Altstadt-Blues 2.0

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Am Höfchen erwachte so langsam das Leben. Auf den dampfenden Holzkohlengrills der Bratwurstbuden brutzelte bereits eine Lage Rindswürste. Mona wusste aus dem städtischen Programmheft zum Fest, dass um elf Uhr die erste Veranstaltung auf der Ballplatzbühne beginnen sollte. Eine Lesung des neuen Stadtschreibers von Mainz. Vielleicht war sie das Ziel des anschwellenden Menschenauflaufs? Momentan reizte sie das Johannisfest überhaupt nicht. Man fand schließlich nicht jeden Tag, das Beweisstück für ein Verbrechen.

Zuhause träumte Troll lang hingestreckt auf seiner Decke. Wunderbar, scheinbar keinerlei Pieselalarm. Eine Mütze voller Schlaf würde auch ihr gut tun, nach dieser Nacht und dem Morgen. Ein Blick in den Spiegel und die leicht bläulichen Ringe unter den Augen bestätigten ihr Vorhaben. Also, ab in die Koje, aber dieses Mal ohne Handy oder Uhr zu stellen.

*

Fünfzehn Uhr zeigte der Radiowecker.

Mona hatte geschlagene vier Stunden durchgeschlafen und eine Menge Nonsens geträumt. Sie erinnerte sich sogar bruchstückhafter Details.

Ihr hohlwangiger Nachbar Bodo hatte seine Liane zusammen mit einem fetten Stallhasen erstochen, weil sie ständig alles in sich hineinschaufelten und für ihn nur das Nachsehen blieb. Danach hatte er beide, mittels Häcksler zerkleinert und im blauen Sack hinter den Schweinehälften der Metzgerei versteckt. Durch einen Trick gelangte er in die Werkstatt, wo er die Reste heimlich zum Verwursten unter die Zutaten der Fleischbütten mengte. Nach Auffliegen der Bluttat landete er natürlich prompt im Gefängnis, und weil dann die Wohnung zur Disposition stand, zog umgehend der grantige Polizist mit den schönen Augen, zusammen mit Verona Felsendorf-Puth und fünf rotzfrechen Kids dort ein…

Wie es weiterging oder endete, wusste sie nicht mehr. Ach du Schande, was für ein Hillbilly-Schwachsinns-Traum! Die Wohnung hatte sich so aufgeheizt, obwohl alle Fenster offen standen. Von der Straße drangen Gemurmel, Kinderlachen und Musik herauf. Mona war völlig verschwitzt, das Shirt klebte ihr auf der nackten Haut. Der hechelnde Hotdog quer über ihren Füßen machte es wahrlich nicht besser, sondern blies muffigen Schlafgeruch direkt zu ihrer empfindlichen Nase. Sie schob Troll leicht unsanft zur Seite, sie musste sofort unter die Dusche. Das lauwarme Wasser würde ihre Lebensgeister wieder auf Trab bringen. Frisch geduscht im Sessel lümmelnd fiel Mona der Künstlermarkt am Rheinufer ein, den sie sich dieses Jahr noch nicht zu Gemüte geführt hatte, und auch, wen sie deswegen anrufen könnte.

Genau! Angie. Sie teilten die Vorliebe für Flohmärkte, vielleicht verspürte sie ja Lust, sie zu begleiten. Tja!

»The person, you ‘ve called, is temporary not available«, flötete Mona sofort, ohne zu klingeln, die konservierte Frauenstimme der Mailbox ins Ohr. Pech! Das Handy war abgeschaltet. Schade. Manchmal beneidete Mona Angie ein bisschen um die federnde Leichtigkeit, das Leben so locker zu genießen. Na ja, jedenfalls mit ihr, konnte sie heute wohl nicht rechnen.

