedanken und in directer Fortsetzung die Handlung des Stehlens, in einem seiner bisherigen Lebensbahn nach durchaus rechtlich gesinnten Menschen höchstens den Gedanken an eine Sicherung und Bewachung zur Verhütung eines Diebstahls hervor. Eine grosse Anzahl von Menschen ist zwar geneigt, gerade den Umstand hier für allgemeine Freiheit zu halten, dass der Eine so, der Andere anders handelt. Der Naturforscher wird sich sagen müssen, dass die gleiche äussere Sache nur einen verschiedenen innern Effect haben kann, weil sie offenbar in dem Innern der beiden geistigen Individuen auf eine ungleiche Disposition trifft, etwa wie in der Physik derselbe Funke, je nachdem er in eine Pulvertonne oder in ein Wasserfass fällt, sehr verschiedene Kräfte auslöst.

Damit ist ein erster, roher Anhaltspunct für die Auffassung psychologischer Vorgänge gewonnen. Wenn ich als Dichter Menschen in Berührung mit äusseren Erscheinungen bringe, so wechselt nicht nur der Wille in den Handlungen der Person je nach den äusser'n Impulsen, sondern er ist auch subjectiv bei den Einzelnen verschieden je nach der Disposition des Geistes, die der Impuls bei Jedem findet.

Die Physiologie giebt uns nun als nächsten Fortschritt über diesen ersten Punct weg die Thatsache an die Hand, dass jede Disposition des Geistes zugleich eine Disposition des stofflichen Untergrundes, des Gehirns, bedeutet.

Die Frage, in welchem Causalitätsverhältniss diese Doppelerscheinungen der geistigen und stofflichen Disposition unter sich wohl stehen möchten, ob der Geist als solcher existire oder bloss eine subjective Rückansicht desselben Dinges sei, das wir äusserlich als Stoff, respective mechanische Kraft uns gegenüber stellen, geht uns hier als eine erkenntniss-theoretische, wissenschaftlich nicht lösbare gar nichts an. Was wir mit Händen greifen können, ist das Zusammenfallen jeder psychischen Erscheinung mit einer molecularen, jedes Gedankens mit einem ganz bestimmten physiologischen Ereignisse innerhalb des nervösen Centralorgans. Dieses leugnen, hiesse rundweg das Gehirn leugnen und die ganze überwältigende Masse künstlicher wie unfreiwilliger Beeinflussungen des psychischen Apparats, die man bei vivisecirten Thieren und verwundeten oder gehirnkranken Menschen durch stoffliche Umwandlungen in der Gehirnmasse hat entstehen sehen. Die Thatsache steht also unbezweifelbar fest: wir können behaupten, wenn bei einer bestimmten Person ein bestimmter äusserer Impuls eine bestimmte Disposition im Gedankengange des Betreffenden vorfindet, so ist diese Disposition zugleich etwas Stoffliches, eine Curve, Furche, reihenweise Gruppirung kleiner Theilchen, Schwingung der Molecüle nach einer bestimmten Richtung oder was man sich sonst denken will in der greifbaren Masse des Gehirns. Das oben gebrauchte Beispiel mag das zur Deutlichkeit nochmals illustriren. Gleicher äusserer Impuls: eine offene Casse. Erfolg bei dem einen Menschen unmittelbar und ohne Wahl eine moralisch verwerfliche Gedankenkette, die endigt mit der Handlung des Stehlens, bei dem andern ebenso unmittelbar eine gute, die ausläuft in die Handlung des Bewachens. Grund: der erste Mensch ist gewöhnt, schlecht zu handeln, seine Gedankenkette schlägt sofort eine bestimmte Richtung ein, die körperlich einem durch Gewohnheit tief ausgefahrenen Geleise entspricht, in das ein neu ankommender Wagen stets mit mechanischer Nothwendigkeit wieder hineinrollt; umgekehrt bei dem gewohnheitsmässig moralischen Menschen geräth die Ideenverbindung unmittelbar in eine ganz entgegengesetzte Linie, die schliesslich den umgekehrten Effect auslöst.

