Viva la carpa! Als die Mafia den Aischgründer Spiegelkarpfen haben wollte

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2

Am Freitag, den 3. Juli 2015, zwanzig Minuten vor einundzwanzig Uhr, stieg im Fränkischen, circa einhundert Kilometer nordwestlich von Amberg, der Mörder von Roserl Hinterwimmer in seinen Audi A3 Quattro. Gerade hatte er sich von seiner Frau Francesca und den beiden Buben, Emanuele und Filippo, verabschiedet. Er hatte eine weite Reise vor sich. Knapp eintausendachthundert Kilometer lagen vor ihm. Seine Route sollte ihn über München, den Brenner, Verona, Florenz, vorbei an Rom und Neapel bis in die italienische Provinz Reggio Calabria führen, inklusive einer Übernachtung auf halber Strecke. Achtzehn Stunden Fahrtzeit hatte er dafür eingeplant, zuzüglich einer Stunde Aufenthalt im nahen Amberg. Dort sollte er auf die Schnelle, so quasi im Vorübergehen, eine ihm unbekannte, oberbayerische Nutte ins Jenseits befördern. Von diesem Zwischenstopp in der oberpfälzischen Metropole hatte Francesca keine Ahnung. Der geplante Mord fiel unter Geschäftliches. Sein Schwiegervater Calippo Antonelli hatte ihn um diese kleine Gefälligkeit gebeten und angedeutet, dass seiner Aufnahme in die Ehrenwerte Gesellschaft damit nichts mehr im Wege stünde.

Francesca und die beiden Söhne standen im Eingangsbereich des riesigen Anwesens und winkten zum Abschied, als der Audi vom Grundstück rollte. Rechter Hand hinter dem verwitterten Gittertor, erhob sich der Fachwerkbau der alten Mühle, welche im Jahr 1348 erstmals im Würzburger Urban, den alten Urkunden zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, erwähnt wurde. Den Dreißigjährigen Krieg hatten die damaligen Gebäude des Anwesens sowie die Kirche im Dorf heil überstanden, während die Schweden den Rest des Ortes niederbrannten. Im Jahr 1722 wurde das Wohnhaus der Mühle als Stein-Fachwerkgebäude erneuert. Noch bis ins Jahr 1953 wurde hier Getreide gemahlen. Gegenüber dem Haupthaus steht der alte Schweinestall, der aus Buntsandstein errichtet wurde, und gleich im rechten Winkel dazu das alte Sägewerk mit seiner anmutigen Fachwerkstruktur. Schon vor einiger Zeit wurde darin weiterer Wohnraum geschaffen, welcher aber modernisiert werden musste. Das hatte noch Zeit. Wenn die Buben größer und selbstständiger werden, wollte das Ehepaar dies angehen, dann hätten die beiden Söhne ihren eigenen Wohnbereich, ihr eigenes Reich und Francesca und ihr Mann wären im Haupthaus völlig ungestört. Damit nicht genug. Weiter hinten auf dem Anwesen steht eine riesige Scheune, ebenfalls aus Sandstein erbaut. Knapp über eine Million Euro hatte der Mann an den Vorbesitzer für die Immobilie bezahlt. Ein Schnäppchen. Nochmals die gleiche Summe plante er für die vollständige Renovierung des Anwesens auszugeben. Dennoch … wie gesagt, ein echtes Schnäppchen. Das Mühlenrad, welches im Jahr 2013 durch das Jahrhunderthochwasser der Aisch zerstört wurde, wollte er noch dieses Jahr wiederherstellen lassen. Danach würde es an das Haupthaus und den Garten gehen, welcher vor lauter Unkraut nur so strotzte. Selbst der Maulwurf hatte angefangen erste Haufen aufzuschütten. Francesca, er und die Kinder hatten sich auf den ersten Blick in die alte Mühle verliebt, als sie diese zufälligerweise während einer Wanderung durch das Aischtal entdeckten. Vier Monate dauerte es, bis er den Vorbesitzer endlich weichgeklopft hatte und dieser bereit war, das ganze Anwesen zu verkaufen.

