Zeckenalarm im Karpfenland

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Röttenbach, Kirchgasse, Montag 2. Juli 2012, Tag der Franken

„Godd sei Dang hamm die Schbanier gesdern dees Endschbiel gwunna!“, jubilierte Kunni Holzmann, als sie sich ihren Morgenkaffee aufbrühte. „Vier Schdügg hamsna nei ghaud, den Schbagheddis. Gschiehd na gscheid recht! Und wie bleed hadder gschaud der Balodelli.“

Dann schenkte sie sich dampfenden Kaffee in ihre Tasse ein, und schlug den Lokalteil der Zeitung auf. „Tag der Franken“ stand in dicken Lettern ganz oben auf Seite siebzehn. „Heute, am 2. Juli 2012, feiern wir den diesjährigen Ehrentag der Franken“, las sie. „Der Tag der Franken hebt die Bedeutung des Frankenlandes und die seiner Bewohner hervor. Strittig war bis zuletzt, ob die rot-weiße fränkische Fahne gehisst werden darf, obwohl die weiß-blaue bayerische Rautenfahne die offizielle ist.“ „Bayern-Grübbl, elendiche!“, murmelte die Kunni während des Lesens. „Aber es wurde ein Schlupfloch gefunden“, las sie weiter, „und der Frankenrechen darf in diesem Jahr für Werbezwecke bezüglich des Frankentages aufgehängt werden. Der Tag der Franken wird an einem historischen Tag begangen. Am 2. Juli 1500 wurde das Heilige Römische Reich Deutscher Nationen in insgesamt sechs Bezirke eingeteilt. Einer dieser Bezirke umfasste die Regionen um Bamberg, Eichstätt, Würzburg, Kulmbach und Ansbach, sowie die Reichsstädte Schweinfurt, Nürnberg, Windsheim, Weißenburg und Rothenburg. Diese Einteilung gilt heute als die Geburtsstunde des Frankenlandes.“

„Genau!“, merkte die Kunni an. „Was ham mier Frangn mid die bayrischn Hundsgrübbl zu du, außer dass mier frängischn Bleedl immer nu a Haufn Schdeiern nach Münchn ieberweisn missn?“

Plötzlich zuckte sie erschrocken zusammen. Draußen auf der Kirchgasse trötete eine Vuvuzela und jemand schwenkte eine überdimensionale Frankenfahne. Die Gartentür knarzte ächzend. Kurz darauf schwebte ein überdimensionaler Frankenrechen an ihrem Küchenfenster vorbei. Keine fünf Sekunden später klingelte die Hausglocke Sturm. „Was sen denn dees fier Debbn? Frieh um halba neina leidn die wie die Verrüggdn!“ Kunni war stinksauer. Sie konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn sie bei der Lektüre ihrer geliebten Tageszeitung gestört wurde. Schnell warf sie sich einen Bademantel über ihr knöchellanges Nachthemd und schlurfte zur Haustür.

„Ja sachd amol…“ Weiter kam sie nicht, als sie die Tür öffnete. Ein schrilles, nervtötendes Tröten aus einer feuerroten Vuvuzela fuhr ihr wie ein Schock schmerzhaft in die Gehörgänge. Eine riesige Frankenfahne wedelte vor ihrem Gesicht herum und riss ihr fast die Brille von der Nase. Hinter dem roten Krachmacher tauchten die aufgeblasenen Backen ihrer Freundin Retta auf. Fetzenhaft nahm sie die Gestalt des wilden Fahnenschwenkers wahr. Jupp Hochleitner, das im ganzen Dorf bekannte Röttenbacher Original tauchte im Fünf-Sekunden-Rhythmus hinter der hin und her schwingenden Frankenfahne auf, „Godd sei Dang, iech bin a Frank!“, brüllend.