Ich habe das Beispiel so nackt gewählt, wie möglich, – ohne jeden Conflict, was nicht ausschliesst, dass es täglich so vorkäme. Wer oft gestohlen hat, stiehlt wieder; wer in moralischem Denken aufgewachsen ist, kommt für gewöhnlich gar nicht auf den Gedanken, zu stehlen; die Ideenkette lenkt ohne Ablenkungen besonderer Art, die ich hier vernachlässige, stets in dieselben Geleise ein. Das Wort Geleise dürfen wir unbedenklich anwenden, da ja ein stofflicher Vorgang stets mit unterläuft. Geschaffen hat die Geleise, wie sich Jeder schon zur einfachsten Erläuterung dazu sagt: die Gewohnheit. Jede Minute unseres Lebens bringt uns Beweise dafür, – das Wort Gewohnheit, das uns beständig auf der Zunge schwebt, ist eben nur der Ausdruck des Factums, dass die mehrmals aufgestellten Gedankenketten sich ein derartig festes Bett in unserm Denkorgane graben, dass gewisse, nur entfernt daran gemahnende Impulse sie jedesmal mit zwingender Nothwendigkeit wieder hervorrufen und dieselbe Handlung als schliesslichen Effect daraus entstehen lassen. Je ausgefahrener die Geleise nach und nach werden, desto rascher und damit dem Bewusstsein desto undeutlicher saust der Gedanke hindurch, desto unmittelbarer lösen sich Impuls und Willenseffect ab, bis schliesslich der Gedanke gar nicht mehr bewusst wahrgenommen wird und die Handlung sich als rein mechanischer Reflex des Impulses darstellt, – Erscheinungen, die wir täglich am Menschen beobachten können und die beim Thiere, dem die wenigen Eindrücke seines Lebens durch ihre regelmässige Wiederkehr fast alle in der genannten Weise constant und zur Quelle reiner Reflexhandlungen werden, die Regel bilden.

Wenn es auf Grund eines ungeheuren Fortschrittes mikroskopischer Forschung möglich wäre, ein vollkommenes Bild eines beliebigen menschlichen Gehirns, das zu seinen Lebzeiten Gedanken gehegt hat, zu entwerfen, so würde man, wie immer das wahre Antlitz der Sache sich gestaltete, stets auf das schematische Bild einer Ebene kommen, die von Linien ungleicher Dicke durchkreuzt wird, von denen eine Anzahl nur matt angedeutet und halbverwischt, eine gewisse Zahl dagegen äusserst scharf und deutlich erschiene, und der Beschauer würde unmittelbar das Gefühl haben, dass es sich hier um ein Strassensystem handle, bei dem dasselbe obgewaltet, wie bei menschlichen Verkehrswegen: irgend ein äusserer Umstand hat mehrmals die Verkehrenden auf dieselbe Strasse geführt und, einmal ausgetreten, hat diese nun Alle, die nur entfernt nach derselben Richtung wollten, veranlasst, ihrer Linie und keiner andern zu folgen.

Thatsächlich sind wir ja so weit nicht. Das Gehirn, welches wir kennen, bietet uns, was das unmittelbare Sehen anbelangt, ungefähr so viel Anhaltspuncte zur Kenntniss seiner innern Processe, wie dem Astronomen die Oberfläche des Planeten Mars. Wir erkennen auf dieser Länder und Meere, Canäle, die das Festland durchschneiden, atmosphärische Vorgänge, Wolken, Schnee, Eismassen am Pol; das Alles aber kommt so wenig über den groben Umriss hinaus, dass Objecte von der Grösse der Victoria-Nyanza noch gerade als Puncte wahrnehmbar sind.

Unsere Anschauungen vom Wesen der ganzen Gedankenthätigkeit müssen wir, unfähig, die Maschine in ihre Rädchen auseinander zu nehmen und im todten Material zu studiren, abstrahiren aus dem Erfolge, aus der regelmässigen, positiv zu beobachtenden Wiederkehr gewisser gewohnheitsmässiger Gedankenreihen in uns selbst und den Handlungen, die wir täglich bei uns als Folgen dieser zwangsweisen Ideenketten wahrnehmen und bei Andern als solche voraussetzen dürfen. Immerhin ist diese Art der Beobachtung ein vollkommen guter Ersatz für jene.