Nach ungefähr zwei Kilometern setzte der neue Mühlenbewohner den Blinker rechts und lenkte den Audi von der schmalen Straße auf die vorfahrtsberechtige B 470. Kaum zehn Minuten später erreichte er den zentralen Kreisverkehr in Höchstadt an der Aisch und warf einen Blick auf Fridolin, den größten Steinkarpfen der Welt, der dort, aus Muschelkalk gehauen, mitten auf dem Kreisel stand. Fast drei Meter lang, einen Meter und siebzig Zentimeter hoch und nahezu drei Tonnen schwer, blickte Fridolin stadteinwärts in Richtung der Aisch. Als der Audi die steinerne Skulptur halb umrundet und sich wieder in die B 470 eingeordnet hatte, gab der Fahrer Gas und beschleunigte den Wagen wieder. Seine Gedanken beschäftigten sich mit dem Auftragsmord, den er in Amberg erledigen sollte, bevor er sich auf seine eigentliche Reiseroute begab. Weder kannte er Roserl Hinterwimmer von einem früheren Treffen in Wolfrathshausen noch war er auf einer Geschäftsreise in Prag unterwegs, und Rolf hieß er schon gar nicht. Auch eine Anaconda nannte er nicht sein Eigen. Mühlenbesitzer war er auch nicht, denn die Immobilie war im Grundbuchamt bewusst auf den Namen von Francesca eingetragen. Francesca Antonelli, nun alleinige Eigentümerin des altertümlichen Anwesens und Tochter von Calippo Antonelli, einem mächtigen Boss der kalabrischen Mafiaorganisation Ndrangheta. Er war der Geldgeber für den Kauf der Immobilie.

Zu seinem ersten Zwischenstopp in Amberg rechnete der Auftragsmörder mit einer kurzen Fahrzeit von einer Stunde und zehn Minuten. Konservativ gerechnet. Die Autobahn nach Amberg war normalerweise nicht stark befahren. Im Handschuhfach lag seine halbautomatische Selbstladepistole Colt 1911 A1, Kaliber 45, nebst Schalldämpfer. Keine zehn Minuten später fuhr er auf die Autobahnauffahrt Höchstadt-Ost in Richtung Nürnberg. Als die Autobahn kurz vor der Anschlussstelle Tennenlohe von zwei in drei Spuren überging und sich die Lkws auf die rechte Spur verzogen, ging es deutlich schneller voran. Die Landschaft flog an ihm vorbei. Über der Fahrbahn flimmerte immer noch die Hitze des Tages. Er stellte die Klimaautomatik auf angenehme einundzwanzig Grad ein. Es dauerte nicht lange, bis er von der A3 auf die A6, die Europastraße 50, wechselte. Der Lkw-Verkehr löste sich immer mehr auf.

