Inmitten der Heide

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Raum ist in der kleinsten Hütte. Das ist einer der vielen Sprüche von Liese. Else übernimmt ihn, ohne dass ihr die Übernahme bewusst ist. Viele, viele Male hat sie ihn gehört. Jetzt gehört er zu ihrem Repertoire. Mit ihrem Heinz bewohnt Else die Räume unter dem Dach. Das Zimmer, in das sich einst Fritz und Heinz teilten, wurde zu einer Kombination von Wohnzimmer und Schlafzimmer. Den anderen leeren Raum verwandelten sie in eine Küche. Der Abfluss ist sehr störanfällig, für Abwasch-Wasser ungeeignet. Schnell ist er verstopft. Deshalb wird alles Wasser in Eimern in den Garten getragen. Unmittelbar am Zaun zu den Feldern wird das Schmutz-Wasser ausgeschüttet, versickert schnell in der Erde. Die beiden kleinen Kammern unter der Dachschräge dienen als Abstell- und Vorratskammer. Mehr Platz ist nicht da. Else ist glücklich. Heinz ist glücklich. Optimal wird das Dachgeschoss genutzt. Viele besitzen viel weniger Wohnraum, oft nur ein kleines Zimmer. Alle Umsiedler müssen sich eine neue Existenz aufbauen. Mit nur wenigen Habseligkeiten sind sie gekommen. Immer wieder betont das Liese. Die Männer finden Arbeit in der Kokerei. Viele der jüngeren Umsiedler-Frauen ebenfalls. Sie nehmen eine Tätigkeit im Büro auf, arbeiten am Fließband, im Stellwerk, in der Küche. Die Einarbeitungszeit ist sehr kurz, endet mit einer Prüfung, die alle bestehen, weil sie motiviert sind und gewillt zu arbeiten.

Vor dem Gartentor sitzt Opa Otto auf seiner Bank und dengelt die Sense, raucht dabei genüsslich seinen Stumpen. Als er die Enkelin bemerkt, informiert er sie, dass die Mutter auf Schicht ist und Heinz im Garten. „Wahrscheinlich gießt er, weil die aus dem Unterdorf noch etwas Wasser für das Oberdorf übriggelassen haben. Und Oma Liese wird am Küchenfenster stehen, auf ihre Maria warten, um die neusten Nachrichten aus der großen weiten Welt in Erfahrung zu bringen.“ Über die nächst gelegenen Kreisstädte sind die alten Frauen nicht hinausgekommen, waren dort bei wohlhabenden Bürgern in Stellung gewesen oder im Dorf verblieben, haben ihr Leben in der Landwirtschaft verbracht. Die Männer haben mehr von der Welt gesehen. Dafür sorgten die beiden Weltkriege. Über einen reichen Erfahrungsschatz verfügen die alten Frauen, wissen alles über das Dorf, wissen über jeden Tratsch und Klatsch Bescheid. Großmutter Liese kommt ihrer Enkelin entgegen. Maria setzt die Taschen ab.

„So ist es fast immer!“, sagt die Großmutter. „Das Schichtsystem zerstört das Familienleben, wenn Mann und Frau in der Kokerei arbeiten. Aber das Leben ist teuer geworden, weil die Ansprüche steigen. Die Leute bekommen den Hals nicht voll! Wollen immer mehr haben! Wo soll das hinführen?“

Mit dem Tagebau sind Liese und Otto aufgewachsen, erlebten das Entstehen der Gruben, die Rodung der Wälder, die Vernichtung der Heidelandschaft, die Abraumhalden, das Verschwinden des Grundwassers, die Verpestung der Luft, die Verschmutzung einer ganzen Region, die Zuwanderung der viele Fremden. Aber der Bergbau brachte den Menschen Wohlstand, ein gesichertes Einkommen. Als die Wende kam, hörte der Verband der Kleingärtner, Siedler und Kleintierzüchter auf zu existieren. Diese Veränderungen hat Else nicht vergessen.