Für die Freiheit des Willens, von der wir ausgegangen sind, ist jedenfalls – mögen wir nun physiologisch oder psychologisch zu unsern Resultaten gekommen sein – in dem Bestehen der durch Gewohnheit gegrabenen Gedankenstrassen ein bedenkliches Hinderniss gegeben. Der Wille ist Endergebniss eines nicht gestörten, bis zu einer gewissen Intensität angeschwollenen Gedankens, – wenn der Gedanke aber in seinem Flusse sich in den meisten Fällen einem gegrabenen Bette anschmiegen muss, so kann in allen diesen von einer Freiheit des endlichen Willens keine Rede mehr sein, und man braucht noch gar nicht auf jene oben erwähnten, ganz reflectorisch gewordenen Willensacte zurückzugehen, um auf Schritt und Tritt diesen einfacheren hemmenden Einflüssen zu begegnen.

Die wichtigste Frage scheint also, um hier Klarheit zu schaffen, die nach der Natur der Gewohnheit zu sein. Es gilt festzustellen, was sich unter diesem Begriffe, der die Willensfreiheit in so frappanter Weise bedroht, für einzelne Factoren verstecken und ob in dem einen Worte, das der Gebrauch selbst geschaffen, nicht Verschiedenartiges sich birgt. Gewohnheit ist, so haben wir physiologisch definirt, langsame Einprägung einer bestimmten Furche (psychologisch: Denkrichtung) im Gehirn, die durch eine längere Folge gleichartiger Wahrnehmungen erzeugt wird. Woher kommt eine derartige Gleichartigkeit der Wahrnehmungen? Zunächst aus der Einrichtung der Natur, die uns trotz der unendlichen Fülle ihrer Erscheinungen doch gewisse Phänomene in ewiger Regelmässigkeit wiederkehren lässt, die beständig gleiche Wahrnehmungen in uns hervorrufen. In zweiter Linie aber aus einem Umstande, der den Culturmenschen mit verschwindenden Ausnahmen fest und unerbittlich umklammert hält: der Erziehung. Wir sind nicht neu geschaffene Wesen, die bloss die Natur sich gegenüber haben. Wir gehören einer Gesellschaft an, die ebenfalls aus Menschen mit einem, dem unsern ähnlichen Denkapparate besteht. Wir sind jung, die Tafel unseres Gehirnes ist noch kaum beschrieben. Jene Menschen, die vielleicht unsere Erzeuger, jedenfalls als Erwachsene unsere Meister sind, sind in ihrem Denken bereits erfüllt mit jenen festen Linien, jenen Geleisen des Gewohnten, und sie fühlen sich wohl dabei. Ihr Bemühen geht dahin, in unser Gehirn dieselben Linien zu prägen. Unfähig, unmittelbar zu wirken, beschreiten sie den Umweg durch die wiederholten Wahrnehmungen, aber in der Weise, dass sie bestimmte Wahrnehmungen – eben jene, die ihren Gedankenlinien die bequemen sind – auswählen und uns so lange einseitig vorführen, bis sich in unserm Gehirn die gleiche Linie, wie bei ihnen, gebildet hat und wir ihre wahren geistigen Kinder sind. Mit andern Worten heisst das: wir erhalten die grosse Masse unserer gewohnheitsmässigen Gedanken durch Unterricht, durch Schulung. Der Werth dessen, was uns vermittelst derselben im Gehirn eingeritzt wird, ist dabei ganz gleichgiltig, es kann die höchste Moral oder die äusserste Unmoral sein: von einem gewissen Puncte ab ist die Gedankenübertragung gelungen, die Linie angelegt, und es bedarf fortan nur der leisesten Aehnlichkeit in einer Wahrnehmung mit jenen früheren, um sofort den ganzen Gedankenapparat nach der eingeprägten Richtung hin in Thätigkeit zu setzen.1

 

Je tiefer diese Schulung geht, je reflectorischer die Ideenlinien arbeiten, desto mehr scheinen sie später ursprünglich mit dem Individuellen verwachsen und erlangen in Wörtern, wie Gewissen, Tact und ähnlichen, Bezeichnungen, die uns im Leben sehr oft geneigt machen, sie angeborene zu nennen, obwohl sie allem Anscheine nach durchweg erworbene, von aussen eingeprägte sind.