„Kennd iehr zwaa Debbn edz amol a Ruh gebn!?“, schrie die Kunni gegen die Vuvuzela an. „Do denn der ja die Ohrn weh! Schbinnd iehr edz dodaal? Eich had wohl der Hafer gschdochn, odder seider um dera Uhrzeid goor scho bsuffn?“

„Kunni, Kunni“, rief die Retta mit heißerer Stimme, und unterbrach kurzzeitig ihre Trötaktivitäten, „waßd du denn ned, dass heid der Dooch der Frangn is? Dees missn mier doch feiern! Hobb ziech di oo, mier genga zum Radhaus. Do senn scho a ganza Haufn Leid. Der Jupp had gmaand, mier kennerdn heid in Röttenbach aa an Ablecher vo der Frangnbardei grindn. Freiheid fier Frangn!“

„Jawoll“, stimmte Jupp Hochleitner in Rettas Rede ein, „Freiheid fier Frangn!“, und wedelte erneut den rot-weißen Frankenrechen hin und her.

„Und iech deng“, gab die Kunni zur Antwort und sah die beiden Verrückten vor sich an, „eich hams alle zwaa in eier Hirn neigschissn! Hobb edz, schaud dasser weider kummd und lassd mi in Ruh friehschdiggn und mei Zeidung lesn! Vielleichd schaui schbäder amol am Radhausbladz vorbei.“

Enttäuscht zogen die beiden, lärmend und fahnenschwenkend davon. „Freiheid fier Frangn, Freiheid fier Frangn!“, rief Jupp Hochleitner ununterbrochen, und die Retta stimmte in das Gegröle mit ein. Dann besann sie sich wieder ihres Instruments, blähte erneut ihre Backen auf und blies mit der Stärke eines mittleren Hurrikans in die feuerrote Plastikröhre.

„A su a verrüggdes Volk!“, schüttelte die Kunni ihr weises Haupt und zog sich wieder in ihre gemütliche Küche zurück. „Dees habbi edz davo, edz is mei Kaffee aa kald.“

Als sie eine dreiviertel Stunde später fertig angezogen war und in der Küche den kleinen Abwasch erledigt hatte, trieb es sie doch, neugierig wie sie war, zum Rathausplatz.

Dort angekommen wunderte sie sich nicht über die vielen Leute und das Gewirr an Frankenfahnen. Die Retta und der Jupp standen mit der Theresa Fuchs zusammen. Deren Sohn, der Bruno, war mit seiner Frau Julia ebenfalls gekommen und hielt in der Linken ein Blatt Papier und in der Rechten ein Mikrofon. Dann trat er in die Mitte der Menschenmenge und schaltete das Mikrofon ein. Seine Stimme hallte aus zwei mächtigen Lautsprecherboxen für jeden klar und deutlich hörbar über den Rathausplatz:

„Liebe Röttenbacher Midbürger, mehr als zwaahunnerd Joahr is her, dass dees schene Frangland vo dene hinderfodzign bayrischen Sauhund besedzd worn is. Zwangseingemeinded däd ich heid soogn. Dabei hamm mier die Grübbl goar ned bei uns ham wolln! Seid dera Zeid wern mier Frangn underjochd und ausgnumma wie a Weihnachdsgans. Schaud eich doch die bayrische Haubdschdadd Minchn o und die Schiggi-Miggi-Gsellschafd, die dord lebd! Warum gehds deene denn heid su gud? Iech sogs eich: Weils vo unserm Geld leben, vo unsere Schdeiern, die wu mier dene immer ieberweisn missn! Die bayrischen Hundsgrübbl bluudn uns regelrechd aus. Und ham mier Frangn in der bayrischn Bolidigg irgendwas zum Soogn? Hammer ned! Dees is ja die ganze Grux und Ungerechdichkeid und schdingd zum Himml, wie a Bäggla Resi, dees zeha Dooch in der Sunna gschdandn is. Deswegn deng iech, dass mer dees ändern missn. Odder wolld iehr dees fier die näxdn zwaahunnerd Joahr weider su hinnehma?“ Ein tiefes Gemurmel der Zustimmung setzte auf dem Rathausplatz ein. „Freiheid fier Frangn!“, rief Jupp Hochleitner in die Menschenmenge und schwenkte seine Fahne.