Seine Schritte hört Maria. Langsam, bedächtig, regelmäßig. Wie ein Greis! In ihren Augen schimmern Tränen. So alt ist er doch nicht! Wenn er nicht eine bergmännische Tätigkeit ausgeübt hätte, wäre Heinz noch nicht einmal Rentner. Was soll mit ihm werden! Unmöglich kann sie zurück! Ein Leben auf dem Dorf kann sie sich, ihrer Familie nicht antun. Immer wieder signalisieren Mann und Kinder: Wir bleiben in der Stadt. Maria schiebt das Selbstmitleid beiseite. Es hilft ihr nicht, bringt sie nicht weiter. Mit dem Vater muss etwas geschehen. So kann es auf die Dauer nicht weiter gehen. In der Nacht findet sie kaum Schlaf, grübelt, denkt über die Vergangenheit, über die Zukunft nach. Für die Gegenwart ist kein Platz. Sie hört ihn, sieht ihn vor sich. Ihre Fantasie verfolgt jede seiner Bewegungen. Der Vater geht ihr nicht aus dem Sinn.

Auf der Bettkante sitzt Heinz, unschlüssig, ob er sich ankleiden muss oder ob er im Bett verbleiben sollte, in diesem weichen Sarg mit den vielen Erinnerungen. Er entschließt sich für das Ankleiden. „Wie sind meine Beine schwach geworden!“, stöhnt der alte Mann. „Jeden Augenblick drohen sie in sich zusammenzubrechen!“ Bedächtig, Schritt für Schritt tasten sich seine Beine zum Stuhl. Dort liegt die Wäsche vom vergangenen Tag. Frische Wäsche soll er sich aus dem Schrank holen. Nur ist der Weg bis dorthin weit. Aber mit Maria will er sich nicht streiten. Er ist sich sicher, sie weiß genau, wie viel Wäsche er über die Woche verteilt braucht. Sie schnüffelt in seinen Schränken herum. Sie nennt es kontrollieren. Er mag keine Überprüfung, auch wenn sie gut gemeint sein sollte. Ihn stört jede Veränderung. Die Tochter treibt einen Aufwand. Jedes Wochenende schleppt sie Wäschebündel fort. Jedes Wochenende schleppt sie Wäschebündel heran. Wenn sie damit nicht aufhört, muss er sich noch eine Waschmaschine kaufen. Langsam streift er die Hosen über die morschen, unbeweglichen Beine, die nicht aufhören vor Schmerzen zu jammern. Er könnte ausrasten. Nur bringt das nichts. Veränderungen zum Guten werden nicht die Folge sein. Es wird nur schlimmer. Schlimmer mit jedem Tag. Die Socken stülpt er über die Zehen, die sich verkrampfen, ihn zu einer Pause zwingen. Magnesium-Tabletten sollte er einnehmen. Nur um das zu tun, muss er ein Glas mit Wasser aus der Küche holen. Zu weit ist der Weg! Zu beschwerlich! Den Krampf muss er ohne Tabletten besiegen. Obwohl er seinen Körper beansprucht, friert er. Von den Füßen ausgehend, schleicht die Kälte nach oben. Er darf sich nicht erkälten, nicht krank werden. Eine Unterbringung im Krankenhaus muss er unbedingt vermeiden. Mühsam schlüpft er in die Hemden, streift die Weste über. Noch immer sich taumlig fühlend, treibt es ihn zum Fenster, er reißt es auf. Er will nicht ersticken. In die raue Morgenluft steckt er seinen Kopf. Nach Kokerei riecht sie. Ein Hustenanfall schüttelt und rüttelt ihn. Ohne Vorankündigung! Hastig schließt er das Fenster. Wie zugeschnürt ist die Brust. Dabei sollten sich seine Lungen, sein Körper an diese Luft gewöhnt haben. Zeit seines Lebens atmet er sie ein. Er flucht. Diese Luft wird einmal sein Tod sein! Früher hat sie ihn nicht gestört. Nicht wahrgenommen hat er sie. Jetzt quält sie ihn auf Schritt und Tritt, reizt die Lungen, löst einen Hustenanfall aus, der zum Tagesprogramm gehört. Er flucht. Er soll nicht fluchen. Erst hat es seine Else gesagt, jetzt sagt es die Tochter, sich ständig wiederholend, nicht müde werdend, ihn zu ermahnen. Wie ein kleiner Junge fühlt er sich dann, dem kontinuierlich mitgeteilt wird, was er zu tun und zu lassen hat. Wie lange noch soll er dieses Leben ertragen! Erschreckt hält er inne, flüstert in die Stille: „Was soll noch kommen! Hier bin ich alt geworden. Von hier bekommt mich niemand weg. Nur über meine Leiche!