Das Adjectivum »angeboren« aber, welches sich uns hier zwanglos in die Erörterung einmischt, führt uns unwillkürlich auf ein Zweites, das im Begriffe der Gewohnheit, wenn auch wahrscheinlich nicht dort, wo man es vermuthete, so doch anderswo steckt.

Ein Vogel, den man im Zimmer fern von Seinesgleichen aufgezogen, zeigt bei nahendem Winter ein Bestreben, zu wandern. Hier kann nicht mehr von individueller Aneignung, von einer durch Gewohnheit erzielten Gedankenlinie, in die jedesmal beim Anblick fallenden Laubes oder sonstiger Erscheinungen des Wechsels der Jahreszeiten der Gedanke einlenkt, um schliesslich den Willen des Wanderns auszulösen, die Rede sein. Eben haben wir gesehen, dass die Function, das beständige Wahrnehmen gleicher Dinge allmählich eine körperliche und geistige Disposition, ein Geleise gewissermassen, schafft, das dann beim Nachfolgenden wie ein Organ die Function bestimmt; bei diesem geborenen Zugvogel ist offenbar die Umwandlung einer bestimmten Stelle des Denkapparates schon bei der Geburt mit allen andern Organen, die im embryonalen Leben nicht durch, sondern für die Function entstehen, angelegt worden und tritt jetzt beim geringsten dahin zielenden Impuls mit voller Kraft in Thätigkeit, indem sie den Vogel zwingt, beim ersten Anzeichen des Herbstes – und sei es auch sein allererster, den er im individuellen Leben mitmacht – eine Gedankenreihe zu verfolgen, die ihm bei menschlich klarem Bewusstsein wie eine Vision vorkommen würde, indem er Bilder von einem warmen Lande, wohin er wandern soll, denkt, die keine eigene Erfahrung ihm eingeben kann.

