Schöne Ungeheuer

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SECHS

Bei der Zugfahrt nach Linz am folgenden Tag blätterte ich das Dossier noch einmal durch. Doch ich war unkonzentriert, mein Blick rutschte ab und blieb auf meinen ungeputzten Schuhen hängen. Mit einem Papiertaschentuch beseitigte ich die gröbsten Schmutzreste.

Vom Bahnhof zum Landesgericht nahm ich die Straßenbahn. Die Landstraße war von Menschenmassen verstopft, als stünde Weihnachten kurz bevor. Am Taubenmarkt stieg ich aus und spazierte den Graben entlang in die Museumstraße. Auf einem hässlichen dreigeschossigen Gebäude fand ich die Aufschrift Landesgericht Linz Staatsanwaltschaft Linz. Die Fenster der oberen Stockwerke wurden von dreieckigen Giebeln gekrönt, vom Dach bis zu den Torbögen verliefen abgeflachte Wandpfeiler. Es war genau die Art von Klassizismus, die mich stets einschüchterte und Fluchtreflexe in mir auslöste. Möglicherweise lag es aber auch nur daran, dass mir mein Auftrag, je näher ich dem Gebäude kam, desto idiotischer erschien. Warum um alles in der Welt hatte ich mich darauf eingelassen?

Blick auf die Uhr: Ich war zu früh. Also machte ich kehrt, überquerte die Straße und ging in den Park des Landesmuseums, das dem Gericht gegenüberlag. Hier fühlte ich mich schon wohler, obwohl auch dieser Bau nicht gerade ein architektonisches Glanzstück war. Doch auf der ungemähten Wiese zwischen den Bänken blühte es wild blau und rot durcheinander, das Summen der Bienen erfüllte die Luft und es roch nach den Frühlingsausflügen meiner Kindheit.

Ich wollte mich setzen, da sah ich das Schild auf der Rückenlehne. Nur für Artgerechte stand da. Einen Augenblick lang war ich entsetzt: Sollte die oberösterreichische Politik tatsächlich schon so – dann begriff ich und atmete auf. Ein Kunstprojekt, natürlich. Andere Banklehnen trugen die Aufschriften Nur für Alleinerzogene oder For German Speaking Only. Wo solche Schilder stehen, dachte ich, da lass dich ruhig nieder.

Mitten im Park stand eine Bronzeplastik, ein Monolith mit kleinen runden Aussparungen, durch die man auf die üppig wuchernden Büsche dahinter blicken konnte. Ihr Titel gefiel mir – Große Weltlochwand. Ich verband ihn sofort mit dem Krater, den so viele Forscher vergeblich gesucht hatten: Das große Weltloch in der sibirischen Einöde.

Weshalb ich so oft auf die Uhr schaute, weiß ich nicht. Es gab keinen Grund zur Nervosität. Was sollte mir schon passieren? Wenn das Gespräch unerfreulich verlaufen sollte, hätte ich wenigstens einen Grund, aus Herberts Aufdeckungsprojekt wieder auszusteigen.

Um fünf vor drei erhob ich mich und ging ein paar Schritte zum Haupteingang des Museums. Auf einer Säule entdeckte ich unter dem Hinweis Kulturdenkmal eine aufgesprühte Warhol-Banane. Mit Sunday Morning im Ohr verließ ich den Park und beschloss, Linz von nun an sympathisch zu finden.

Es war exakt 15 Uhr, als Frau Dr. Eva Mattusch aus dem Gebäude trat. Ich hielt mich zurück, stürzte nicht gleich auf sie los, um ja nicht den Eindruck zu erwecken, dass ich ihr Gesicht schon gegoogelt hatte. Mein Blick schweifte herum, blieb manchmal kurz an ihr hängen, schweifte weiter. Tatsächlich sah sie nicht so aus wie auf ihren Bildern im Netz. Von Business-Kostüm keine Spur. Sie trug eine nicht mehr ganz neue Jeansjacke, die Haare hatte sie sich mit einem orangefarbenen Tuch nach hinten gebunden, dessen lose Enden ihr über den Rücken fielen. Auch die weißen Turnschuhe, sicher ebenfalls keine Neuerwerbung, überraschten mich. Sie kam auf mich zu, streckte mir die Hand entgegen und sagte fröhlich: „Ich denke, Sie suchen mich. Georg Hollaus, nicht wahr?“

Ich schüttelte ihre Hand und nickte.

Mit einem Mal begann sie zu lachen und fächerte sich dabei mit den Fingern Luft zu wie ein junges Mädchen.