„Genau, Jupp, du hasds erfassd. Freiheid fier Frangn!“, setzte Bruno Fuchs seine Rede fort, „dees is der Grund, warum mier uns heid hier vorm Radhaus versammeld hamm und unsern Willn kunddun. Drum forder iech eich heid aa auf, lassd uns in Röttenbach an Ablecher der Frangnbardei gründn und lassd uns fier die Unabhängichkeid Frangns kämbfen. Mier brauchn die Bayern, die elendichn Schmarodzer ned. Anlässlich unseres heidichn Ehrendoochs hab iech fier eich und fier uns alle die goddverdammde Bayernhymne leichd veränderd.“ Bruno Fuchs brach in ein schallendes Gelächter aus. „Iehr werds nemmer wiedererkenna! Iech habs umdexd, wie mier Frangn sie gern singa dädn. Iech kann zwoar ned gud singa, abber iech will eich dees Lied aa ned vorendhaldn. Iech deng mid der Underschdüdzung vo unserer Röttenbacher Blasmusigg griechi dees scho hie. Günder, seid iehr suweid?“ Günther Sapper, Vorsitzender und Dirigent der Röttenbacher Blasmusik hob seinen Arm zum Zeichen, dass seine Kapelle einsatzbereit sei.

„Also, auf gehds“, rief Bruno Fuchs den Musikanten zu. Mit einem kurzen Schlenkerer seines Taktstocks gab Günther Sapper seinen Bläsern das Zeichen zum Einsatz. Augenblicke später ertönte die Melodie, die Konrad Max Kunz dereinst zu Papier gebracht hatte, aus den Trompeten, Tuben, Hörnern, Klarinetten und sonstigen Blasinstrumenten, und Bruno Fuchs‘ markante Stimme hallte laut und deutlich über den Rathausplatz:

à Bankrott, mit dir, du Land der Bayern,

Geraubte Erde, Frankenland,

Uns‘re lieblich weiten Gauen,

Hast genommen, ist’s ne Schand.

Noch heute listig dein Gebaren,

Deinen Taten ich nicht trau,

Armes Franken musst du darben,

Bei dieser Herrschaft Weiß und Blau.

à Bankrott, mit dir, du Bayernvolke,

Wenn ihr Franken nicht verehrt.

Stets in Zwietracht sind geschieden,

Wut in unsren Herzen gärt.

Dass von der Donau bis zum Maine,

Bis hin zum kleinsten Franken-Gau,

Rot-Weiß sich niemals je vereine,

Mit den Farben Weiß und Blau.

à Gott mit uns, ja Gott mit Franken,

Die wir sind ein deutsch‘ Geschlecht,

Treu beschützen und bewahren,

Uns’rer Stämme altes Recht.

Oh, wie würden wir gern feiern,

Jeder Mann und jede Frau,

Unabhängig von den Bayern,

Frei von Weiß und frei von Blau.

Bruno Fuchs hatte zu Ende gesungen. Die Menge auf dem Rathausplatz tobte begeistert. „Bravo!“ „Zugabe!“ „Mier woll’n a freies Frangn!“ „Nieder mid die Bayerngrübbl!“, schrie auch Kunni Holzmann in die Menge. Jupp Hochleitner, das etwas spinnerte Röttenbacher Original, Hans-Dampf in allen Gassen und Mitglied in inzwischen sechsundzwanzig Vereinen, politischen Parteien, Stammtischen und sonstigen, lokalen Interessengruppen schwenkte seine Fahne und rief: „Numal! Dees woar su schee!“ „Ja, sings numal Bruno!“, riefen auch andere Umstehende. Bruno Fuchs fühlte sich wie ein gefeierter Volksheld. Vorsorglich hatte er fünfzig Textkopien seiner Fränkischen Bayernhymne vorbereitet und verteilte sie unter den Anwesenden. Die formierten sich zu Dreier- und Vierergruppen. Jeweils einer hielt das Blatt Papier von sich. Die anderen sahen gespannt auf den Text. Dann setzte erneut die Röttenbacher Blasmusik ein. Die ersten Töne erklangen aus den Instrumenten, und unter der Führung von Bruno Fuchs erklang es erneut aus einhundertsechsundsiebzig fränkischen Röttenbacher Kehlen:

 

à Bankrott, mit dir, du Land der Bayern,

Geraubte Erde, Frankenland, …

Am Rand des Rathausplatzes standen zwei vor vielen Jahren nach Röttenbach zugezogene Berliner, sahen und hörten zu, und unterhielten sich. Herr Lutz Motzke war zwanzig Jahre für Siemens in Erlangen tätig und hatte in den letzten drei Jahren seiner beruflichen Karriere eine leitende Funktion in der Kommunikationsabteilung des Sektors Industrie begleitet. Seit einem Jahr genoss er sein Leben als Pensionär und hatte nicht vor, nach Steglitz zurückzukehren.