Angelika Strobel (genannt Angie, ehemalige Kommilitonin)

Eine witzige Person. Immer gut drauf, immer viel zu tun, ständig neu verliebt und irgendwelche Dates, weiblicher Hansdampf in allen Gassen und Mittelpunkt jeder Party. Gemeinsam hatten sie drei Semester lang Kunst an der Uni studiert, bevor Angie die Lust verlor und schnell Kohle verdienen wollte. Keiner verstand sie, die gesegnet war mit hohem kreativem Potential, doch sie scherte sich nicht um die Meinung anderer oder ihre künstlerische Begabung und nahm kurz entschlossen, den vakanten Job in einem exklusiven Dessousladen der Altstadt an, mit dem sie immer noch zufrieden schien. Schafften sie es mal, gemeinsam etwas zu unternehmen, war es meist sehr lustig und immer beschlossen sie beim Abschied, es baldmöglichst zu wiederholen. Dabei blieb es dann auch. Es sei denn, Mona rief an. Dabei war sie sicher, dass es kein böser Wille Angies war. Ihr letztes Treffen lag fast drei Monate zurück. Die ehemalige Studienfreundin erinnerte Mona an einen schillernden Schmetterling. Mal hier oder dort naschen und schnell wieder weiterflattern. Von klein auf, auch bei den Eltern den Part des Enfant terrible ausfüllend, machte Angie keinen Hehl aus oft wechselnden Affären. Erzählte laut und sehr offenherzig über heiße Erlebnisse mit OneNight-Stands, Quickies&Co. Zweifellos sehr amüsant zum Zuhören, aber manchmal war es Mona echt peinlich gewesen, obwohl sie rein gar nichts damit zu tun hatte. Doch Angie selber? Fehlanzeige! Besonders, wenn sie von speziellen Vorlieben des aktuellen Lovers mit dem supergroßen…

»Dingsbums oder ihren multiplen Orgasmen« schwärmte und die Leute am Nachbartisch die Ohren spitzten oder die Stirn runzelten. Entweder, weil sie es anstößig fanden oder sich nähere Details erhofften nach diesem Auftakt, und sich dann umdrehten, weiter weg oder näher heran rückten.

»Nur der Neid der Besitzlosen«, kommentierte Angie dann meist kaltschnäuzig, als Krönung auch noch halblaut, dieses Schwanken zwischen verschämter Neugierde oder empörter Pikiertheit. Durchaus möglich, dass sie gestern Abend wieder einen Typ kennengelernt hatte und heute frisch verliebt, den ganzen Tag über mit ihm Bett und Tisch auf maximale Belastbarkeit testete, wie sie es wohl des Öfteren praktizierte.

Bei Timo könnte sie vielleicht noch anklingeln. Aber leider war auch er nicht zu Hause, nur der Anrufbeantworter quakte. Sie sprach ihm zur Identifizierung,

»Viele Grüße von Mona! «, darauf, weil er es ebenso wenig mochte wie sie, wenn später beim Tüttüt-Abhören, das Rätseln um den Anrufer losging.

Timo König (Kommilitone und Studienfreund)

Timo König, ein sympathischer Kommilitone und inzwischen guter Freund, war seit acht Monaten ebenfalls Solist im Beziehungsreigen. Nach der dramatischen Trennung von Exlover Damian, der ihn im Jahr zuvor während der Love-Parade im Berliner Tiergarten, erst angerempelt und dann angetörnt hatte. Er hatte ihn Mona in bunten Farben geschildert, bevor beide kurze Zeit später, Arm-in-Arm am Rheinufer ihren Weg kreuzten.

Doch das ungleich buntere Berliner-Original mit grünlila Strähnen im Haar und in fetzige Hauptstadtklamotten gewandet, hinterließ damals bei Mona eher den Eindruck eines personifizierten Vorwurfs gegenüber Timo. Seine tief gekränkt wirkende Mimik erschien ihr absolut nicht stimmig zum schrillen Paradiesvogeloutfit. Den Grund für das endgültige Zerwürfnis vertraute ihr Timo nach Ende der Zweisamkeit dann ausführlichst, aber unter absoluter Geheimhaltungsstufe an. Mona musste sich dabei ernsthaft zusammenreißen, um nicht laut loszuprusten. Dieser Damian hatte ihm einige heiße Dessous aus seinem siebziger Jahre Lieblingsladen ›Engelke‹ in der Berliner Kantstraße, als Geschenke offeriert. Neben einem Lederkorsett mit ausgesparter Öffnung für eventuelle Brustwarzenpiercings, auch drei, extra auf Timos Größe maßgeschneiderte, französische Ouverthöschen in Lilaviolett, Ochsenblutrot und Blauglitzerschwarz.

