Will denn in China gar kein Sack Reis mehr umfallen?

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1 Couplet mit Obduktion

Ich liebe dich, ob du weinst oder lachst,

Ob du ktion schläfst, oder ob du noch wachst.

Meer und Rettich

(Leise nach dem Sushi zu summen)

Aus tosendem weißem Meer rett ich

Dich, meine schöne Gabi.

Doch was nimmst du ängstlich, ja panisch

So grüne Farbe jetzt an?

O Gabi! Sake: Wasabi

Dir denn nur angetan?

Bhumipol und Gummitwist

ZUR PARLAMENTARISCHEN DEMOKRATIE gehört die Trennung von Regierung und Repräsenta­tion; für Letztere ist hierzulande der Bundespräsident zuständig. Er muss Hände schütteln und die daran hängenden Menschen mit Namen erkennen und ansprechen können. Das ist schwer, ich könnte das nicht. Auch der zur Schau getragene präsidiale Gesichtsausdruck, der nahelegen soll, es vollziehe sich Bedeutsames, Würdiges oder doch wenigstens Erwähnenswertes, erfordert ein respektabel hohes Maß an Selbstdisziplin.

Ein Bundespräsident, so er kein Kretin wäre, vergäße allerdings nicht, dass er rein ornamentalen Zwecken dient. Um nicht der Peinlichkeit anheim zu fallen, ließe er gelegentlich dezent durchblicken, dass er schon wüsste, an welcher Farce er Anteil hat. Nicht so der derzeitige Präsident Horst Köhler. Ins Amt gehievt, weil die CDU so gar keinen anderen Kandidaten hatte, nutzt der Mann jede Gelegenheit, sich öffentlich zu spreizen. Ehrgeizig und mit überagiler, pfadfinderhafter Angestrengtheit »bringt er sich ein«, wie man das nennt, »engagiert sich«, mahnt an, ruft auf – kurz: Er macht sich rund um die Uhr wichtig. Dabei ist Köhler von einer erstaunlichen naturbelassen beschränkten Begeisterung über die Bedeutung, die er sich selbst beimisst.

Irgendetwas rattert ihm eben immer durch seinen Kopf, und prompt verströmt er es salbungsvoll in die Welt. Für »Religionsunterricht« macht er sich stark und wirft sich für »Islamunterricht in deutscher Sprache« ins Breschholz. Man hört’s im Radio und möchte vergehen vor so viel Bedeutungsheischerei. Die Empfehlung, vor der islamischen Variante des Gläubischseins zu kapitulieren, paart Köhler mit dem Wunsch, den Restverstand, also das Mittel gegen religiöse Gehirnverbreiung, zugunsten von schulisch verabreichtem Glaubensgedöns fortzuwerfen. Dafür wird Köhler in den Feuilletons als »Querdenker« gefeiert – wer dieses Wort begeistert benutzt, ahnt nicht, wie beleidigend das ist: Querdenker. Schenkte man den deutschen Feuilletons Glauben, die Rest­anarchie im Lande läge in den Händen von Horst Köhler und Christof Schlingensief. Und da läge sie ja auch gut begraben.

Von Luschen regiert und von einem Zudringling repräsentiert werden ist deutsches Leben. Ich wandte mich ab – als der Radioapparat unverhofft Schönes sendete: »… der thailändische König Bhumipol sprach der Armee das Vertrauen aus«, hörte ich den Nachrichtensprecher sagen. Wie entzückend: König Bhumipol! Was für ein Name! Bhumipol, o ja, Bhumipol! Bei König Bhumipols Armee konnte es sich nur um eine aus der Augsburger Puppenkiste handeln: Blech­­büchsenarmee, roll, roll, roll!

Globalisierung, richtig aufgefasst, kann auch Spaß machen: Warum Horst Köhler ertragen, wenn man König Bhumipol haben kann?

Köhler, Köhler,

Öder Nöler:

Außen Gummi, innen hohl. –

Ich will König Bhumipol!

Bhumipol ist mein Mann. Seit Zoppo Trump und Ivar Buterfas hat kein öffentlicher Mensch allein Kraft seines Namens mir so ans Herz gefasst. Singen will ich zum Lobe König Bhumipols:

Es fühlt sich König Bhumipol

Im Bett nur ohne Gummi wohl.