“ Auf wackligen Füßen schwankt sein Körper. In der Küche lässt er sich auf einen Stuhl fallen. Erschöpft fühlt er sich. Dabei hat er noch keine Heldentaten, keine Leistungen vollbracht! Schwer atmet er. Wild pocht das Herz, dröhnt in den Schläfen. Aus den Poren tropft der Schweiß. Die Augenbrauen versagen als Staumauer. Bedrohlich hebt und senkt sich der Brustkorb. „So kündigt sich der Tod an!“, stellt er erleichtert und zufrieden fest. „Mit mir habe ich abgeschlossen. Mit mir bin ich im Reinen. Nichts mehr muss ich regeln! Ohne höflich anzuklopfen, reißt der Tod die Türe auf! Für ihn gelten keine Regeln! Er kommt, wann er will! Vielleicht kommt er auf Bestellung! Ich weiß es nicht, habe zu wenig Erfahrung mit ihm. Nur soll er kein Theater machen! Das hätte mir noch gefehlt!“ Die Beine zittern, die Arme, der gesamte Körper. Selbst der Wille vermag gegen diese Schwäche nichts auszurichten. Seine Hände stützen den Kopf. In seinem Hirn pulst das Blut, wird ihm den Verstand nehmen. Sobald er sich aufrichtet, wird ihm schwindelig. Aufrecht steht er, schleppt sich in die Abstellkammer. Dort hat der Schwiegersohn in Eimern und Körben Holz und Kohle bereitgestellt. Das Bücken fällt ihm schwer. Er hat Angst, er könnte das Gleichgewicht verlieren. Sein Wille zwingt ihn, den Eimer mit Kohle und den Korb mit Holzscheiten in die Küche zu tragen. Zwei Mal legt er den Weg zurück, weil er nur eine Hand zum Tragen freihat. Der Feuerhaken schirkt im Ofen, bis die Asche durch den Rost gefallen ist. Zurückbleibt ein kleines Stück glühende Kohle. Dünne Holzscheite, in der Heide werden sie Kienspäne genannt, schichtet er kunstvoll um das glühende Stück Kohle, beobachtet, wie die Flammen nach dem Holz züngeln. Trocken ist das Holz, hat wenigstens einen Sommer und einen Winter gelagert, bevor der Holzfeim abgetragen wurde. Kunstvoll wurden dann die Holzscheite im Schuppen gestapelt oder an der Hauswand. Zulange darf das Holz nicht liegen, sonst büßt es an Heizwert ein. Heinz genießt den Anblick. Schon als kleiner Junge verfolgte er mit den Augen und Ohren, wie das Holz Feuer fing, wie es knackte und knisterte, Wärme verbreitete. Schlugen die Flammen hoch, legte er drei Stück Brikett auf das hell erleuchtete Holz, lehnte die Türe sanft an, damit Holz und Kohle genügend Sauerstoff zum Atmen bekamen. Nach diesem Prozedere stellt er den Wasserkessel auf die Herdplatte, deckt den Tisch. Für Maria wählt er das Brettchen und die Tasse, die sie benutzte, als sie noch im Haus zu Hause war. Seine Else mochte nicht länger die alten Bestecke auf dem Tisch haben, die den Krieg überlebt hatten. Sie kaufte neue Bestecke, obwohl die alten noch gut waren, tauschte sie aus gegen neue Bestecke, die in ihren Augen appetitlicher aussahen, zumindest war das ihre Meinung. Und die galt in der Küche, im Haus. Er ruft nicht die Tochter zum Frühstück. Irgendwann wird sie schon auftauchen. Auf keinen Fall will er sie stören, unter Druck setzen. Der Kaffee dampft in der Tasse. Heinz wartet, will sich nicht den Mund verbrühen. Ein großes Stück Schwarzbrot schneidet er ab, ein dickes Stück Leberwurst. Jetzt als alter Mann kann er so viel Wurst essen, wie er möchte. Wurst, Käse mit und ohne Brot, so viel er will! Sehnlichst wünschte er sich als Kind Wurst ohne Brot essen zu dürfen. Es wurde ihm verboten. Streng achteten die Eltern auf die Einhaltung der Tischsitten. Jetzt achtet niemand darauf, was er wie isst und trinkt. Niemand weist ihn zurecht, wenn er versucht Wurst ohne Brot zu verspeisen. Finanziell kann er es sich leisten, so viel zu essen und zu trinken, wie er will. Das Kauen bereitet ihm Schwierigkeiten. Die Prothese sitzt nicht richtig. Zum Zahnarzt geht er nicht. Auf andere Gedanken muss er kommen. Er blendet die Gegenwart aus. Die Vergangenheit erwacht zu neuem Leben.