„Verzeihen Sie bitte“, sagte sie, nachdem der Heiterkeitsanfall abgeebbt war, „aber ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.“

„Wie denn?“ Blitzschnell blickte ich nach unten und scannte meine Kleidung. Grafitfarbener Anzug, hellblaues Hemd, passende Krawatte. So ungefähr sollte man doch aussehen, wenn man eine Anwältin traf, oder?

„Na ja“, gluckste sie, „nicht so … so seriös.“

„Warum nicht?“

Jetzt hatte sie sich wieder gefangen. „Sie sind doch der Tunguska-Mann, oder nicht?“

Ich spürte, wie eine mir vertraute Wut nach oben stieg und eine sanfte Röte sich auf meine Wangen legte.

„Ich weiß nicht, ob mir diese Bezeichnung gefällt.“

Eva nahm meinen Arm und zog mich vom Eingang des Landesgerichts weg.

„Kommen Sie, gehen wir auf einen Kaffee. Den hab ich heute nötig.“

Wir schlenderten den Weg zurück, den ich gekommen war, querten den Taubenmarkt, folgten einer Straße, die den glamourösen Namen Promenade trug, und blieben vor einem Kaffeehaus stehen, dessen Gastgarten durch eine beige Markise vor der Sonne geschützt wurde. Die Terrasse war voller Menschen, doch Eva entdeckte ein leeres Tischchen und schob mich darauf zu.

„Hier gibt es den besten Espresso der Stadt!“, sagte sie.

Wir nahmen Platz, und binnen Sekunden stand ein Ober neben uns. Nein, neben Eva. Er schenkte ihr sein strahlendstes Lächeln, mich würdigte er keines Blickes.

„Also“, fragte Eva, nachdem wir bestellt hatten, „wie läuft es denn so mit Tunguska?“

„Beginnen wir doch anders“, entgegnete ich. „Erzählen Sie mir einfach alles, was Sie schon wissen. Dann langweile ich Sie nicht.“

Sie schmunzelte. „Na gut. Viel ist es nicht. Herbert sagt, Sie hätten ein ungewöhnliches Hobby.“

Da war es wieder, dieses Wort. Unwillkürlich schloss ich die Finger meiner linken Hand zu einer Faust. Eva sah es und reagierte sofort.

„Auch wenn Sie selbst es lieber anders nennen würden. Eine Leidenschaft vielleicht?“

Die Muskeln meiner Hand lockerten sich wieder.

„Jedenfalls schreiben Sie doch an einem Buch, nicht wahr? Den Titel finde ich wunderschön: Tunguska oder die Schönheit des Irrtums.“

Jetzt schnellte mein Oberkörper in die Höhe, die Knie drückten sich durch wie bei einem Skispringer an der Schanzenkante, meine Hände klammerten sich an den Rand des Tischchens.

„Den Titel hat er Ihnen auch –?“ Ich stockte. Wurde mir schlagartig meiner unpassenden Körperhaltung bewusst und setzte mich wieder hin.

Mit beruhigender Stimme, so wie man auf einen Verrückten einredet, sagte Eva:

„Seien Sie ihm nicht böse deswegen. Er hat ihn mir nur deshalb anvertraut, weil er so begeistert davon ist. Wie ich. Ein Buch mit diesem Titel würde ich gerne lesen.“

„Begeistert? Von etwas, das nicht er selbst gemacht hat?“ Ich bemerkte, dass meine Stimme kippte, und riss mich zusammen. Hände flach auf die Oberschenkel legen, langsam und bewusst atmen!, hätte Manfred gesagt. Manfred, der Meister der Selbstbeherrschung. Langsam kroch ein Gedanke in mein Bewusstsein, von irgendwo ganz unten: Ich konnte die meisten Menschen nicht ausstehen. Genau genommen nicht einmal Helga. Geliebt hatte ich sie, ja, besonders am Anfang und gegen Ende, aber gemocht? Gerngehabt? Würde man die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu Rate ziehen, konnte das Ergebnis nur sein: Es muss an mir liegen. Ich gebe es zu! Aber ich will jetzt kein Wort über meine Kindheit hören!

Frau Doktor Mattusch hatte die äußeren Erscheinungsformen meines inneren Kampfes ruhig betrachtet, mit locker vor der Brust verschränkten Armen. Sie trank einen letzten Schluck Espresso, drehte dann die Tasse um und hielt sie sich über den geöffneten Mund, als wollte sie sichergehen, dass sie keinen einzigen Tropfen vergeudet hatte. Eine Geste, die ich lange nicht mehr bei einem erwachsenen Menschen beobachtet hatte. Dann beugte sie sich über den Tisch und schob ihre Hände in meine Richtung, ohne mich zu berühren.