Sein Gegenüber und Nachbar, Herr Horst Feuerklee aus Spandau, verbrachte den Löwenanteil seines aktiven Berufslebens in der Abteilung Rechnungswesen bei Adidas in Herzogenaurach, bevor er vor zwei Jahren zwangsverabschiedet wurde.

„Sach ma“, begann Lutz Motzke und kratzte sich am Kopf, „die Rede war ja det reenste Vagnüjen. Haste wat verstanden?“

„Nee“, erwiderte sein Nachbar, „det war pille palle. Da vastehste rein jarnüscht.“

„Da kannste Jift druff nehmen“, bestätigte Lutz Motzke, „uff die Schnelle jesacht is dit mir schnurzpiepejal. Dit juckt mir nich. Im Jejenteil, ick lach mirn Ast übern Dialekt der Einjeborenen. Det reinste Amüsemang. Stehste da wien Öljötze und verstehste nüschd. Sach ma, wolln wa een Zischen jehn?“

„Klar, komm machen ma den Abjang, jehn ma zum Sauer, der hat wenjigsdens en jutes Bier, keene Pullabrause. Mann o Mann, is det aba warm heute, wa?!“

Auf dem Rathausplatz forderten einhundertsechsundsiebzig mittelfränkische Kehlen: „Zugabe, Zugabe!“

Erlangen, Bohlenplatz, Freitag, 6. Juli 2012

Es war um die Mittagszeit, Kuno Seitz saß auf seiner Bank. Die Sonne schien vom azurblauen Himmel. Insgeheim hoffte er, dass Till Stemmmann ihn hier suchen würde. Seit Sonntag hatte er seinen neuen Gönner nicht mehr gesehen. Im Nachhinein ärgerte er sich, dass er bei ihrem letzten Treffen so viel gesoffen hatte. Till Stemmann musste eine schöne Meinung über ihn haben. Er fröstelte. Seit heute Morgen hatte ihn eine leichte Übelkeit befallen, welche sich im Laufe des Vormittags steigerte. Es fing mit leichten Kopfschmerzen an, welche sich innerhalb kürzester Zeit auf seine Augen ausbreiteten. Seitdem nahm der Druck auf seine Augäpfel ständig zu, und die Schmerzen strahlten in seinen gesamten Hinterkopf aus. Poch, Poch, Poch. Dieses kurze, rhythmische Pochen war kaum mehr auszuhalten. Als er zusätzlich eine stärker werdende Benommenheit verspürte, rechnete er diese dem Essen zu, welches er sich am Mittwoch von der Erlanger Tafel geholt hatte. Irgendetwas musste verdorben gewesen sein. Wahrscheinlich der Leberkäse. Er hatte ihm ohnehin nicht geschmeckt. Ihm war kalt. Trotz der angenehmen Temperaturen. Dann stellten sich auch noch Muskelschmerzen ein. Alles tat ihm weh. Der ganze Körper schien zu rebellieren. Nicht nur, dass sein Kopf schmerzte, er fühlte sich auch noch heiß an. Er musste glühen, wie eine reife Tomate. Dabei fror ihn immer noch. Ein Schluck Wodka wäre jetzt recht! Er zog sein grünes Jackett enger um seinen Oberkörper. Verdammte Scheiße, jetzt wurde er tatsächlich auch noch krank. Mitten im Sommer! Ein Gefühl von Schüttelfrost überfiel ihn. Wie schön wäre es jetzt, ein festes Dach über dem Kopf zu haben und ein weiches Daunenbett, in welches man sich kuscheln konnte. Ganz zu schweigen von einer heißen Dusche und frischen Klamotten. Er erhob sich stöhnend und schob seinen Einkaufswagen in Richtung Innenstadt. Jeder Schritt tat ihm weh. Drüben in Alterlangen war vor acht Wochen eine neue Großbaustelle eingerichtet worden. Die Tiefgaragen waren im Rohbau nahezu fertig. Heute, am Freitag, machten die Bauarbeiter bereits um fünfzehn Uhr Feierabend. Dorthin, so hatte er eben beschlossen, wollte er sich über das Wochenende zurückziehen, um hoffentlich ungestört die beiden nächsten Tage zu verbringen. Er würde sich in seine schmuddeligen Decken einhüllen, die er in seinem Wagen vor sich herschob, und versuchen zu schlafen. Bestimmt gab es dort auf der Baustelle Styroporplatten, die er als Matratze benutzen konnte. Am Montag würde er bestimmt wieder auf dem Damm sein. Er konnte es sich nicht leisten, den kranken Mann zu spielen. Mitten im Sommer! Was erst, wenn der nächste Winter vor der Tür steht? Die leichte Rötung unter der Haut seines rechten Handrückens fiel Kuno Seitz gar nicht auf. Zu sehr war er darauf bedacht, möglichst schnell sein Ziel zu erreichen. Bis dorthin war es noch ein langer Weg, und das Laufen fiel ihm immer schwerer. Immer öfter musste er stehen bleiben, um eine kleine Pause einzulegen. Wenn nur die verdammten Schmerzen in seinem Kopf nicht wären. Als er den Regnitzgrund erreichte, schien die Sonne mit voller Kraft vom wolkenlosen Himmel. Er wunderte sich, wie leicht die Menschen bekleidet waren, die ihm begegneten. Ihm war total kalt.