Jedes Mal, sobald Timo die Wohnung allein verlassen wollte, bestand Damian darauf, dass Timo eines dieser delikaten Teile auf der Haut tragen sollte, um ihm näher zu sein. Als Timo sich weigerte und auch nicht auf dessen Intimrasur- oder Piercingwünsche einging, sah Damian darin einen eklatanten Liebesverrat, der zunehmend eskalierte. Zur Rettung ihrer maroden Beziehung waren sie am Ende zusammen in Damians Heimat nach Berlin, auf seinen besonderen Wunsch hin sogar getrampt; hatten im originellen Hutladen in der Giesebrechtstraße, Kaffee getrunken; in der ›Disco 90 Grad‹ zu heißen Rhythmen getanzt und waren durch originelle Kneipen im Nikolaiviertel gezogen. Gemeinsam teilten sie sich eine riesige Schweinshaxe in der Rekonstruktion des angeblich ältesten Wirtshauses, ›Zum Nussbaum‹ (erste Version von 1507); waren dann weitergezogen zum Haus des betrunkenen Froschs, ›Zum Paddenwirt‹, und am Ende, ebenfalls volltrunken in der Kneipe, ›Zur letzten Instanz‹, gelandet, wo scheidungswillige Paare sich angeblich immer beim Bier versöhnten. Ihnen beiden war die Aussöhnung leider trotzdem nicht geglückt.

Als Timo zurück nach Mainz fuhr, war Damian in Berlin geblieben. Dort fand er auf Empfehlung eines Bekannten sofort Unterschlupf in einer Wagenburgkolonie für Aussteiger, wo jeder einhundert Euro monatlich zahlen musste, für einen Wohnwagen mit Komposttoilette auf einer Parzelle. Timo schickte seinem Exlover umgehend die Habseligkeiten, inklusive der heißen Geschenkartikel dorthin nach. Anschließend pflegten sie keinerlei Kontakt mehr bis vor einem Monat, als ihm eine Ansichtskarte von der Insel Formentera ins Haus flatterte, wo Damian inzwischen angeblich als Maler lebte. Erst nach dieser Trennung hatten Mona und ihr Kommilitone sich so richtig angefreundet.

*

Kein Wunder, bei diesem schönen Wetter hatten alle etwas geplant, nur sie nicht. Sonn- und Feiertage stellten wirklich die schlimmste Herausforderung für Singles dar. Pärchen waren mit sich beschäftigt. Verständlich. Paare mit Kids schwelgten fröhlich in happy family, manche aber auch nicht! Kinderfeste, Karussells, Schwimmbad oder gemeinsame Ausflüge, danach stand Mona wirklich nicht der Sinn. Blieben nur die Alleinstehenden und davon kannte sie nicht so viele. Ilse fiel ihr ein, gemeinsam hatten sie schon so manch einsames Wochenende totgeschlagen. Zweizwei–viervier–sechssechs, es klingelte. Bitte sei nicht unterwegs.

»Ilse Gerlach, hallo?«

»Schön, dass du zu Hause bist. Hier ist Mona. Ich hoffe, du hast Zeit für eine freudlose Singlefrau, die kurz davor steht, sich im Selbstmitleid zu ertränken.«

»Klar doch!« Ilse lachte ihr kehliges Lachen.

»Willst du vorbeikommen? Hab gerade einen Biskuit-Tortenboden gebacken für frische Erdbeeren mit Sahne. Diva freut sich auch über Gesellschaft und außerdem wollte ich dir noch etwas erzählen. Also, bis gleich!« Die treue Seele! Mona war richtig gerührt. Für ihre Hausärztin, Frau Dr. Beifuß, hatte Mona am Freitag bereits eine Minisonnenblume in tönernem Übertopf erstanden, dekorativ verpackt in hellgrünes Papier, mit Bastschleife umwickelt. Zu diesem Blutabnahme-Termin am Mittwoch hatte ihre Ärztin sie quasi genötigt wegen eines Verdachts, hinter Monas übergroßer Bereitschaft der Anziehungskraft des Bettes fast willenlos nachzugeben, könnte sich ein latenter Eisenmangel verbergen. Morgen würde sie ein neues Blümchen besorgen und dieses hier kam jetzt mit zu Ilse.