Gern isst der König Bhumipol

Den Riesenschirmling Parasol,

Und Weiß- und Rot- und, glaubst du wohl,

Spitz-, Rosen-, Grün- und Blumenkohl.

Dann trinkt er etwas Alkohol.

Und schläft. Der König Bhumipol.

So sorgt für sein und aller Wohl

Der Gummikönig Bhumipol.

Das ist genau die gute Nachrede, wie ein Mann mit dem schönen Namen König Bhumipol sie verdient. So wahr ich Kalle Wirsch heiße.

O je, o je, sie bringt es nicht, o weh, o weh, die Unterschicht

Erwin aus der Unterschicht

liebt die Oberklasse nicht.

Doch vom Chef die Tochter

sah er gern und mocht er

Wenn unsere tollklasse gebildeten, überaus feingeist- und feinwaschmitteligen und tiptop hochkulturellen Mittel- und Oberschichtler diesen Vierzeiler namens »Erwin« von F.W. Bernstein gelesen hätten, eine weitere nutzlose, aufgesetzte Feuilleton-Debatte wäre der Welt erspart geblieben. Weil aber der Berufsdebatteur als solcher gar nichts zu wissen braucht, um konjunkturell mitquakeln zu können, musste man sich das Geningel um die furchtbar kulturlose, üble und quasi aus Gammelmenschen zusammengetackerte Unterschicht auch noch anhören.

Was soll das Gezeter, wovon lenkt es ab? Dass Menschen, die ihre Kinder Kevin nennen, mit ihnen nichts Gutes vorhaben, liegt auf der Hand, das ist im Namen mit drin. Kevin heißen müssen bedeutet: Dich liebt keiner, deine Eltern jedenfalls lieben dich nicht. Das ist unschön, aber völlig offensichtlich und muss also nicht debattiert werden. Der grassierende Kevinismus (beziehungsweise Marvin- und Justinismus) könnte leicht standesbeamtlich durch ein generelles Verbot von Produkt- und Markennamen für Kinder unterbunden werden. No Xavier, no Cry.

Es gibt durchaus ein reales Unterschichtproblem: die längst abgesackten, verwrackten Reste von Ober- und Mittelbau. Der Fisch stinkt nun mal vom Kopfe. Petra Gerster c/o ZDF kündigt die Verleihung des Deutschen Fernsehpreises an und honigkuchelt grienend einen vom Pferd namens »Qualitätsfernsehn«. Als »bester Fernsehfilm« wird der durchhaltedeutsche Schmachtfetzen »Dresden« ausgezeichnet. Wer bei solchen Produktionen und Laudatien mitmischt, möge seine Beschwerden über Unterschicht und Unterschichtfernsehn bitte für sich behalten.

Auch die Gala-Veranstaltung »50 Jahre Bravo« zeigte, dass gegen die krebsartig wuchernde Medialunterschicht die gute alte »Aktion Sühnezeichen« nicht mehr greift. Ein stark behandlungsbedürftiger Junge namens Bill, Angestellter einer Krankheit namens Tokio Hotel, drückte die ihm aufgezwungene Mischung aus Puber­täts­eiter und Jugendgreisenhaftigkeit in Kameras und Mikrophone: »Ich fand Nena immer komplett geil.« Die komplett schlichte Sängerin nahm in dafür in den Arm und küsste ihn. Gegen beide und alle, die derartiges mögen, hülfe, wenn überhaupt, nur die Aktion Schürhaken. Dass der branchengefeierte Tim Renner den Cockerspaniel Nena in der Zeit allen Ernstes als Bundeskanzlerin vorschlug, sagt alles über die Selbstbeweihräucherungsvokabeln Qualitätsjour­­nalismus und Qualitätszeitung.

Womit man ganz unten gelandet ist, bei Gerhard Schröder auf dem Titelbild des Spiegel in der 43. Kalenderwoche 2006. Was war das? Vollgummi? Leder? Gesicht gewordene Charakteraufweichung? Letzteres setzte voraus, dass jemals ein Charakter vorhanden gewesen wäre. Was Gerhard Schröder als Gesicht trägt, habe ich als Jugendlicher beim Schlagballwerfen gut 40 Meter weit weggeschmissen. 4000 Kilometer wären eine weit angenehmere Entfernung von dieser putinistischen Gestalt, die alles verkörpert, was an Unterschicht und Aufsteigerei abstoßend war und ist. Nähme Gerhard Schröder noch die Plage Michael Schumacher mit in die Pipeline zur ewigen Ruh, das Proleten- und Unterschichtsgewürge hätte zumindest Pause – bis zur nächsten Sendung mit Kerner.