„Wie weit sind Sie denn schon mit Ihrem Buch?“

Mit offenem Mund atmete ich lange ein. Stieß dann die Luft wieder aus, mit einem rasselnden Geräusch. Erst dann war ich bereit für einen bedeutungsschweren Satz:

„Reden wir bitte von etwas anderem.“

Eva schaute mich kurz prüfend an, wischte sich mit der Serviette über den Mund und sagte dann, als verkünde sie das Urteil der Geschworenen nach langwierigen Verhandlungen:

„Einverstanden. Und worüber?“

„Darüber, was Sie mit Herbert Schiller zu tun haben.“

Sie lehnte sich zurück. Wieder die spöttische Miene.

„So feinfühlig, wie ich befürchtet habe, sind Sie also gar nicht. Sie haben durchaus ein Talent für Verhöre.“

Touché. Darauf fiel mir nichts ein. Ich senkte den Kopf. In meinem Nacken spürte ich kalte Tropfen. Ich wischte sie mit meiner Serviette weg, aber sofort waren sie wieder da. Konnte ich so stark schwitzen? Hier stimmte etwas nicht.

Ich schaute zu Eva. Sie kämpfte mit einem Lachanfall, zum zweiten Mal heute. War ich hier der Clown vom Dienst?

„Das sind Wassersprühdüsen“, kicherte sie. Ich verstand kein Wort.

„Eine geniale Erfindung.“ Sie zeigte auf ein silbernes Röhrchen, das hoch über mir aus der Außenwand des Hauses ragte. In der Tat schossen aus der Mündung feine Fontänen direkt in mein Genick.

„So kann man es selbst im Sommer hier aushalten.“ Sie winkte dem Ober, nein, sie hob einen Finger, und er war schon da.

„Das Übliche?“, fragte er. Sie schloss nur kurz die Augen. Er verschwand mit einer Bewegung, die man früher einen Diener genannt hätte.

„Ich hab ihn einmal wo rausgeboxt.“

„Den Ober?“

Dieses Mal kontrollierte sie sich. Stoppte das Lachen irgendwo zwischen Brustkorb und Kehlkopf. Blieb ernst.

„Nein. Herbert. Haben Sie Ihre Frage so schnell vergessen?“

 

Ja, Herbert, genau, Herr Schiller, der Großmogul des Marketing, und diese Rechtsanwältin, die eben ihre Jeansjacke auszog, über die Stuhllehne hängte und damit den Aufdruck einer gefiederten Schlange auf dem Ärmel ihrer Bluse bloßlegte – was konnten sie miteinander zu tun haben? Es fiel mir nicht schwer, mir Dr. Eva Mattusch vor Gericht mit roten Boxhandschuhen vorzustellen. Ich sah sie vor mir, wie sie dem Richter die Faust entgegenstreckte und ihm prompt die Perücke verrutschte. Trugen Richter heutzutage noch Perücken?

Einen Schluck Espresso hatte ich noch. Konzentriert trank ich ihn. Drehte die Tasse nicht um. Ab jetzt ging es um Seriosität.

So beiläufig wie möglich fragte ich:

„In welcher Angelegenheit?“

Eva wartete eine Weile, dann machte sie eine Art Robert-De-Niro-Gesicht und zeigte mit dem Finger auf mich.

„Sie sind gut! Aber Sie glauben doch nicht, dass ich Ihnen das erzähle.“

„Natürlich nicht.“

Sie musterte mich ein paar Sekunden. Schien mit sich zu ringen.

„Also gut“, sagte sie schließlich. „Nur, damit hier keine falschen Vorstellungen aufkommen. Es war weit weniger dramatisch, als Sie denken. Ich war seine Scheidungsanwältin.“

„Seine was?“

„Hat er Ihnen nie von seiner Scheidung erzählt?“

„Nein.“

„War eine ziemlich langwierige Sache. Hat ihn sehr mitgenommen.“

Vor mir hatte er das gut verborgen. Dafür war ich ihm jetzt dankbar. Und dennoch: Vielleicht hätte ich ihm ja helfen können? Es gab Zeiten, da haben wir auch über persönliche Dinge geredet. Da war sie wieder, die leichte Melancholie, die mich befiel, wenn ich an unsere Vergangenheit dachte. Und die Wut über die Gegenwart.

„Überzeugt Sie meine Antwort nicht?“

„Doch, schon. Ich wundere mich nur, weil …“

„Weil?“

Ich zögerte.