Bei Amberg-West verließ der Mörder die Autobahn, fuhr die Stadt über die Bundesstraße 299 an und wechselte dann auf die Nürnberger Straße. Er lag gut in der Zeit. Ein kurzer Fußweg in die Innenstadt lag noch vor ihm. Er hatte nicht die Absicht in der Altstadt zu parken, geschweige denn in der Nähe des Eh’Häusls. Am Anfang des Kaiser-Wilhelm-Rings bog er in die Kugelbühlstraße ab und begab sich auf Parkplatzsuche. In der Luitpoldstraße wurde er schließlich fündig. Er stellte den Motor ab und stieg aus. Obwohl die Sonne längst hinter dem westlichen Horizont verschwunden war, stand die heiße Luft noch immer in den Straßenzügen. Das Thermometer in seinem Wagen hatte immer noch dreißig Grad Außentemperatur angezeigt. Trotz der Hitze steckte er sich eine Marlboro zwischen die Lippen und machte sich auf seinen Weg in die Altstadt. Auf Höhe des Wingerheimer Tores überquerte er den Kaiser-Wilhelm-Ring. Er fühlte, wie ihm der Schweiß das Rückgrat hinablief. Sein dunkelblaues Adidas-T-Shirt zeigte auch auf der Vorderseite schon die ersten Schweißflecken. Sein Jackett, in welchem seine Pistole schlummerte, trug er über dem linken Unterarm. Er schmiss die Zigarettenkippe achtlos in einen Gully. Drüben auf der anderen Straßenseite, wählte er den Weg durch die Steinhofgasse und gelangte schließlich über den Rossmarkt zur Georgenstraße. Das Eh’häusl lag nun ganz in der Nähe. Der Mörder legte eine kurze Verschnaufpause ein. Wie gerne hätte er jetzt in einer Kneipe ein kühles Weizenbier genossen, aber das Risiko, dass sein Gesicht in irgendeinem oberpfälzischen Gehirn abgespeichert wurde, wollte er nicht eingehen. Er setzte seinen Gang fort und tauchte in die enge Viehmarktgasse ein. Kurz danach befand er sich bereits in der Seminargasse. Noch einhundert Meter.

*

Während ihr Mörder noch zu ihr unterwegs war, genoss Roserl das erste und letzte ausgiebige Whirlpool-Bad ihres Lebens. Dem gekühlten Schampus konnte sie nicht widerstehen. Zu verlockend kondensierte die Kälte auf der grünen Flasche, als sie den Champagner aus dem Kühlfach nahm. Sie ließ Wasser in die Whirlpool-Wanne, ließ es ordentlich sprudeln und schaltete die wechselnden Lichteffekte ein. Nachdem sie die Champagner-Flasche mit einem tiefen Plopp geöffnet, einen ordentlichen Zug aus der Pulle genommen und dann laut gerülpst hatte, stieg sie in das sprudelnde Wasser. Die Flasche mit dem edlen Getränk stellte sie griffbereit auf dem Fliesenfußboden vor der Wanne ab. Sie dachte über ihr bisheriges Leben nach. Prahlen konnte sie damit nicht: Eine äußerst dürftige und mäßige Abiturnote und ein völlig verkorkstes Italoromanistik-Soziologie-Studium war das einzig Wesentliche, was sie vorzeigen konnte. Vor Antritt des fünften Semesters meinte sie ein Jahr in Rom verbringen zu müssen. Eindrücke von Land und Leuten gewinnen, Sprache verbessern, so waren seinerzeit ihre Gedanken. Heute gestand sie sich ein, dass sie damals von der Uni einfach nur die Schnauze voll hatte. Sie musste einfach mal raus aus diesem Lehrsaalmief. Nicht sie gewann Eindrücke von Land und Leuten, sondern die jungen römischen Männer gewannen Eindrücke von ihr. Sie landete quasi mit jedem im Bett, den sie kennenlernte. Bis Luigi kam. Luigi Antonelli aus dem süditalienischen Dorf Platì, in der Stiefelspitze Italiens gelegen. Luigi schmiss mit Geld nur so um sich. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Dafür schenkte sie ihm ihren jungen, aufregenden Körper. Vergessen waren Uni und Studium. Drei Wochen nach dem Kennenlernen zog sie in seine exklusive Junggesellenwohnung nahe der Spanischen Treppe ein. Fortan führte Roserl ein wildes Leben voller Partys, Sex und Drogen. Bald stand sie auf Koks und zog sich regelmäßig eine Linie in die Nase. Luigi schien direkt an der Quelle des Kokains zu sitzen. Woher das viele Geld kam, konnte sie sich nicht erklären, denn ihr Lover ging keiner geregelten Arbeit nach. Aber das interessierte sie auch nicht wirklich. Die Kohle war einfach da. Ihr Lebensgefährte bekam viel Besuch. Männlichen Besuch. Meist zwielichtige Gestalten. So sahen sie jedenfalls aus. Manchmal sah sie auch eine Schusswaffe in einer Art Körpergürtel unter einem Jackett stecken. Luigi beruhigte sie. »Alles Privatdetektive meiner Kanzlei«, erklärte er ihr, »kein Grund zur Sorge.« Sie lebte weiter sorglos in den Tag hinein, bis zu dem Tag, an dem sie Anna traf. Eine von Luigis Ex-Freundinnen.