So viele Mollakkorde da draußen

Josh Ritters »The Animal Years«

ES GIBT GUTE NACHRICHTEN aus Moskau – allerdings handelt es sich dabei um die Stadt Moscow im US-Bundesstaat Idaho. Hier wurde am 27. Oktober 1978 Josh Ritter geboren. Der Sohn eines Neurologieprofessorenehepaars spielte als Kind Violine, erlebte seine musikalische Initiation aber erst im Alter von 17 Jahren, als er die Musik von Bob Dylan und Johnny Cash entdeckte. Seine erste eigene CD veröffentlichte er 1999 unter dem Titel »Josh Ritter«, auf eigene Faust und eigene Kappe; jeweils zwei Jahre später folgten die Alben »Golden Age of Radio« und »Hello Starling«.

Schritt für Schritt erarbeitete sich Josh Ritter den Ruf als außergewöhnlich großes Talent im Reich jener Damen und Herren, die der Welt nur mit sich, ihren Wörtern und ihrer Musik entgegentreten – um sie sich begreiflich und zu eigen zu machen, und ihr, wenn es gelingt, etwas von der Schönheit und Klarheit zurückzugeben, die sie neben anderem ja auch großzügig verströmt. Dass die Welt ein Ort größtmöglicher Wunder und gleichzeitig vollständig zum Abgewöhnen ist – dieser Widerspruch hat schon manche empfindungsfähige Seele zer­schreddert. Das Medikament dagegen heißt Liebe. Man kann auch Poesie und Musik dazu sagen.

Mit seinem vierten Album »The Animal Years«, erschienen im März 2006, greift Josh Ritter hoch. Seine Vorbilder, zu denen außer Dylan und Cash hörbar auch Nick Drake, Neil Young, der junge Bruce Springsteen und Lloyd Cole gehören, hat Ritter sich einverleibt und zeigt in den elf Liedern eine große Bandbreite lyrischer und musikalischer Möglichkeiten. Mit dem ersten Stück, »Girl in the War«, steigt er gleich groß ein: Im Zwiegespräch zwischen den Aposteln Peter & Paul heißt es lakonisch: »But now talking to God is Laurel begging Hardy for a gun.« Mit Gott sprechen ist, als ob Stan Laurel ausgerechnet Oliver Hardy um eine Knarre an­flehte? Ein stimmigeres, komischeres und eigen­sinnigeres Bild für vollständige Vergeblichkeit habe ich lange nicht vor mir gesehen. Auch über Macht weiß Ritter Bescheid: »The keys to the Kingdom got lost inside the Kingdom.« Es hilft also nichts, auf die Dämlacks zu vertrauen, die innerhalb des Reiches sitzen.

 

Josh Ritter hat nicht nur seinen musikalischen Idolen gut zugehört und sie wohldosiert in sein eigenes Universum eingespeist. Auch eine der wahrhaftesten, tiefsten Zeilen von Joachim Ringelnatz ist ihm zumindest intuitiv bekannt: »Alles, was lange währt, / Ist leise.« Ritters Poesie verzichtet auf schweres Geschütz, er malt seine Bilder behutsam und zart, ohne jemals den Kern der Sache zu verfehlen. In »One more Mouth« beschreibt er eine spröde Geliebte: »You treat every hungry kiss like one more mouth to feed.« Musik und Stimme sind dabei zum Erschrecken filigran.

Zum Glück für Ritter und seine Hörer aber ist Zerbrechlichkeit nicht sein alleiniges Stil- und Ausdrucksmittel; ein ungebremster Enthusiasmus, wie man ihn von Mike Scott und den frühen Waterboys kennt, ist Ritter ebenso zueigen. Die Vielfalt seiner Möglichkeiten macht einen Teil seines Reichtums aus; die Unterschiedlichkeit der Kompositionen wirkt nicht unentschieden, sondern zeigt im Gegenteil, ohne jede technische Musiker-Angeberei, was der Mann alles sieht, fühlt, hört und in zeitlos schöne Songs verwandelt. Wenn Ritter »so many minor chords out there« moniert, so viele menschliche Mollakkorde da drau­ßen, weiß er, wovon er singt, ohne Teil der Flenn­suserei zu werden.