„Herbert hat mir gegenüber angedeutet, dass Sie ihm einen Gefallen schuldig seien.“

Das war zu viel, ich registrierte es sofort. Augenblicklich schämte ich mich.

Doch Eva legte nur den Kopf ein wenig schief und begann zu lachen.

„Das kommt vor. Er verwechselt manchmal die Personalpronomina.“

Ich lachte mit und bewunderte sie im Stillen dafür, wie sie die peinliche Situation gerettet hatte.

Das Übliche war ein riesiger Erdbeerbecher, den der Ober vor Eva auf den Tisch stellte.

„Also, fangen wir an.“ Sie nahm den langen Eislöffel und begann genüsslich, das Schlagobers Schicht für Schicht abzutragen.

„Sie haben sicher auch Fragen, die meine Klientin betreffen.“

„Ich verstehe so vieles nicht. Diese Frau, Jelena Karpova, hat doch gestanden, ihren Kollegen erstochen zu haben.“

„So ist es.“ Eva schob sich eine große Erdbeere in den Mund.

„Und Sie sind angetreten, sie zu verteidigen.“

Sie nickte.

„Aber was ist Ihre Strategie? Ich meine, wenn sie sich schuldig bekennt, worauf plädieren Sie? Mildernde Umstände?“

„Es gibt viele Ungereimtheiten. Sie weigert sich strikt, über ihre Motive zu sprechen. Ich habe schon mehrmals auf sie eingeredet, ihr erklärt, dass sie dem Gericht sagen muss, wenn sie erpresst wurde oder sich bedroht gefühlt hat. Doch sie schweigt. Was bleibt, sind die Widersprüche zwischen Indizien und Geständnis.“

„Vielleicht, weil es nichts dergleichen gegeben hat? Nur einen kaltblütigen Mord?“

Eva schnappte sich den Strohhalm und sog die letzten Tropfen Erdbeerlikör aus dem Becher.

„Dieser Frau traue ich nicht einmal zu, eine Ratte abzustechen.“

„Doch aus welchem Grund sollte sie für eine Tat, die sie nicht begangen hat, freiwillig für Jahrzehnte ins Gefängnis gehen?“

Den Becher drehte Eva nicht um, sie schob ihn einfach von sich weg.

„Das genau versuche ich herauszufinden.“

„Und welches Interesse haben Sie, mich da mit hineinzuziehen?“

„Sie kennen doch Herbert und seinen berühmten Riecher für große Geschichten?“

„Mehr als mir lieb ist.“

„Nun, Jelena Karpova ist eine Koryphäe auf ihrem Gebiet. Ein Wunderkind. Sie war bei der Entdeckung des Higgs-Teilchens dabei und ihre Publikationen werden weltweit zitiert.“

„Und wie komme ich da ins Spiel?“

„Herbert meint, Sie seien ein ausgezeichneter Wissenschaftsredakteur. Weder der Untersuchungsrichter noch ich verstehen etwas von Karpovas Fachgebiet. Wir können gar nicht die richtigen Fragen stellen.“

„Aber offensichtlich geht es doch nicht um die richtigen Fragen. Sie will keine Antworten geben, das ist das Problem.“

Eva massierte mit Daumen und Zeigefinger ihre Augenlider.

„Sie haben natürlich recht: Es ist gut möglich, dass wir gar nichts erreichen.“

„Sag ich doch.“

Sie hob den Kopf und schaute mich an:

„Aber versuchen müssen wir es. Es ist mein Job, ihr zu helfen. Und Sie sind meine letzte Option.“

„Weshalb ausgerechnet ich?“

„Ich habe viel versucht. Verschiedene Wege, die üblichen Methoden. Ohne Erfolg. Jetzt hege ich die Hoffnung, dass wir hinter die Wahrheit dieses Falls gelangen, wenn wir mit Jelena auf einer fachlichen Ebene in Verbindung treten können.“

„Sie überschätzen mich.“

„Kann schon sein. Den Versuch ist es mir wert.“

„Warum will sie überhaupt mit mir reden?“

„Das wissen wir ja noch nicht.“

Ich verstand nicht.

„Warum wissen wir –“

„Ich habe sie noch nicht gefragt. Ich brauche natürlich ihre Einwilligung.“

„Sie haben sie noch nicht … Ich dachte, sie hat schon …“

„Zugestimmt? Nein. Ich wollte zuerst Sie kennenlernen.“

Ich begriff nur langsam, wie meistens.