 

»Hör zu, was ich dir sage, denn ich sage es nur ein einziges Mal«, warnte Anna sie. »Du lebst gefährlich. Luigi ist ein hohes Tier in der Mafia-Organisation der Ndrangheta. Er geht über Leichen. Wenn du ihm überdrüssig wirst, lässt er dich fallen wie eine heiße Kartoffel. Ich weiß, wovon ich rede. Ich hätte mein Verhältnis zu ihm fast mit dem Leben bezahlt. Hier, sieh her«, forderte sie Roserl auf, schob ihr T-Shirt über dem Hosengürtel hoch und ließ die Deutsche ihre grausam verstümmelte und vernarbte Bauchdecke sehen.

»Was ist das?«, zuckte Rosi angeekelt zurück.

»Ein Säureanschlag«, erhielt sie zur Antwort, »nur so zur Warnung. Ich kann froh sein, dass er mich nicht umgebracht hat.«

»Was hast du ihm angetan?«

»Ich? Nichts. Ich stand ihm lediglich im Wege. Für eine neue Beziehung. Eine Asiatin aus Hongkong hatte es ihm angetan. Nach sechs Monaten mit ihm zusammen sprach sie von Hochzeit. Zwei Monate später wurde sie von einem Lkw überfahren. Natürlich tot. Der Unfallfahrer wurde bis heute nicht gefunden. Ich kann dir nur raten, hau ab, solange noch Zeit dazu ist.«

Roserl glaubte ihr kein Wort. Aus Anna sprach der blanke Neid. Verletzte Gefühle. Dennoch, ein kleines Gefühl von Misstrauen war in ihrem Innersten gesät. Fortan betrachtete sie das Verhalten ihres Freundes mit einer gewissen Skepsis, ohne sich etwas anmerken zu lassen – wie sie glaubte. Als sich der Arm des Gesetzes nach Luigi ausstreckte, wäre es fast zu spät gewesen. Sie schaffte gerade noch rechtzeitig den Absprung. Dass sie sich bereit erklärte, mit der römischen Justiz zusammenzuarbeiten, rechnete sie ihrem Eigeninteresse zu, mit einem blauen Auge aus der ganzen Scheiße herauszukommen. Was Luigi alles auf dem Kerbholz hatte, nun darüber wusste sie nichts Genaues, aber einige von Luigis Besuchern erkannte sie wieder, als man ihr die Fahndungsfotos und Verbrecherkarteien vorlegte. Und dass Luigi über unerschöpfliche Kokainvorräte verfügte, wusste sie auch. Sie sang wie eine Amsel in der Abendsonne. Erst danach ließen die italienischen Behörden sie ziehen. Nach Bad Tölz wollte sie nicht zurück. So entschied sie sich für das nahe gelegene Wolfratshausen. Das kannte sie, lag ja nicht weit von ihrer Heimatstadt entfernt. Damals überlegte sie, wie es mit ihr weitergehen sollte. »Was beherrschst du am besten?«, fragte sie sich selbst. Sie überlegte intensiv und lauschte ihrer inneren Stimme. »Bumsen«, sagte ihr die Stimme. »Womit kannst du am schnellsten und leichtesten Geld verdienen?« Egal, welche Fragen sie sich stellte, die Antworten waren immer die gleichen: Bumsen. »Außerdem brauchst du genug Kohle, um dir Stoff zu besorgen«, verriet ihr ihre innere Logik.