 

Sie hat schlecht geschlafen. Erst gegen Morgen muss sie eingenickt sein. Maria hört seine Schritte, langsam, bedächtig, unregelmäßig. Die junge Frau hat Angst vor der Zukunft, vor dem großen, weißen Haus. In ihm wurde geboren, gestorben. Auf dem Friedhof liegen sie alle begraben bis auf die, die in fremder Erde liegen, wie die Mutter immer sagte. Sie starben fern der Heimat, weil andere das Sagen über sie hatten. Die junge Frau kann sich nicht aufraffen aufzustehen. Sie hat Furcht, Furcht vor dem Vater, Angst, mit ihm zusammen zu treffen. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Sie weiß nur, sie kann ihm nicht helfen. Und das weiß er auch. Welten trennen sie.

Maria will Krankenschwester werden, will Menschen pflegen, sich um sie kümmern, für sie da sein. Bereits in der Grundschule in Stoporsk erwähnt sie diesen Berufswunsch gegenüber ihrer Lehrerin. Die Lehrerin nickt, lächelt und sagt, dass der Beruf einer Krankenschwester ein schöner Beruf sei. Die Lehrerin ist wie alle Lehrerinnen seit dem Ende des Krieges nur für ein Schuljahr im Dorf, dann verlässt sie es. Die Gründe dafür ähneln sich immer wieder. Ihre Lehrerin will heiraten, in die Gegend zurückkehren, in der sie zu Hause ist. Als Maria die neunte Klasse der Polytechnischen Oberschule im Süden der Stadt Grabin besucht, hat sich nichts an ihrem Berufswunsch geändert. Selbstbewusst setzt sie den Berufsberater von ihrem Entschluss in Kenntnis, auch dass sie eine Ausbildung als Hebamme anstrebt. Der Berufsberater befürwortet ihre Entscheidung, findet die Begründung ausgezeichnet, dass sie Babys zum Leben verhelfen will. Er ist auch von ihrem Zeugnis sehr beeindruckt. Nur als es um den Ausbildungsplatz geht, beginnen die Probleme. In Bad Saarow stellt er ihr einen Ausbildungs-Platz in Aussicht, in einem Armee-Lazarett, einem Krankenhaus für Armee-Angehörige. Maria ist schockiert. In einem normalen Krankenhaus will sie ihre Ausbildung absolvieren, nicht in einem Armee-Krankenhaus. Überzeugt ist sie, dass in einem solchen Krankenhaus nur junge Männer liegen und gepflegt werden müssen. Und in einem Krankenhaus, in dem nur Männer sich aufhalten, will sie nicht arbeiten. Sie bittet sich Bedenkzeit aus, die der Berater ihr großzügig gewährt.

„Überleg dir das gut, ob du unter diesen Umständen Krankenschwester werden willst“, sagen Vater und Mutter.

„Überleg dir das gut“, sagen die Großeltern. „Soldaten sind Soldaten. Eine junge Krankenschwester hat es nicht leicht unter ihnen.“

Keiner kann ihr raten, will ihr raten.

Ihr wird die Entscheidung abgenommen. Ihre Freundin Veronika aus Grabin bestürmt sie mit dem Vorschlag: „Wir gehen nach Leipzig, werden Lehrerinnen. Stell dir vor, wir sind Studentinnen. Und dann in Leipzig!“

So wird Maria weder Krankenschwester noch Hebamme. Für sie ist Leipzig nicht nur eine große Stadt, sondern die Messe-Stadt, die Welt. Die Enttäuschung lässt nicht auf sich warten. Ihre Freundin Veronika und sie erhalten einen Brief von dem Lehrerbildungsinstitut. Ihnen wird mitgeteilt, dass keine freien Studienplätze offen stünden, ihnen wird empfohlen, sich an die Henriette-Goldschmidt-Schule zur Ausbildung als Kindergärtnerin zu wenden, vielleicht gäbe es dort noch freie Studienplätze. Ihre Freundin zögert nicht, drängt: „Ehe die Studienplätze dort auch weg sind, bewerben wir uns gleich. Lehrerinnen können wir auch später werden!“