Wir haben es hier mit einer Gewohnheit secundärer Art zu thun: – mit vererbten geistigen Linien. Jede geistige Gewohnheit bedingt etwas körperliches, einerlei, ob als Ursache oder als unvermeidliche Parallelerscheinung; dass körperliche Veränderungen sich vererben, wissen wir alle; es kann in Fällen wie dem genannten nicht anders sein, als dass sich hier eine Structurverschiebung des Gehirns, eine moleculare Disposition vererbt hat, deren unzertrennliche Begleiterin die psychische Erscheinung ist, die wir sehen. Zwischen dem Gehirn jenes Vogels und dem gewaltigen Verstandesapparate des Menschen aber besteht physiologisch wie psychologisch lediglich ein Unterschied des Grades, nicht der Art, – es fragt sich: spielen auch beim Menschen ererbte Gedankenreihen eine Rolle, die sich unter dem allgemeinen Worte »Gewohnheit des Denkens« verbirgt? Bei der ungeheuren Masse von Eindrücken, die der Mensch im Gegensatz zu den meisten Thieren während der Dauer seiner individuellen Existenz empfängt und die trotz aller Macht der Gewohnheit gerade auf den höheren geistigen Gebieten durchweg nicht reflectorisch werden, nicht ganz aus dem Bewusstsein verschwinden, scheint es von vornherein nicht wahrscheinlich, dass hier sehr viel vererbt werden sollte. Jedenfalls bestätigt die Erfahrung, dass Vererbung überwiegend dann stattfindet, wenn gewisse Gedankenketten über das gewöhnliche Mass hinaus sich eingebohrt haben, also beispielsweise bei einseitigem Genie, bei krankhaft eingewurzelten fixen Ideen, also fast oder ganz abnormen Zuständen, – und es scheint selbst hier, als vererbten sich nicht eigentliche Gedankenlinien, sondern nur gewisse Stimmungen des Untergrundes, wenn ich so sagen soll, gewisse Weichheiten oder Härten der Fläche, die den später durch Erziehung herantretenden Geleisen einen ungewöhnlichen Widerstand oder ein ungewöhnliches Entgegenkommen bewiesen. In der Empfänglichkeit des Gehirns für einzugrabende Linien überhaupt liegt ganz unbezweifelbar die eigentliche grosse Erbschaft, die der Mensch, der als solcher geboren wird, vor dem Thiere voraus hat; wer das exact beobachten will, vergleiche ein lernendes Kind mit einem lernenden Papageien. Wahrscheinlich ist dem Vogel der absolute Fortschritt gerade deshalb so erschwert, weil sein Gehirn von Jugend auf mit einer Reihe ererbter Linien (Instincte nennt es ein geläufiges Wort) durchsetzt ist, die den Boden hart gemacht haben für alles Neue; die wenigen ererbten Geisteslinien des Menschen, der Mangel an Instincten, wäre im Lichte dieser Anschauung dann vielleicht die Wiege seiner geistigen Entwicklungsfähigkeit, indem es ihm die Tafel für das Lernen frei hielte. Dass darum gewisse Instincte, ganz oder beinah reflectorische Geisteslinien, auch beim Menschen und zwar bei allen ohne Ausnahme als Erbe früherer, mehr thierischer Verhältnisse sich – wenn auch bisweilen gleichsam verschüttet und von den tausend Erziehungslinien überdeckt – vorfinden, ist nicht zu leugnen. Stark erregte Momente, Revolutionen, Hungersnoth, beständiger Anblick von Blut, sexuelle Ueberreizung lassen diese Instincte gelegentlich in roher und erschreckender Weise durchbrechen, und der Mensch handelt in solchen Momenten im Banne einer dämonischen Gehirnmacht, einer entfesselten psychisch-molecularen Bewegungswelle, die unvergleichlich mächtiger fortreisst, als alle individuell durch Erziehung erworbenen Moral- oder Unmorallinien, er handelt mit dem Instincte von Thierformen, die weit unten an der Schwelle des Menschlichen stehen und für uns nur noch in analogen Erscheinungen der jetzigen höheren Säugethierwelt zu studiren sind. Der Dichter, wie der Historiker müssen gerade diesen geheimnissvollen Vererbungslinien, deren Rolle im einzelnen Leben wie in der Geschichte sehr gross ist, mit Interesse nachgehen. Wünschen möchte man, dass gewisse dauernde Errungenschaften der menschlichen Cultur – beispielsweise die Basis der Moral, das Mitleid – mit der Zeit bereits reine Instincte geworden wären, die der Einzelne mit auf die Welt brächte. Man ist mitunter versucht, dergleichen zu glauben. Wenn ein Mensch, ohne eine Secunde zu zögern, einem Kinde, das in's Wasser gefallen ist, nachspringt und es rettet, so scheint hier eine Geisteskette vorzuliegen, die bereits ganz reflectorisch wirkt und wohl als solche vererbt werden könnte.

Die Erfahrungen, die man andererseits an Kindern macht, die aus besten Bildungskreisen entspringen und doch, ehe sie durch Zucht selbst gebildet sind, nichts bethätigen als die alten thierischen Instincte, die mit ihrem roheren Egoismus dem Mitleid gerade zuwider laufen, verhindern alle derartigen optimistisch gefärbten Schlüsse.

Beschränkt, wie unsere Kenntnisse von dem ganzen Gewebe der Vererbungsfragen gegenwärtig noch sind, müssen sie dem Dichter, der in ihnen das Material tragischer oder versöhnender Verknotungen sucht, eine starke Resignation und scharfe Kritik als Grundbedingung an's Herz legen. Rechnen soll er mit der Vererbungsfrage als Ganzem, das ist sicher. Aber er soll nicht spielen damit, sich nicht muthwillig auf Gebiete begeben, die der Fackel des Forschers selbst noch verschlossen sind. Die Zukunft wird erst zeigen können, wie eigentlich diese Dinge eingreifen in's Leben des Einzelnen, wie die Sünden und Vorzüge der Ahnen sich unmittelbar im Gehirne des Enkels rächen. Immerhin mag heute schon der grandiose Romancyklus von Zola eine durchdachte Vorahnung für das Kommende darstellen. Wenn man sich aber vergegenwärtigen will, welche zahllosen dichterischen Vorwürfe in dem Spiel der Ideenketten, an die Schule und erste Bildung uns schmieden, enthalten sind, so kann man im Grunde nur warnen vor dem einseitigen Betonen der Vererbungsconflicte, so lange die Physiologie noch nicht in festen Gesetzen die nöthigen Prämissen aufgestellt. Man soll sie beachten, wo man durch den Stoff nothwendig auf sie geführt wird, aber sie noch nicht in den Vordergrund drängen, wo es nicht durchaus nöthig ist.