In Irland ist Josh Ritter spätestens seit »Hello Starling« ein vielgehörter Sänger – mit »The Animal Years« dürfen ihn auch die Deutschen für sich entdecken, zum Beispiel mit diesen Zeilen aus dem Song »Wolves«: »Your face was simple, your hands were naked / I was singing without knowing the words.« Die Trommelstöcke fegen über die Schlagzeugfelle wie die Pfoten jagender Wölfe über den gefrorenen Schnee, die Orgel treibt sie alle voran, auch den eben nicht jaulenden, sondern singenden Wolf namens Josh Ritter. Singen, ohne die Wörter zu kennen: Der Mann weiß, was das ist und wie man das macht.

Der Herr Herdieckerhoff

Eine Bach-Kantate

ALS LESE- UND KONZERTREISENDER lernt man naturgemäß jede Menge Veranstalter kennen. Es gibt unter ihnen erstaunlich viele gute; Menschen, die inspiriert, liebevoll, großzügig und mit Lust ihre Arbeit tun, auf dass man auf der Bühne ebenso agieren kann. Einer der geistreichsten, lustigsten, gastfreundlichsten und klügsten Impresarios war Jochen Herdieckerhoff. Ich lernte ihn kennen, als er mich einlud, das rheinische Langenfeld, ein deutsches Kaff in der Brache zwischen Düsseldorf und Köln, aufmischen zu helfen und bei den Langenfelder »Tagen des schlechten Geschmack’s« – das falsche Apostroph war selbstverständlich Absicht – dabei zu sein. Ich tat es gern. Auch Matthias Deutschmann, Harry Rowohlt und Christoph Schlingensief waren dabei, groß war das Alarmgeschrei der lokalen politischen Angsthasen, die u.a. mich als, wie sie schäumten, »RAF-Sym­pa­thisanten« dingfest machen und ausgeladen haben wollten; größer jedoch war die Freude des Publikums.

Herr Herdieckerhoff frohlockte – und importierte sogleich die »Wiener Festwochen« nach Langenfeld. Weil sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Österreich Wahlen stattfanden, ließ er zwischen die einheimischen Wahlplakate auch österreichische hängen. Die Langenfelder konnten auf einmal zwischen SPD, SPÖ, FDP, FPÖ, CDU, ÖVP und sogar KPÖ entscheiden – und wussten, vollkommen überfordert, überhaupt nicht mehr, wie ihnen geschah. Das fanden sie nicht lustig und ließen ihren Mangel an Humor kleinlich an Jochen Herdieckerhoff aus.Der zog nach Wien, in die Stadt, die er liebte, warum und wofür auch immer. Er organisierte und veranstaltete – und das als Hete! (für die Restnichteingeweihten unter uns: als Heterosexueller) – das »Wien ist andersrum«-Festival, outete handkehrum in der taz den Neo-Ultra-Rechten Jörg Haider als homosexuell und legte sich in der intriganzgesättigten Spinnwebenstadt Wien mit allem an, was nicht bei dreitausend auf dem Baum war.

Zuletzt sah ich ihn, nachdem ich seine Einladung angenommen hatte, eine Ausstellung des Titanic- und FAZ-Zeichners Achim Greser zu eröffnen. Es handelte sich um Gresers Zyklus »Der Führer privat« – um Bilder, die Hitler als das Würstchen zeigen, das er war und als das er massenhaft geliebt wurde, weil Versager naturgemäß Versager lieben, sogar bis zur Vergasung, wenn die nur andere trifft. »Hitler’s coming home« nannte Jochen Herdieckerhoff die Ausstellung. Wir fanden das lustig, die Wiener Krone, die rechtsextreme Neue Kronen Zeitung, war nicht amüsiert.