So stieg sie in das horizontale Gewerbe ein. Von irgendetwas musste der Mensch ja schließlich leben. Auch wenn sie niemandem verriet, dass sie sich in die Stoiber-Stadt flüchtete und später in die Oberpfalz umzog, hatte sie der lange Arm der Behörden doch gleich wiedergefunden. Vor Tagen, als sie Rolfs Nachricht vorfand, lag eine weitere Nachricht in ihrem Briefkasten. Von der Staatsanwaltschaft in Rom. Darin wurde sie informiert, dass das aufwendige Ermittlungsverfahren gegen Luigi Antonelli nunmehr endgültig abgeschlossen sei und ihm ein langwieriger Gerichtsprozess bevorstünde. Sie, Roserl Hinterwimmer, habe damals eine mehrmonatige intime Beziehung zu dem Angeklagten unterhalten, habe Kokain von ihm bezogen und verkonsumiert und werde hiermit als eine wichtige Zeugin der Staatsanwaltschaft berufen. In dem Schreiben wurde sie aufgefordert, sich am 13. August dieses Jahres bei Oberstaatsanwalt Dr. Fernando Vincelli, Via de Campone 3, zu melden. Dieser Vorladung sei unbedingt Folge zu leisten, hieß es. Ansonsten … Es folgten Hinweise auf ein Sammelsurium von Paragrafen, welche Roserl nichts sagten. »So ein Scheiß«, entfuhr es ihr in dem blubbernden Schaumbad, als ihr der Brief der römischen Staatsanwaltschaft wieder durch den Kopf ging, »wie haben die mich bloß gefunden?«

Dass es neben Dr. Fernando Vincelli auch andere Leute gab, welche ebenfalls ein gewisses Interesse an ihrer Person haben könnten, nun auf diese Idee kam Roserl nicht, als der Champagner tief in ihrem Hals prickelte. Il Tedesco, der Deutsche, hatte schon vor Monaten den Auftrag erhalten Roserl ausfindig zu machen. Seitdem klebte er auf ihrer Spur und war ihr näher und näher gekommen. Aber wie gesagt, davon hatte Roserl keine Ahnung. Für sie war die Episode Rom gedanklich längst ad acta gelegt. Bis vor wenigen Tagen eben, als sie den Brief der römischen Justiz in ihrem Briefkasten vorfand. Auch Il Tedesco – alias Rolf – hatte sie gefunden und war auf dem Weg zu ihr. Die Ndrangheta hatte mit ihr noch eine offene Rechnung zu begleichen. Dass die Roserl bald gegen ihren früheren Liebhaber aussagen sollte, gefiel den Clans der Ehrenwerten Gesellschaft überhaupt nicht. Der Auftragskiller war bereits in der Stadt, das Leben von Rosi Hinterwimmer keinen Pfifferling mehr wert. Noch plantschte sie im sprudelnden Whirlpool, dachte an eintausend Euro und an eine Anaconda. Ihre Lebensuhr tickte nur noch eine halbe Stunde.

*

Mit großen Schritten brach die Nacht endgültig über Amberg herein und schlich sich in die historische Altstadt. Die Seminargasse war menschenleer. Die Hitze staute sich noch immer in der schmalen Straße. An Abkühlung war nicht zu denken. Der Mörder legte seinen mit einem Tempotaschentuch umwickelten Daumen auf den Klingelknopf des Eh’häusls. Drinnen ertönte ein helles Ding-Dong. Dann rührte sich etwas im Haus. »Ich komme«, hörte er eine weibliche Stimme rufen. Sekunden später öffnete sich die Tür.

»Hallo, ich bin der Rolf«, hörte er sich sagen.

»Komm rein, ich habe schon auf dich gewartet«, antwortete der attraktive, rothaarige Wuschelkopf, in ein transparentes schwarzes Nichts gekleidet. Deutlich stemmten sich zwei rosafarbene Brustwarzen gegen den leichten, durchsichtigen Stoff. »Wie geht es deiner Anaconda?«

»Die ist gerade aufgewacht und windet sich hin und her«, antwortete er, dann schloss sich hinter ihm die Tür.