Die indirecte Vererbung, das unbrauchbare Alte, das uns in unserer Bildung, durch unsere Umgebung allenthalben belastend in's Gehirn gegraben wird, tausend begabte Köpfe im Kampfe mit dem lebendigen Neuen zu Tode hetzt, uns als unechte Religion, veraltete Moral, conventioneller Humbug, historische Entartung und was sonst noch alles, den Geist trübt und für die Ziele der Gegenwart blind macht: das ist durchschnittlich weit gefährlicher, als die dunklen chemischen und physikalischen Mächte, die hier oder dort eine Familie in allen Phasen des Wahnsinns untergehen lassen oder an den geschlechtlichen Fähigkeiten eines unschuldigen Nachkommen die sexuellen Verrücktheiten des Urgrossvaters rächen. Es sind harte, unerbittliche Gesetze im Einen, wie im Andern, aber im letztern Falle haben sie mehr von jener dunklen Tragic, die allem Geschehen der Natur geheimnissvoll zu Grunde liegt, im ersteren sehen wir den Kampf menschlich lebhafter und näher vor Augen, wir fühlen die Schmerzen, wie die Triumphe innerlich blutiger und siegesstolzer mit, weil wir mehr verstehen und stärker durchfühlen, dass die Sache auch einmal anders werden könnte durch unser Zuthun.

Ich kehre zur eigentlichen Frage zurück. Gewohnheit umschliesst, so haben wir jetzt gesehen, zweierlei: Ererbtes und Erworbenes. Da das Letztere wenigstens beim normalen Culturmenschen mit zunehmendem Alter unausgesetzt wächst, so gleicht das Gehirn dieses Menschen schliesslich einer über und über beschriebenen Tafel, auf der sich gewisse Striche mehr und mehr verdickt haben, und die am Ende gar nichts ganz Neues mehr aufzunehmen im Stande ist, so dass der Geist wie ein geschickter Seiltänzer mehr oder weniger nur noch die vorgeschriebenen Stangen abklettert, je nachdem dieser oder jener äussere Anlass bei einer der ewig bereiten Endstationen anklopft.

 

Eigentliches Leben in dieses an und für sich sehr einfache Gedankenspiel bringt aber nun eine Thatsache, die ich bisheran absichtlich vernachlässigt habe. Was wir durch Unterricht (sei es nun unmittelbarer durch das Leben oder mittelbarer in der Schule) an festen Gedankenlinien eingeprägt bekommen, steht weder immer im Einklange untereinander, noch mit dem, was durch die Vererbung an allgemeinen Instincten oder individuellen Neigungen in uns bereits bei der Geburt befestigt ist. Mit andern Worten: jene constanten Linien im Denkorgan kreuzen, hemmen, verwickeln sich vielfach, wodurch die einfachen Denkprocesse, die durch die Möglichkeit des Eingrabens fester Linien so bequem und bis zur Grenze des Reflectorischen glatt gemacht wurden, wiederum recht erschwert werden. Ich sehe ab von ganz krankhaften Erscheinungen. Man hat Fälle, wo eine Gedankenlinie eines Menschen von einem gewissen Puncte ab, ohne dass er sich dessen bewusst wurde, in eine ganz andere überging, so dass beim Versuche, den Gedankengang wieder zu geben, von einer Ecke ab jedesmal die Begriffe wie vertauscht waren. Hier waren offenbar zwei Linien in abnormer Weise verschmolzen, ein hochinteressanter, aber lediglich psychiatrischer Fall.