Mit Wolf Martin, dem Kolumnisten des Massenschrottblattes, setzte Jochen Herdieckerhoff mich auf eine Wiener Bühne. Wolf Martin dichtet, wie Hitler malte: »Europas Zukunft wird vermasselt / der Euro in die Tiefe rasselt. / Die echten Werte gehn in Scherben. / Das Abendland – liegt es im Sterben?« Aus Silberhochzeitsanlässen wurde von Amateuren kaum lausiger gereimt. Gedichte in Grass und Scheiße meißeln ist sein Genre. »Arme Schwarze« heißt ein weiteres Teil, voilà: »Der Schwarze Kontinent ist reich, / nur Fleiß und Disziplin fehlt euch! / Europa hat’s aus eigner Kraft / und nicht durch Bettelei geschafft!« Diesen Wolf Martin lederte ich, befeuert von Jochen Herdieckerhoff, mit Vergnügen ab. Danach sah ich Jochen nicht wieder.

Am 6. Juni 2006 bekam ich eine Elektropost, deren Betreff »Parte Jochen Herdieckerhoff« lautete:

Schlummert ein, ihr matten Augen

fallet sanft und selig zu!

Welt, ich bleibe nicht mehr hier,

hab ich doch kein Teil an dir,

das der Seele könnte taugen.

Hier muss ich das Elend bauen,

aber dort, dort werd ich schauen

süßen Frieden, stille Ruh.

BWV 82, Ich habe genug

Unter der Bach-Kantate »Ich habe genug« (BWV 82 heißt Bach-Werke-Verzeichnis 82) stand zu lesen:

Werte Herrschaften!

Hiermit zeige ich an, dass ich mit dem heutigen Datum einen aus meiner Sicht überfälligen Schritt vollzogen und meinem Leben aus freien Stücken ein Ende gesetzt habe. So mir das Schicksal nicht einmal mehr Spielverderber war, habe ich mich nächst der Wiener Berggasse 19 von einem Baugerüst gestürzt. Ich bitte um Verständnis für diese finale Pointe, die ich mir gleichwohl so wenig verkneifen konnte, wie ich diese auf Dauer unerquickliche Existenz hätte fortsetzen wollen.

Leben Sie wohl!

gez. Jochen Herdieckerhoff

Wien, 1. Juni 2006

Harry Rowohlt schrieb in der Zeit: »Einer meiner allerbesten Freunde, Jochen Herdieckerhoff, hat sich, was ich ihm persönlich sehr übelnehme, umgebracht. Wie so ein Born an Kreativität und guter Laune insgeheim tieftraurig sein kann –, das bleibt sein Geheimnis und das so vieler anderer Hoch- und Sonderbegabter, die uns olle Muffköppe so lange aufmöbeln, bis es für sie selbst nicht mehr reicht.«

Es gibt so viele Menschen, deren Leben und Tod einem vollständig gleichgültig sind. Jochen Herdieckerhoff gehörte und gehört nicht dazu. Ich wünsche ihm, was er sich wünschte.

Leipzig: Mercedes Bach und Russentussen

DER 28. JULI 2007 WAR DER 257. Todestag von Johann Sebastian Bach. In Leipzig, das sich gern und stolz »Bach-Stadt« nennt, wurde das Jubiläum im Rahmen des MDR-Musiksommers mit einem Konzert in der Thomaskirche begangen. Zu hören gab es Werke von Bach und Buxtehude, der Bachs Lehrer und Vorbild in Lübeck war. Bach, der wusste, dass Buxtehude die Stel­lung nur bekommen hatte, weil er die Tochter seines Vorgängers ehelichte, fürchtete vermutlich ein ähnliches Schicksal, riss vorsichtshalber aus und nahm den Posten als Kantor in Leipzig an. Von Bachs Instinktsicherheit profitiert Leipzig bis heute.

Profit machen ist seit 1989 ohnehin das Hauptmenschenrecht in Leipzig. Kultur! Kultur!, brüllt es einem aus der Stadt entgegen; Kultur ist keine Frage der Lebensweise, sondern ein Wirtschaftsfaktor, ein Pfund, mit dem Sachsen wuchert, um Geld ins Land zu bekommen – dafür fiedelte der peinliche Leipziger Oberbürgermeister Wolfgang Tiefensee lange genug öffentlich auf dem Cello herum, bis er als Verkehrsminister fortgelobt wurde und zum Regierungsmitglied heraufsank.