Roserl musterte den Fremden mit Interesse. Was sie so sah, gefiel ihr. Sie schätzte den Mann mit dem markanten, kantigen Gesicht, den dunkelblauen Augen und dem weiblich geschwungenen Mund auf Mitte dreißig. Schlank, muskulös wirkend und geschätzte einen Meter fünfundachtzig groß. Sie konnte sich nicht an ihn erinnern und haderte erneut mit ihrem unvermögenden Langzeitgedächtnis. »Wie wär’s mit einem erfrischenden, prickelnden Entspannungsbad zur Begrüßung?«, gurrte sie. »Bei einem Gläschen Schampus? So weit mir bekannt ist, lieben Anacondas das Wasser.«

»Keine schlechte Idee«, lächelte Rolf sie offen an. Eine sympathische junge Frau. Gut aussehend, sexy und irgendwie hyperaktiv. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen schienen ihr nicht zu fehlen und sexuelle Hemmungen hatte sie sowieso nicht.

»Ich gehe schon mal vor. Ganz oben unter dem Dach wartet unser Schaumbad. Ich habe das Wasser schon eingelassen. Zieh dich doch aus. Ich warte auf dich und deine Würgeschlange, dann können wir uns darüber unterhalten, was wir die nächsten Stunden so alles treiben«, kicherte Rosi und ließ dabei ihr transparentes Nichts von der Schulter gleiten. Mit dem nackten Po wackelnd stieg sie lasziv Stufe um Stufe empor und schnalzte dabei mit der Zunge. Keine Minute später drangen dumpf blubbernde Geräusche von oben in das Kaminzimmer herab.

Der Mörder ließ sich Zeit. Er stand vor dem künstlichen Kamin und sah sich um. Dann schraubte er den Schalldämpfer auf seine Colt 1911 A1 und vergewisserte sich, dass das Magazin auch geladen war. Er entsicherte die Pistole, zog den Schlitten zurück und ließ eine Patrone in die Patronenkammer gleiten. Auf der gläsernen Tischplatte vor dem Kamin bemerkte er feine Reste eines weißen Pulvers. »Sieh an, sieh an«, murmelte er. Dann zog er seine Schuhe aus und machte sich lautlos auf den Weg nach oben. Die Schusswaffe in der Rechten hielt er hinter seinem Rücken verborgen. Irgendwie tat ihm diese lebenslustige Nutte leid. Sympathisch attraktiv und zum Sterben viel zu jung. Schade um sie. Er hatte keine Ahnung, was sie verbrochen, was sie angestellt hatte, um sich den Zorn der Ndrangheta zuzuziehen. »Finde sie und töte sie«, hatte sein Schwiegervater vor ein paar Monaten zu ihm gesagt. Warum, weshalb? Keine Ahnung. Es interessierte ihn auch nicht. Wozu? Er hatte eine Aufgabe zu erledigen, seine ganz persönliche Prüfung. Mehr nicht.