Ich will jetzt versuchen, an einem consequent durchgeführten Beispiele genau den normalen Fall von sich widersprechenden Gedankenlinien aufzudecken. Es ist das um so wichtiger, als man gerade hier, im Widerstreite der Gedankenlinien, den schärfsten Beweis für eine metaphysisch beeinflusste Willensfreiheit zu finden geglaubt hat.

Ich nehme an, einen Menschen trifft ein äusserer Sinneseindruck, – etwa der Anblick einer schönen Frau, die das Weib eines Andern ist, also ein Sinneseindruck, den das Auge in's Gehirn übermittelt, der dort zur geistigen Wahrnehmung wird und als solche gewisse Gedanken erregen muss, deren Lauf durch die vorhandenen Gewohnheitslinien bestimmt wird und deren endliches Resultat bei genügend starker Erregung ein Willensact, eine Handlung ist. Der Anblick einer körperlich reizenden Frau erweckt im Manne nothwendig zunächst die Gedankenketten, die um das Geschlechtliche gelagert sind. Diese können aber sehr verschiedener Art sein, von dem einen örtlichen Centrum können Furchen ganz entgegengesetzter Richtung und Tiefe ausstrahlen. Nehmen wir den Fall eines Menschen, der gar keine Bildung genossen hat, aber auch, vielleicht weil er eben erst geschlechtsreif geworden ist, im Bezug auf das Geschlechtliche noch durchaus keine feste Gewohnheitsfurche im Gehirn trägt. Bei ihm wird der erste Gedanke höchstwahrscheinlich die Vererbungsfurche, die den instinctiven Fortpflanzungstrieb als uraltes Erbe stets neu zeitigt, einschlagen, ein Kampf ist ausgeschlossen, da nur diese einzige Linie vorhanden ist, aber der aus der angeregten Gedankenkette hervorgehende Wille wird etwas Unklares, Reflectorisches haben, das sich dämonisch Bahn bricht, aber dem Bewusstsein selbst fast ganz entzogen ist.

Zweiter Fall: der Mensch ist ein geübter und geriebener Don Juan. Im Worte liegt schon enthalten, dass bei diesem Typus sich in der für das Geschlechtliche reservirten Gegend des Gehirns nicht bloss die instinctive Vererbungs-Furche, sondern daneben noch eine sehr tief ausgefahrene Aneignungs-Furche, ein durch Gewohnheit individuell scharf eingepflügtes Geleise findet, das beim Anblick des schönen Weibes eine grosse, aber dem Bewusstsein noch durchweg zugängliche Gedankenkette durchpassiren lässt, als deren Resultat ein sicherer, auf hundert Erfahrungen gestützter Wille entsteht, – der Wille zur Verführung, der Wille zum geschlechtlichen Genuss, – im Princip derselbe Wille, wie bei dem ersten Menschen, nur unendlich bewusster und dauernder. Ein Conflict findet – moralische Bildung bei dem Typus des Don Juan ausgeschlossen – auch hier nicht statt, die Wahrnehmung erregt nur eine einzige Ideenkette, die als Endresultat nur einen Willen kennt.