„Dann war unser Gespräch also eine Art Prüfung?“

„Wenn Sie so wollen. Und ob es Ihnen gefällt oder nicht: Sie haben bestanden.“

„Und wenn der Prüfling gar nicht bestehen will?“

„Kommen Sie, Sie müssen doch zumindest ein bisschen neugierig sein. Sonst würden Sie gar nicht hier sitzen.“

„Ich sitze hier“, sagte ich trotzig, „weil meine Zeitung mich dazu gezwungen hat.“

Eva seufzte und schaute auf ihre Armbanduhr. Ich versenkte mich in die Betrachtung der gefiederten Schlange. Eine ungewöhnliche Arbeit. Sehr realistische Farben. Die Musterung des Körpers könnte einer Boa Constrictor nachempfunden sein. Die Flügel schillerten in Indigoblau, durchsetzt mit Türkisen …

Da war sie verschwunden, die Schlange.

Eva hatte sich ihre Jeansjacke wieder angezogen. Jetzt stand sie auf.

„Also gut. Ich habe es zumindest versucht. Ich werde Herbert berichten, dass Sie nicht mit mir zusammenarbeiten möchten. Und dass wir unsere Idee daher vergessen müssen.“

Ich hätte mich nun ganz einfach erheben können, ihr die Hand schütteln und ein paar Entschuldigungsformeln murmeln – schon wäre dieser Kelch an mir vorübergegangen. Den Wutausbruch von Herbert Schiller hätte ich entspannt über mich ergehen lassen, darin hatte ich Übung.

Aber nein. Stattdessen sagte ich:

„Moment … warten Sie …“

Blitzschnell saß Eva wieder am Tisch.

„Ich höre.“

Es dauerte ein wenig, bis ich mich gesammelt hatte. Als ich ihr antworten wollte, fühlte es sich an, als hätte Evas Boa Constrictor ihren Schwanz um meine Kehle gewickelt. Ich hustete die Schlange weg.

„Also gut. Sie haben mich überredet.“

Eva umfasste mit beiden Händen meine Ellenbogen. Sie strahlte mich an. Es war gut für mein seelisches Gleichgewicht, dass ich in diesem Moment ganz sicher sein durfte, dass ihre Freude nicht mir als Person galt. Sie war ohne Zweifel eine hervorragende Rechtsanwältin.

„Danke!“ Dieses Wort hatte ich lange nicht mehr gehört. Nicht in diesem Ton.

„Und wie geht es nun weiter?“

„Ich treffe Jelena Karpova morgen. Ich erzähle ihr, Sie seien ein bekannter Wissenschaftsjournalist. Was ja nicht einmal gelogen ist. Und dass Sie gar kein Interesse an ihrem Fall hätten. Vielmehr arbeiteten Sie an einem Buch über die Errungenschaften des CERN. Oder über die Entdeckung des Higgs-Teilchens. Da richte ich mich ganz nach Ihnen.“

„Ich bin nur Journalist. Mit dem Fachwissen dieser Frau kann ich keine Sekunde lang mithalten.“

Erst jetzt zog Eva ihre Hände zurück.

„Sie machen das schon.“

Sie winkte dem Kellner und zahlte. Für uns beide. Mein Protest wurde abgeschmettert.

Ich blieb sitzen, als sie ging. Am Ende des Gastgartens drehte sie sich noch einmal um.

„Ich habe übrigens auch ein Hobby“, rief sie. „Vielleicht erzähle ich Ihnen einmal davon.“

SIEBEN

Herbert musste hervorragend geschlafen haben, sein Gesicht wirkte entspannt, beinahe fröhlich, als er frühmorgens bei mir hereinschneite.

„Wie war’s?“, fragte er noch im Stehen.

„Du hast ja blendende Laune“, antwortete ich. „Was ist passiert?“

„Ich habe immer gute Laune. Ist dir das noch nie aufgefallen? Also, wie ist es gelaufen?“

„Falls du das Treffen mit Frau Dr. Mattusch meinst: Es war mehr ein Test als ein Gespräch.“

„Und, bist du durchgefallen?“

„Nein.“

Herbert klopfte mir auf die Schulter und setzte sich hin.

„Ich wusste es!“

„Ich hingegen wusste einiges nicht. Zum Beispiel, dass sie deine Scheidungsanwältin war.“

Herberts Schultern bewegten sich nach vorne, die Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht.

„Das hat sie also ausgeplaudert.“

Ich war auf Ärger vorbereitet gewesen, aber ich sah nur eine tiefe Traurigkeit.

„Ich vermute“, sagte ich vorsichtig, „sie wollte nur verhindern, dass ich auf falsche Gedanken komme.“

„Falsche Gedanken?“ Herberts Stimme klang wie von weit her.