Sie haben Glück. Der Weg nach Leipzig steht ihnen offen. Die Ausbildung zur Kindergärtnerin beginnt. Drei Jahre Studium erwarten sie. Dann folgt die praktische Ausbildung. Marias künftiger Arbeitsplatz steht schon fest. Der Rat des Kreises Grabin plant sie als künftige Mitarbeiterin im Kindergarten ihrer Heimat-Gemeinde Stoporsk ein. Äußerst zufrieden sind die Eltern, die Großeltern mit dieser Entscheidung der lokalen Entscheidungsträger. Die berufliche Zukunft ihrer Tochter, ihrer Enkelin ist abgesichert. Eine sichere Perspektive, ein sicherer Arbeitsplatz, ein lebensnotwendiger erwartet sie. Für Marias Familie steht die Arbeit im Mittelpunkt. Sie ist die erste und wichtigste Pflicht, die getan, die erledigt werden muss. Dass die Erziehung zum sozialistischen Bewusstsein und zur gesellschaftlichen Aktivität im Mittelpunkt steht, ist für die beiden Freundinnen eine Selbstverständlichkeit. Diese Forderung wird nicht hinterfragt, ist Bestandteil ihrer Erziehung, seit sie Schülerinnen sind. Maria wird nicht in Konflikte gestürzt, als sie die Jugendweihe und die Konfirmation in der achten Klasse feiern darf. Der Stoporsker Pfarrer ermöglicht es. In anderen Dörfern, so weiß es Maria, liegt zwischen Konfirmation und Jugendweihe ein Jahr. Die Wahl der Reihenfolge bestimmt der Pfarrer. Veronika wählt nur die Jugendweihe. Ihre Familie bekennt sich offen zum Arbeiter- und Bauernstaat. Veronika wächst ohne Vater auf, kennt ihn nur von Fotos. Irgendwo in der Sowjetunion liegt er begraben. Wie so viele Väter! Als ein neuer Lebensabschnitt für die beiden Freundinnen beginnt, sind sie Mitglied der Freien Deutschen Jugend. Veronika übt bereits eine Funktion innerhalb der FDJ aus. Sie ist Stellvertreterin der FDJ-Sekretärin der 10. Klasse an der Polytechnischen Oberschule. Mit der Angabe dieser Funktion punktet Veronika bei Studien-Aufnahme.

Noch immer liegt Maria im Bett. An ihre Ausbildung als Kindergärtnerin erinnert sie sich. Für sie und später in der Praxis erfuhr sie die Bestätigung. Es war es eine sehr gute, eine fundierte Ausbildung, nicht nur im politischen Sinne. Die Politik, die Ideologie gehörten einfach dazu, waren fester Bestandteil. Keiner dachte in ihrer Studiengruppe über den Sinn, den Zweck einer solchen politischen Ausbildung nach. Sie hatten sie bereits verinnerlicht, sie gehörte zu ihnen wie das Amen in der Kirche. Ihr ist bewusst, sie wurde an dieser Schule zu einer tüchtigen, allseitig gebildeten Kindergärtnerin geformt, die ihren Wissensstand immer auf den neuesten Stand zu bringen hatte. Später kam noch das Parteilehrjahr hinzu, das sie als Kindergärtnerin zu besuchen hatte, unabhängig davon, ob sie der SED als Mitglied angehörte oder nicht.

Für Maria gestaltet sich Leipzig zum Erlebnis. Kein Heimweh verspürt sie. Die Wiesen, Felder und die Wälder mit ihrem Kiefernbestand, aufgelockert durch Birken und Erlen, sind weit weg. Keine Sehnsucht quält sie. Sie weiß, die Eltern führen ihr gewohntes Leben, passen ihren Tagesablauf dem Schichtablauf in der Kokerei an. Die Freundinnen und Bekannten besuchen Berufsschulen. Manche sind wie sie die Woche über in der Fremde. Wie die Montage-Arbeiter, die montags ihr Dorf hinter sich zurücklassen, um am Freitagabend in ihr Dorf zurückzukehren. Bevor sie die Richtung zu Frau und Kindern einschlagen, treffen sich die Männer, die Daheimgebliebenen und die Rückkehrer, im Dorfkrug. Veronika und Maria zieht es nicht zurück in die Niederlausitz. Sie verständigen ihre Familie von ihrem Entschluss, nicht jedes Wochenende die Heimreise anzutreten. Bald fahren sie nur nach Hause, wenn die Kleidung gewechselt, ausgetauscht und gewaschen werden muss oder in den Semesterferien, wenn das Internat schließt.