Derweilen wüteten die Krim-Kongo-Fieber-Viren in seinem Körper weiter und leisteten ganze Arbeit. Kuno Seitz hatte keine Ahnung, dass er dem Tod bereits ins Antlitz sah.

Eine Woche später, Staatsstraße 2240, unter der Brücke über dem Rhein-Main-Donau-Kanal, Freitag, 13. Juli 2012

Die Blaulichter eines Notarztwagens des BRK und eines Streifenwagens der Erlanger Verkehrspolizei blinkten gegen den nackten, grauen Beton unterhalb der Brücke. Es war acht Uhr morgens. Ein früher Jogger hatte die Polizei mit seinem Mobiltelefon zum Einsatzort gerufen. Dem Mann, der gekrümmt am Boden lag, war nicht mehr zu helfen. Der herbeigerufene Notarzt stellte nur noch seinen Tod fest. Ein offensichtlich ungewöhnlicher Tod. Die Handoberflächen des Toten zeigten offene Wunden die bluteten. Auch im Gesicht waren ähnliche Blutungen unter der Haut erkennbar. Erbrochene, halbverdaute Speisereste breiteten sich in einer blutigen, zwischenzeitlich getrockneten Masse gleich neben dem Leichnam aus. Der Mann musste auch blutigen Urin gelassen haben. Jedenfalls lag diese Vermutung nahe, wenn man seine im Schritt rot durchtränkte Hose betrachtete. Überdies handelte es sich bei ihm sicherlich um einen Landstreicher oder Obdachlosen. So wie der aussah und was der alles mit sich führte, lag dieser Rückschluss mehr als nahe.

„Vorsicht, nichts anfassen!“, warnte der Notarzt die Polizeibeamten, welche sich der Leiche näherten. „Ich bin mir nicht sicher, welche Todesursache hier vorliegt. Keine Ahnung, aber die ganze Angelegenheit könnte ansteckend sein. Das könnte eine Sache für die Gesundheitsbehörden sein. Die Leiche muss jedenfalls obduziert und die Todesursache festgestellt werden. Fremdverschulden scheint mir nicht vorzuliegen. Halten Sie sich lieber etwas von dem Toten entfernt. Ich werde den Abtransport des Leichnams in die Pathologie veranlassen, sowie eine behördlich angeordnete Obduktion.“ Der Mediziner griff zu seinem Mobiltelefon, wählte eine gespeicherte Telefonnummer und führte ein kurzes Gespräch. „Alles klar, der Verstorbene wird in Kürze abgeholt. Bleiben Sie noch so lange hier, bis der Leichenwagen kommt?“