„Nicht so wichtig. Herbert, warum hast du mir nie von deiner Scheidung erzählt? Vielleicht hätte ich dir –“

„Was hättest du“, unterbrach er mich. „Mir helfen, meinst du das? Für dich bin ich doch nur ein übler Karrierist, der dem Chef … den Speichel leckt.“

Ein schwieriger Moment für die Wahrheit. Doch dreist lügen wollte ich auch nicht.

„Das auch“, sagte ich. „Manchmal. Aber nicht immer.“

„Wie großzügig von dir.“ Eine Stimme wie eine Tafel Bitterschokolade.

„Herbert, es war nicht meine Absicht –“

Auch diesen Satz konnte ich nicht zu Ende sprechen. Herbert zog seine Schultern wieder nach oben und schaute mich an.

„Wir waren einmal Freunde, erinnerst du dich?“

„Natürlich“, sagte ich so herzlich wie ich konnte. „Aber seitdem ist Vieles passiert. Du hast dich –“

„… in einen Opportunisten verwandelt und bist zum Feind übergelaufen. Ist es in etwa das, was du mir vorwirfst?“

Ziemlich exakt, war ich versucht zu sagen, aber das war nicht der richtige Zeitpunkt.

„Nein, Herbert, so würde ich das nicht nennen. Es ist nur …“

Ich stockte.

Herbert erhob sich langsam, jede Bewegung schien ihn zu schmerzen.

„Könnte es nicht sein“, sagte er leise, „dass du dich einfach von mir abgewandt hast, weil ich deinen hohen moralischen Standards nicht mehr genügt habe? Dass deine unerschütterliche Selbstgefälligkeit ein Urteil über mich gesprochen hat? Verbannung aus meinem edlen Freundeskreis, so lautete die Strafe, nicht wahr?“

„Herbert, bitte –“ Ich stand auf, legte meine Hände auf seine Oberarme, versuchte ihn zurückzuhalten, doch er entzog sich meiner Berührung, drehte sich um und verließ mein Büro.

Wieder allein, noch aufgewühlt von der Auseinandersetzung mit Herbert, setzte ich mich an meinen Computer und recherchierte über die neuesten Errungenschaften am CERN, um mir bei der Unterhaltung mit Jelena keine allzu offensichtlichen Blößen zu geben. Weit kam ich nicht: Bei einem Foto blieb ich hängen. Es zeigte das Cover des Buches Inside CERN, eines Fotobands von Andri Pol.

Ein enges, auf den ersten Blick funktional eingerichtetes Büro. Die meisten Gegenstände sind weiß oder beige: Regale, Tische, Röhren, der Heizkörper. Nur die heruntergelassenen Jalousien leuchten in einem im Verhältnis zur Umgebung fast schon schreienden Hellblau. Drei prall gefüllte Regale: Unmengen Papier, darunter ein futuristischer Drucker. Was die weiteren Objekte betrifft, kann der Laie nur ahnen, worum es sich handelt. Ein silbernes Kästchen in zwei Teilen, dahinter ein Gerät, in dem etwas wie ein Griff mit angeschlossenem Kabel steckt. Arbeitet man hier mit Lötkolben? Auf dem zweiten Regal klebt ein Post-It, leider unlesbar. Geheimnisvolle Glasquadrate, an der Seite eine Reihe Steckdosen. Im dritten das nicht mehr definierbare Chaos, eine aufgerissene Schachtel mit herausgerutschten länglichen Quadern – Mini-Teilchenbeschleuniger oder doch verpackte Nespresso-Kapseln? Noch ein offener Karton, aus dem Kabel kriechen, ineinander verschlungen, ein Hochzeitstanz von weißen und schwarzen Nattern.

 

Das Zentrum des Bildes jedoch, oder besser: seine rechte Hälfte, zeigt einen Mann. Mit kurzen Hosen und einem Polo-Shirt, das Tausende Waschgänge überstanden haben muss. Aus dem Saum der Shorts ragen dünne, verschrumpelte Knie, abgeschnitten von der unteren Bildkante. Der Schädel des Mannes ist kahl, doch hinter seinen Ohren, einmal um den Kopf herum, verläuft ein buschiger Kranz aus weißem Haar. Und er trägt einen imposanten Vollbart, zerrupft und eisfarben wie die Gesichtshaare des Yeti auf den gefälschten Fotografien.

Soweit zum äußeren Erscheinungsbild.