In den ersten Wochen am Abend durchstreifen die beiden jungen Frauen mit der Straßenbahn die Vororte, wählen immer neue Linien und Ziele, erobern die Stadt, lernen sie gründlich kennen. Es dauert nicht lange, und die beiden Studentinnen verlieben sich in das Corso, ein Café aus Plüsch und Romantik. Dieses Café ist der Treffpunkt vieler Studenten, vor allem die Künstler unter ihnen verabreden sich in diesem beschaulichen, bequemen, ehrwürdigen Ambiente. Nicht lange dauert es, und Veronika kopiert die anwesenden Kunststudenten. Wie sie betritt Veronika mit einer riesigen Zeichenmappe das Café. Maria hält nichts von dieser Vorspiegelung falscher Tatsachen, beschränkt sich auf ihre schlichte Anwesenheit ohne Benutzung irgendwelcher Requisiten. Stundenlang kann sie gemeinsam mit Veronika hinter einer Tasse Kaffee auf der bequemen Polsterung verbringen und das Fluidum wie die anwesenden älteren Damen genießen. Das Wort Fluidum ist eine Wortschöpfung ihrer Freundin Veronika. Maria benutzt das Wort Atmosphäre, das in ihren Ohren auch sehr schön klingt. Und auch gebildet, wie die Freundin bestätigt. Den Künstler-Look ihrer Freundin ahmt Maria nicht nach, trotz deren Überzeugungsarbeit. Mit ihren Eltern, mit ihren Freundinnen und Bekannten im Dorf, in der Kreisstadt spricht sie nicht über ihre Erfahrungen, die sie in der großen, weiten Welt sammelt. Ihnen allen gegenüber verschweigt sie ihre Empfindungen. Sie hätten sie nicht verstanden. Für viele aus ihrer unmittelbaren Umgebung ist die Stadt etwas Unpersönliches, etwas Undurchschaubares, etwas Fremdes, eine Welt, in der sie nicht leben möchten. Als die Eltern einmal zu ihr nach Leipzig kommen, um sich das Internat, die Schule anzusehen, spürt Maria, sie können es nicht erwarten, die Rückreise anzutreten. Nicht einmal Zeit für einen Einkauf im Zentrum der Stadt haben sie. Je länger Maria in Leipzig sich aufhält, desto wohler fühlt sie sich. Anfangs verunsicherte sie die Tatsache, dass die Menschen am Wochenende nicht die Straße, die Fußwege kehrten oder anderen nützlichen Arbeiten nachgingen, jetzt hat sie sich an dieses Nichtstun gewöhnt und empfindet es als eine Selbstverständlichkeit. Nur in großen Abständen findet sie den Weg zurück in das Dorf ihrer Eltern, ihrer Großeltern inmitten der Heide zwischen Kiefern und Birken nahe dem Wald. Zunächst schaukelt der Bus vom Bahnhof Grabin über die holprigen Straßen der Stadt in Richtung Süden vorbei an ihrer ehemaligen Schule, dann folgt er der Landstraße vorbei am sowjetischen Militär-Flughafen in Richtung Stoporsk. Der Belag der Landstraße ist nunmehr Asphalt, der später dem Beton weicht. Ihr Weg führt sie durch die blühende Einsamkeit und Stille der Heide, vorbei an Wiesen, Weiden und Feldern. Diese verträumte Abgeschiedenheit lockt sie nicht, auch wenn diese Heide-Landschaft betörend schön aussieht, wie auf einem Gemälde, in das Licht der untergehenden Sonne getaucht, friedlich dahin schlummernd in der Abendstimmung. Am Dorf-Anger steigt sie aus. Ihre Hände umklammern die Reisetaschen, die prall gefüllt sind mit Wäsche. Niemand erwartet sie. Ihren Besuch konnte sie nicht ankündigen. Telefone gibt es nur auf dem Gemeindeamt. Nur zwei unabkömmliche leitende Mitarbeiter der Kokerei verfügen über ein Diensttelefon, das sie auch privat nutzen dürfen. Während sie schwer bepackt den Sandweg zur Trift einschlägt, schaut sie sich um, ob irgendwo hinter vorgezogenen Gardinen ihre Heimkehr beobachtet wird.

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