Vor der Thomaskirche machten sich die Sponsoren Mercedes Benz und Rotkäppchen breit. Wer absahnen will, tut gut daran, seine noblen Absichten zu demonstrieren und die Kultur zu fördern, das kann man steuerlich absetzen, kostet also nur ein bisschen Aufwand, hebt den eigenen Status ungeheuer und schafft ein Kumpanei- und Korruptionsklima auf feintuerischem Niveau. Reich an Zahl waren junge Frauen und Männer in jener Grauzone beschäftigt, die zwischen Servicekraft und Hostess changiert. Ist das eine Arbeit? Präsent sein, Lächeln anknipsen, »Was kann ich für Sie tun?« und »Noch ein Gläschen vielleicht?« säuseln und herumplinkern und -zwitschern? Man nennt es wohl eher Tätigkeit oder Beschäftigung. Von den rudelweise durch Leipzig stöckelnden neureichen Russentussen unterscheiden sich die im Kulturgeschäft arbeitenden Jungmenschen immerhin dadurch, dass sie weniger schwer eingedieselt sind und den vollprostituierten Prada-Abgeschmack verweigern.

Bach mag für das Leipziger Kulturestablishment zwar sein, was solche Leute »eine Marke« nennen; seiner Musik allerdings kann das wenig anhaben, zumal wenn man sie außerhalb des Gesellschaftsereignisses hört. Das lange ausverkaufte Konzert in der Thomaskirche wurde live vom Kulturradio MDR Figaro übertragen; wäre alles im Radio von dieser Qualität, dürften die Rundfunkgebühren gern dreimal so hoch sein. Bachs Musik ist ein ungeheures Kraftfeld, ein Lebensbejahungsmotor, sie dreht einem das Innerste auf links – als zöge sie einem die Seele wie einen falschherum getragenen Pullover über den Kopf, und wenn die Musik mit einem fertig ist, sitzt alles wieder richtig, ist geklärt und passt.

Nach dem Konzert las ich noch einmal, was Danny Dziuk mir über Bach geschrieben hatte, den er neben Bob Dylan und Miles Davis zu seinen drei musikalischen Hausheiligen zählt: »Bach zeigt auf eine nie wieder dagewesene Art die Schönheit von Mathematik, er hat das ausgeschöpft. Und gleichzeitig ist er religiös: als würde der Widerspruch zwischen Glaube und Wissenschaft nicht existieren. Es ist dieses Paradoxon, dass er einerseits wie kein anderer nach ihm die Prinzipien von Tonalität an ihre absoluten Grenzen treibt, auslotet und mit absoluter Strenge zuende denkt. (Danach kommt nur noch die Auflösung der Tonalität, also die klassische Moderne, ungefähr 150 Jahre später. Dagegen sind die Klassiker und Romantiker – erst recht Wagner – disziplinlose und unwissenschaftliche Schwärmer und Schwadroneure.) Andererseits jedoch scheint sich gerade die überirdisch ekstatische Schönheit mancher Melodien von Bach folgerichtig aus der Strenge seiner Methode abzuleiten, als würde er sagen: Je gewissenhafter ihr forscht, um so mehr wird sich am Ende herausstellen, wie wunderbar dieses Universum konstruiert ist. Danken wir also dem Konstrukteur. Es hat etwas Einstein-haftes à la ›Gott würfelt nicht‹.«

Ich war beeindruckt, und ich war erfreut über die Verwandtschaft des Geistes. Musik und Literatur, jedenfalls wenn sie etwas taugen, sind eine Einheit aus Verstand und Intuition. Schreiben (oder Komponieren) ist Denken und Fühlen in einem, also Kopf und Herz oder eben Arithmetik und Hingabe; es braucht beides in einem schönen Ebenmaße, um die Welt zu durchdringen und ihr Form und Ausdruck zu verleihen. Mit nur einem von beiden kommt man nicht weit. Fehlt das wärmende Feuer des Gefühls, wird es spitzfindig und fischig; ist das Korrektiv eines klaren, kühlen Verstandes nicht vorhanden, wird es soßig und man versinkt im Kitsch.

Dass man mit Wagner in Bayreuth die Kulturschickeria bedient, leuchtet ein, Wagners Pop-und-Pomp-Gedröhn gibt das her. Dass man aus Bach aber Mercedes Bach zu machen versucht, liegt nicht in Bach und seiner Musik begründet. Das schaffen die Leipziger seit 1989 ganz allein.

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