Doch was mich ergriff, war eine Bewegung, die Andri Pol eingefangen hatte (einer dieser Momente, von denen alle Fotografen träumen). Eine Geste des Mannes, beide Arme weg vom Körper gerichtet, die Handflächen nach oben gewandt, die Daumen abgespreizt. Die wohlbekannte Haltung, die in etwa ausdrückt:

Was soll das?

Kann mir jemand das erklären?

What the fuck – ?

Oder, in deutschen Krimiserien sehr beliebt: Was zum Teufel …?

Der Blick des Mannes, winzige Brillen mit Drahtgestell durchdringend, richtet sich auf einen Gegenstand, der als einer der wenigen auf diesem Tableau klar zu erkennen ist.

Eine Espressomaschine.

Der Mann ist Richard Kellogg, einer der wichtigsten Physiker am CMS-Projekt, das an der Entdeckung des Higgs-Teilchens beteiligt war.

Der hochdekorierte Wissenschaftler, der vor den Tücken seiner Kaffeemaschine kapituliert. Selten hat für mich ein Bild auf so verschmitzte Weise ein Phänomen zum Ausdruck gebracht, das mich mein Leben lang beschäftigt: Der Charme des Scheiterns großer Geister an kleinen Dingen. Da ich selbst keiner war, konnte ich mich diesem Zauber uneingeschränkt hingeben.

Keine halbe Stunde später entdeckte ich jedoch das gesamte Foto der Szene. Pol hatte für den Umschlag die linke Hälfte weggeschnitten, im Buch befand sich das Bild in voller Breite. Und mit einem Mal sah es aus, als betreffe Kelloggs Unmut nicht die Maschine, sondern die Tatsache, dass sich daneben ungewaschene Tassen stapeln. (Das Chaos auf den Regalen stört ihn offensichtlich nicht.) War also meine kleine Geschichte falsch und der Professor ärgert sich nur darüber, dass niemand das Geschirr gespült hat? Wie immer konnte es entscheidend sein, das vollständige Bild zu betrachten. Jedenfalls bestellte ich sofort das Buch.

Gegen Mittag rief Eva an. Ich konnte mich nicht erinnern, ihr meine Handynummer gegeben zu haben. Ihre Stimme klang aufgewühlt.

„Herr Hollaus, wir haben es geschafft! Jelena Karpova hat dem Gespräch zugestimmt.“

„Das kann ich fast nicht glauben.“

Ich freute mich, und ich freute mich nicht. Ambivalenz, wie immer.

„Doch, es ist wahr! Anfangs dachte ich, es gäbe keine Chance. Sie war abweisend, sehr in sich versunken. Ich habe ihr von Ihnen erzählt, aber sie hat nicht reagiert.“

„Kein Wunder.“

„Ich hab alles versucht. Ihr vorgeschwärmt, was für ein toller Wissenschaftsjournalist Sie sind.“

„Das wird sie Ihnen nicht abgenommen haben. Sie ist sehr intelligent.“

Ich hörte ein Lachen. „Sagen wir so: Sie war nicht sehr beeindruckt. Da hab ich es mit der kleinen Lüge probiert, dass Sie einen großen Artikel über das CERN in einer bedeutenden Zeitung planen. Und sehr an den neuesten Entdeckungen interessiert sind.“

„Aha.“

„Sie hat mich mit ihrem müden Blick angeschaut und gesagt: ‚Heutzutage interessiert sich jeder Idiot für das CERN. Und wer es nicht tut, ist erst recht einer.‘“

„Nicht schlecht. Aber Sie haben nicht aufgegeben, vermute ich.“

„Mir ist erst nichts mehr eingefallen. Dann hab ich gedacht, wenn die Notlüge nicht funktioniert, geben wir der Wahrheit eine Chance.“

„Das ist gut. Dann weiß Frau Karpova jetzt, dass ich keine Ahnung habe, worüber ich mit ihr sprechen soll. Und erleichtert bin, wenn sie ablehnt.“

In ernstem Tonfall sagte Eva: „Ich dachte, über diesen Punkt sind wir hinaus.“

„Sie haben recht. Das war nur ein kleiner Panikanfall.“

„Panik wovor? Ihnen kann doch nichts passieren.“

Ich ging in die kleine Redaktionsküche und holte mir ein Dosenbier aus dem Kühlschrank.

„Sind Sie noch da?“, fragte Eva.

„Ja.“

„Womit, glauben Sie, hab ich sie neugierig gemacht?“

„Keine Ahnung.“

„Ach, kommen Sie. Raten Sie doch einfach.“

„Mit meiner aufregenden Biografie? Geboren in Wien, lebt in Wien, stirbt bald in Wien?“

„Falsch“, sagte Eva übermütig. „Nächster Versuch!“

Wir schwiegen. Ich wollte etwas Leichtfüßiges, Geistreiches sagen, doch mir fiel nichts ein.