Noch am gleichen Nachmittag landete der Leichnam von Kuno Seitz auf dem Edelstahltisch von Dr. Niethammer im Pathologischen Institut der Universität Erlangen. Der Mediziner erhielt vorher einen Anruf des Notarztes, welcher den Toten am Fundort kurz untersucht hatte. „Ich bin mir nicht sicher, verehrter Herr Kollege, was der Grund für den Exitus ist, aber ich würde mich nicht wundern, wenn eine meldepflichtige Erkrankung vorliegt. Seien sie deshalb vorsichtig im Umgang mit der Leiche!“ Dr. Niethammer war vorgewarnt und bedankte sich für den gut gemeinten Hinweis und das Engagement des Notarztes. Dann machte er sich an die Arbeit. Er betrachtete den Leichnam ganz genau von allen Seiten. Der Kollege schien nicht Unrecht zu haben. Die Haut auf dem Rücken des Toten war eine einzige oberflächlich blutende Wunde. Selbst der Gaumen wies blutende Merkmale auf. Das Ganze ließ die Vermutung auf ein hämorrhagisches Fieber zu. Nachdem er den Leichnam ausgiebig betrachtet und seine Kommentare auf Band gesprochen hatte, öffnete er mit einem Y-Schnitt vorsichtig den Körper der Leiche. Nach zwei Stunden schwerer Arbeit und nachdem er die ersten Untersuchungsergebnisse vorliegen hatte, war für ihn die Todesursache klar: Tod durch multiples Organversagen, im Einklang mit schwerer Anämie, ausgelöst durch hämorrhagisches Fieber. Als er mittels RT-PCR, der molekularbiologischen Methode für die Bestimmung von Viren-RNA, endgültig Sicherheit gewonnen hatte, griff er sofort zum Telefonhörer und rief seinen Chef, den Leiter des Pathologischen Instituts an. „Herr Prof. Dr. Theimer, ich habe keine guten Nachrichten. Auf meinem Seziertisch liegt eine Leiche, die mit dem Krim-Kongo-Fieber infiziert ist.“

„Sind Sie sich sicher?“

„Absolut! Die Ergebnisse des Nukleinsäureamplifikationstests sind eindeutig. Alles deutet auf Stiche durch Hyalomma-Zecken hin.“

„Guter Gott, die gibt es doch bei uns gar nicht!“

„Eben, das macht die Sache ja so mysteriös.“

„Halten Sie sich zur Verfügung! Ich werde alle weiteren notwendigen Schritte veranlassen.“ Dann löste Prof. Theimer eine Lawine aus. Zuerst rief er den Leiter des Gesundheitsamtes in der Schubertstraße an. Der stellte die gleiche Frage, „Sind Sie sich sicher?“, und informierte anschließend das Bayerische Staatsministerium für Umwelt und Gesundheit. Schließlich wurde von dort die Nachricht an das Robert-Koch-Institut in Berlin weitergegeben. Die Telefondrähte liefen heiß. Crimean-Congo-Haemorrhagic-Fever oder kurz CCHF, wie es die Ärzte nennen, ist eine meldepflichtige Krankheit und erfordert die Biosicherheitsstufe 4, die höchste Sicherheitsstufe für gefährliche Viren. Zwei Experten des Robert-Koch-Instituts machten sich Hals über Kopf per Charterflug sofort auf den Weg nach Erlangen.

Zu diesem Zeitpunkt wusste der Mörder, alias Till Stemmann, noch nicht, was er angerichtet hatte. Seit Tagen las er die regionalen Tageszeitungen sehr genau, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis auf Kuno Seitz zu erhalten. Er wartete quasi schon seit mehreren Tagen auf eine Todesmeldung. Sollte der Obdachlose gegen die Zeckenstiche resistent sein? Sollten seine kleinen Lieblinge vielleicht gar nicht zum Stich gekommen sein? Unmöglich. Er würde noch bis Mitte nächster Woche abwarten, dann würde er sich auf die Suche nach Kuno Seitz begeben. Des Mörders Geduld sollte nur noch für einen weiteren Tag auf die Probe gestellt werden. Er war bereits dabei, den zweiten Mordanschlag zu planen, doch die Ausführung hatte noch Zeit. Wie gesagt, er war ein Mensch, der nichts über das Knie brach. Er wollte erst abwarten, was aus Kuno Seitz geworden war.