Der dritte Fall aber, an den ich jetzt herantrete, ist der weitaus interessanteste, dichterisch jedenfalls der werthvollste. Ein Mensch soll eine ordentliche moralische Bildung genossen haben, dabei aber dem Geschlechtlichen nicht so fern geblieben sein, dass es nicht auch, abgesehen von der stets vorhandenen ererbten Linie, eine gewisse Spur in seinem Gehirn zurückgelassen hätte, die im Stande wäre, den Gedanken bei völliger Unbeeinflussung in Don Juanartige Gelüste zu treiben. Eine Disposition, wie diese, ist unter allen die verbreitetste. Ihr Ergebniss ist im vorliegenden Falle ein innerer Kampf. Die Wahrnehmung erweckt zwei Gedankenlinien, die moralische und die schlechthin sexuelle, von denen die eine als Endergebniss einen Willen erzeugen muss, der dem der andern durchaus entgegengesetzt ist. Die Moral verbietet, was die geschlechtliche Neigung verlangt. Beide Gedankenketten erscheinen vor dem Bewusstsein, – eine freie Wahl ist diesem aber absolut versagt; es steht als indifferenter Zuschauer vor dem Kampfe der Gedanken um den Willen. Nur ein Wille kann als Endresultat hervortreten. So lange beide Ideenketten vollkommen gleich stark sind, heben sie sich gegenseitig im Puncte des Willens auf wie Plus und Minus. Rollt der eine Gedankenzug glatt durch sein Geleise bis zur Willensstation, so ist inzwischen der andere ebenso glatt dort angekommen und die Beiden verschliessen sich gegenseitig den Ausgang. Die Entscheidung, welche Linie siegt, kann sehr lange ausstehen. Ueber ihre Veranlassung herrschen vielfach die irrigsten Vorstellungen. Man denkt sich unwillkürlich, das Bewusstsein selbst, welches doch keinerlei mechanische Macht besitzt, könne durch einen metaphysischen Druck diesen oder jenen Willen zum Durchschlag bringen. Das wäre die reinste Hexerei. Die Entscheidung kommt vielmehr daher, von wo überhaupt alles Motorische nur kommen kann: von aussen, durch neue Wahrnehmungen, die während der Hemmung jener beiden Ketten in's Gehirn eintreten. Es fragt sich bei diesen, in welche der beiden Linien sie einlenken. Sind es zufällig sexuelle Eindrücke, die mit dem Streite sonst nichts zu schaffen haben, aber nothwendig in die geschlechtliche Linie gerathen, so graben sie dort die Furche ebenso nothwendig ein Minimum tiefer, und dieses Minimum genügt, grob sinnlich gesprochen, um dem sexuellen Gedankenzuge im Wettlaufe zum Willensziel einen Vorsprung zu geben und damit das Resultat zu entscheiden. Umgekehrt: nahen sich zufällig bei schwebendem Streite neue, moralische Wahrnehmungen, so siegt die Moral auch in jenem offenen Falle. Unendlich geringe Factoren haben hier die weittragendste Bedeutung. Ein zufälliges Wort, ein lebhaftes Erinnerungsbild, der Anblick irgend einer Situation, die unmittelbar alle nicht das Mindeste mit dem obwaltenden Gedankenzwist in der kritischen Sache zu thun haben, entscheidet mit mathematischer Gewissheit über den Sieg. In mancher bedeutenden Dichtung will es uns bei oberflächlicher Betrachtung fast störend und unlogisch erscheinen, dass lange Seelenkämpfe plötzlich durch einen vielleicht sehr geringfügigen äusserlichen Umstand zur jähen Entscheidung gebracht werden. Wer sicherer beobachtet hat, sieht gerade hierin den echten Spiegel des Wahren, und er wird in der Wahl jenes scheinbar geringfügigen Umstandes bei schärferem Hinblick stets etwas entdecken, was indirect einem der streitenden Gedanken des Helden nicht zufällig, sondern nothwendig den Sieg verleihen musste, selbst wenn es gar nicht direct an die Objecte des Seelenkampfes heranreichte. Es ist nichts weiter als der Tropfen Oel, der die eine Wagenaxe in der Arena geschmeidiger macht; aber dieser Tropfen ist die weihende Spende der Nike.

1Sehr lehrreich für das ganze Gebiet der Gedankenübertragung sind die hypnotischen Experimente, die gewiss auch für den Dichter ein gewisses Interesse haben müssen. Ganz energisch aber ist zu verlangen, dass jeder Verwerthung derartiger Erscheinungen ein kritisches Verständniss und Studium vorausgehe. Es handelt sich hier durchaus nicht um ein Stück jener behaglichen Mystik, bei der alle Menschen, denen einmal etwas Unerklärliches vorgekommen, den Beruf fühlen, mitzusprechen, sondern um exacte wissenschaftliche Gegenstände, die, eben weil sie von der grössten Tragweite sind, auch die vorsichtigste Behandlung erfordern. Wen der Schleier des Unbegreiflichen allein verlocken sollte, der wird bei sorgfältiger Kenntnissnahme dann schon von selbst merken, wie wenig seine Neugier belohnt wird.