»Oh, du bist ja noch gar nicht ausgezogen«, ermahnte ihn die nackte Rosi Hinterwimmer enttäuscht, welche in einem riesigen, blubbernden Schaumbad-Berg lag, der sich mal in rot, blau, grün, gelb und weitere Farben verwandelte. »Du musst dich nicht genieren. Komm rein, ich wasch dir den Rücken, und nicht nur den«, lockte sie. Dann sah sie dem Mann, der vor ihr stand, in die blauen Augen, welche sie mit Eiseskälte anstarrten. Er machte nicht die geringsten Anstalten, sich seiner Kleidung zu entledigen. Er starrte sie nur an. Plötzlich begann ihr Herz zu rasen. Ihr inneres Alarmsystem war in Aufruhr. Todesangst schnürte ihr mit einem Schlag die Kehle zu. Ihr Besucher hatte nicht das geringste Interesse, zu ihr in die Wanne zu steigen. »Was ist …? Du bist nicht Rolf … und wir haben uns vorher auch noch nie gesehen …! Was willst du?« Roserl starrte den Fremden mit weitaufgerissenen Augen an. Ihre Pupillen rasten panisch hin und her. Ihre Hände tauchten in einer hektischen Abwehrreaktion aus dem Schaumberg auf. Sie wollte sich aufsetzen. Zu spät. Blitzschnell hielt ihr der Mann den Lauf seiner Pistole an die rechte Schläfe. »Warum?«, flüsterte sie, dann ertönte ein dumpfes Plopp und Rosi Hinterwimmers Kopf wurde von einer unsichtbaren Macht zur Seite gerissen. Das abgefeuerte Geschoss fegte durch ihr Gehirn und schlug in die geflieste Wand. Auf Roserls linker Kopfhälfte klaffte ein blutiger Trichter, aus dem eine rosa-graue teigartige Masse aus Blut, Gehirnflüssigkeit, Knochensplittern, Milliarden von Nervenzellen, Hirnrinde und Rückenmark dem Weg des Geschosses gefolgt waren und nun von dem Fliesenspiegel klebrig und zäh fließend in das blubbernde Badewasser krochen. Roserls Körpersekrete verzauberten das aktuelle Gelb des Badewassers in ein schmieriges Rot. Eine Antwort auf ihre Frage bekam sie nicht mehr. Sie war sofort tot. Langsam, wie in Zeitlupe, rutschte ihr lebloser Körper in das immer noch unstet sprudelnde Wasser und versank darin. Ihr Mörder schaltete die Whirlpool-Anlage ab. Dort, wo Roserls Kopf in das Wasser eingetaucht war, schwammen nun Hunderte kleiner roter Schaumblasen und noch immer rannen von den Fliesen winzige Blutbäche in das nun ruhiger werdende Badewasser. Dem Mörder entfuhr ein leises Seufzen, dann begab er sich wieder nach unten in das Kaminzimmer.

*

Während ein eilends herbeigerufener Notarzt sich immer noch um Gerta Brahms kümmerte und auch ein Polizeipsychologe bereit stand, sich ihrer anzunehmen, beugte sich Valentin Rohrmoser, Kriminalhauptkommissar der Mordkommission Regensburg, über die nackte Leiche von Rosi Hinterwimmer. Die Spurensicherung der Kripo hatte das Badewasser abgelassen und ihre Arbeit im obersten Stockwerk des Eh’häusls abgeschlossen. Nun suchten sie auf den restlichen fünf Etagen nach verwertbaren Spuren. Der Rechtsmediziner Dr. Ignaz Bauerreiß stand neben dem Kommissar, dessen buschiger Schnauzer fast die Nase des Opfers berührte. Rohrmoser kniete vor der Badewanne und betrachtete die Leiche aus nächster Nähe. Sein Bauch hing über der viel zu engen Jeans und auch die Knöpfe seines weiß-blau karierten, kurzärmeligen Hemdes drohten demnächst die Fäden, die sie noch hielten, wegzusprengen. Die unbequeme Körperhaltung schien ihn anzustrengen. Über seiner Glatze zog sich ein dünner Schweißfilm. »Eindeutig ein aufgesetzter Kopfschuss«, kommentierte der Rechtsmediziner ungefragt. »Hier, sehen Sie die Schmauchspuren rund um die Einschusswunde? Immer noch gut zu erkennen, obwohl die Leiche im Wasser gelegen war.«

»Todeszeitpunkt?«, knurrte der Kommissar unter seinem Schnauzbart hervor.