„Gut, dann verrate ich es Ihnen.“ Evas Stimme hörte sich an wie die eines Kindes, das einem fantasielosen Erwachsenen die Welt erklären muss.

„Sind Sie bereit?“

„Bin ich.“

„Ich habe Jelena erzählt, dass Sie an einem Buch über Tunguska arbeiten.“

„Haben Sie nicht.“

„Hab ich doch.“ Jetzt saßen wir beide in der Sandkiste.

Eva verließ sie zuerst.

„Diese Frau“, sagte sie ruhig, „die mir nie etwas anderes als ein tieftrauriges Gesicht gezeigt hatte, bekam plötzlich funkelnde Augen.“

„Aber warum?“

„Das weiß ich nicht. Sie hat nicht mehr viel gesagt. Nur, dass sie einem Treffen mit Ihnen zustimmt.“

Zu meiner eigenen Überraschung dachte ich darüber nach, was ich anziehen sollte. Diese Frage hatte ich, bevor ich Helga kennenlernte, für belanglos, ja für frevelhaft oberflächlich gehalten. Man greift in den Kleiderkasten und nimmt sich blind heraus, was sauber ist. Mehr Aufwand ist Zeitverschwendung. Als Helga in mein Leben trat und mein schlampiges Äußeres kritisierte, löste ich das Problem auf meine Weise. Ich zog an, was ihr gefiel; sie suchte die Sachen für mich aus, hängte sie in den Schrank an die Stelle, an die ich morgens immer hingriff, für mich änderte sich wenig und sie war zufrieden. Ich könnte heute nicht mehr mit Gewissheit sagen, was genau sie beanstandet hatte und warum die Anzüge, die sie mir für wichtige Anlässe verordnet hatte, mich nicht störten, doch an etwas erinnere ich mich: Meine Lederjacke, die mich durch mein Leben begleitet hatte und die sie abgefuckt nannte, zog ich so lange weiterhin an, bis Helga eines Tages ein Verdikt aussprach. Männer über fünfzig in schwarzen Lederjacken sind lächerlich. Das klang unwiderlegbar wie Newtons Gravitationsgesetz und verbannte die Jacke in den Nebenschrank (ich konnte gerade noch verhindern, dass sie sie in den Kleidercontainer der Volkshilfe warf). Das Seltsame war: Auch nach der Trennung habe ich sie nie wieder angezogen.

Und nun hob ich sie behutsam vom Haken, wischte den Staub vom Kragen und schlüpfte hinein. Weshalb? Für wen? Für eine Anwältin, die über meinen Anzug gelacht hatte? Für eine verdächtige Physikerin, deren Augen Tunguska zum Leuchten gebracht hatte? Nein, ich glaube nicht. Etwas hatte aufgehört und etwas anderes begonnen.

Am Bahnhof Linz holte mich Eva mit dem Auto ab. Sie hatte ihren kleinen roten Flitzer (keine Ahnung, welche Marke) direkt vor dem Haupteingang geparkt und winkte mir zu. Diesmal trug sie einen eleganten Hosenanzug und hochhackige Schuhe. Es war wohl für sie ein wichtiger Anlass. Sie musterte mich kurz, schmunzelte und legte ihre Hand auf meinen Oberarm. Die Jacke knisterte, wie es sein musste.

„Das mit dem goldenen Mittelweg ist nicht so Ihr Spezialgebiet, stimmt’s?“

„Aber Sie haben doch beim letzten Mal –“

„Vergessen Sie’s. War nur ein Witz. Steht Ihnen gut, die Jacke. Sie sollten sie bei Gelegenheit reinigen lassen.“

Ich roch am Innenfutter. Angenehm herber Duft, fand ich.

Auf dem Weg zum Landesgericht spürte ich ihre Nervosität. Sie fuhr unkonzentriert, rammte einmal beinahe einen Radfahrer, der uns Flüche nachschickte. Sie schien nichts davon mitzubekommen.

Vor dem Haupteingang blieb sie stehen und schaute mich von der Seite an.

„Herr Hollaus, ich wünsche Ihnen und Jelena viel Glück.“

„Danke.“

„Sie kennen die Regeln?“

„Ich denke schon. Kein Wort über die Tat. Keine Erwähnung des Opfers.“

Eva nickte. „Wenn sie nur vage spürt, dass Sie etwas über diese Nacht herausbekommen wollen, bricht sie auf der Stelle ab.“

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