»Ich schätze zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht«, antwortete Ignaz Bauerreiß. »Noch unverbindlich«, setzte er hinzu. »Genaueres kann ich Ihnen erst nach der Leichenschau sagen. Die Todesursache ist allerdings eindeutig: Der Schuss in die rechte Schläfenregion. Schusskanal, Knochenfragmente und das in der Wand steckende Projektil sprechen eine eindeutige Sprache. Glatter Durchschuss. Die Hirnverletzungen waren absolut tödlich. Die Hirnmassenverschiebung nach links hat zu einer Einklemmung am Hirnstamm geführt und somit zum Verlust lebensnotwendiger Funktionen. Aber wie gesagt, die Autopsie müssen Sie schon noch abwarten, bevor …«

 

»Hat scho oaner mit Frau Brahms sprechn könna?«, unterbrach ihn der Kommissar.

»Nur ganz kurz«. Franziska Schuler, Leiterin der SpuSi, kam die Treppe herauf. »Der Mann der Toten, ein Rolf Hinterwimmer, hätte vor drei Wochen telefonisch das Hotel gebucht, hat sie ausgesagt. Der Übernachtungspreis wurde der Hotelverwaltung per Brief zugestellt. Sehr ungewöhnlich. Ach ja, einen fränkischen Dialekt soll er gehabt haben, vermutet Frau Brahms. Ist sich aber nicht absolut sicher. Könnte auch schwäbisch gewesen sein, meint sie. Sie kennt sich da nicht so genau aus.«

»Sehr hilfreich. Sonst noch was?«

»Ja. Die Tote ist gar nicht verheiratet, sondern geht hier in der Seminargasse dem horizontalen Gewerbe nach. Außerdem scheint das Opfer Kokain konsumiert zu haben. Unten im ersten Stock, auf der Glasplatte des Tisches, haben wir Reste von Kokainhydrochlorid gefunden. In ihrer Handtasche befinden sich weitere Tütchen von dem Zeugs«, fuhr Franziska Schuler fort, »aber meine Leute sind mit ihren Untersuchungen noch nicht fertig. In der untersten Etage steht ein reichhaltiges Frühstücksarrangement. Kaffee, O-Saft, Brötchen, Wurst, Käse, gekochte Eier, Joghurt, Früchte und mehr. Alles unangetastet. Hier oben und im Kaminzimmer gibt es jede Menge Fingerabdrücke, aber nur von der Toten. Hinweise auf ihren Mörder haben wir bisher noch nicht, wenn wir davon ausgehen, dass ihr angeblicher Ehemann ein Freier und auch ihr Mörder ist. Wir sind aber noch nicht fertig. Vielleicht finden wir doch noch etwas, was auf den Täter hindeutet.«

»Sie werdn nix findn«, prophezeite der Hauptkommissar. »Hier woar ein Profi am Werk.«

»Kann ich jetzt die Leiche abtransportieren lassen?«, quengelte Doktor Bauerreiß, »ich habe noch jede Menge Arbeit vor mir, und außerdem muss ich mir von der Staatsanwaltschaft noch die Freigabe für die Leichenschau einholen.«

»Hauns scho ab«, merkte der Kripo-Beamte an, »und … Sie habens ja ghört … achtns auf den Kokainnachweis. Wer von Eahna kann mir mehr über die Identität des Opfers derzähln?«

»Am besten, Sie fragen Polizeimeister Franz Muckerer von der hiesigen Polizeiinspektion«, antwortete Frau Schuler. »Dem ist die Tote nicht unbekannt. Von ihm kommt auch der Hinweis, dass die Tote dem horizontalen Gewerbe nachgeht.«

»Nachging«, verbesserte Hauptkommissar Rohrmoser, »sie ging dem horizontalen Gewerbe nach. Etz is sie ja mausetot. Und wo find ich den Kollegen Muckerer?«

»Der steht vor der Haustür und wimmelt die Presse ab.«

»Warts ihr schon in der Wohnung des Opfers?«, wollte der Regensburger noch wissen.

»Witzbold!«, antwortete Franziska Schuler, »wir machen erst hier fertig, dann …«

»Scho guat. Sagts mir Bescheid, wenns ihr dort fertig seids.«