 

*

»Herein mit euch. Wäre doch nicht nötig gewesen, aber ich liebe Sonnenblumen. Vielen Dank.« Typisch Ilse.

»Ich auch, sehr sogar.« Der Tortenboden, belegt mit saftig roten Erdbeeren, lachte vom Küchentisch.

»Der Guss ist noch zu warm«, sagte Ilse, »und der Kaffee läuft gerade durch.« Gemütlich war es hier. So richtig Altstadt, wie man es sich vorstellte. Überall schiefe Wände und die Glasfenster von der Küche zum winzigen Flur und zum Bad hin zeugten davon, dass hier früher mal eine andere Aufteilung bestanden hatte. Der Abriss der früheren Hinterhäuser hatte Ilse einen freien Blick beschert, nur die Höfe rechts und links waren neu bebaut worden. Mona erinnerte sich spontan einer überlieferten Anekdote, welche die Freundin mal über diese Küche erzählt hatte. Ilse saß dort an ihrem zweiundvierzigsten Geburtstag im Kreis damaliger Freunde, als sich unvermittelt vor die unverbaute Aussicht des zweiten Stocks, das rotwangige Antlitz einer körperlosen Fremden neugierig vors Fenster schob. Die Unbekannte ließ ungeniert die kajalumrandeten Augen durch die Küche schweifen, ehe sie die entgeisterten Gesichter der bass erstaunten Gästeschar entdeckte. Blitzschnell zog sie ihren Kopf zurück, wie durch ein Gummiband hinweg gesurrt. Am nächsten Tag erzählte die Hausnachbarin vom Besuch ihrer Schwippschwägerin Mathilda, die kurioserweise so geschwärmt hätte, vom sehenswerten Kronleuchter an Ilses Küchendecke. Dabei hatte sie sich sogleich selber bei Ilse zum Kaffee eingeladen, um das antike Prunkstück persönlich zu begutachten.

Durch besagtes Fenster fiel der Blick auf den mächtigen Wohnturm des Hauses zum Stein (nach dem Erbauer Eberhard von Stein), das vor fünfundzwanzig Jahren noch teilweise von Studenten bewohnt wurde, als die Freundin sich hier niederließ. Den Umbau dieses hohen Bauwerks, angeblich mit romanischen Säulen des dreizehnten Jahrhunderts im Innern bestückt, hatte sie miterlebt. Interessiert beobachtete sie, wie die gesamte Steinverkleidung mit Lkws direkt aus Italien angeliefert und nachträglich vor die Originalfassade gesetzt wurde, was die jetzige Tiefe der Außenmauern von zirka einem Meter erklärte. Unten hatte zeitweise das stadthistorische Museum sein Domizil gefunden, war aber vor kurzem umgesiedelt worden zur Zitadelle, mit Eingang am Drususstein. Vor der Sanierung des angeblich ältesten Hauses von Mainz gab es dort ein Satteldach:

»… auf dessen Dachfirst sich Jahr für Jahr die Tauben, Tag für Tag, Seite an Seite aufreihten, wie Perlen an einer Kette oder stolze Apachen mit Pferden auf einem Berggipfel, kurz vor ihrem Angriff in klassischen Western!« (Originalton Ilse), welches später einem Flachdach weichen musste.

Zweifellos angenehm kühl im Sommer und immer wieder ein erhebender Anblick, dieses Domizil, auch wenn Studis sich diese Wohnungen heute kaum mehr leisten konnten. Jetzt, wo die Sonne auf die erdfarbenen Steine der dickwandigen Fassade schien und eine wohlgenährte, grau getigerte Katze aus den breiten Fensteröffnungen sehnsüchtig vorbei fliegenden Vögeln hinterher blickte, erfüllte wohl jeden Betrachter das erhebende Gefühl, in der Toskana zu sein oder in Südfrankreich.

»Komm, wir tragen alles ins Wohnzimmer, dort sind wir mitten im Trubel und doch unter uns.«

*

Nach ausgiebigem Beschnüffeln balgten Troll und Diva um einen arg zerfetzten, gelben Tennisball, der noch von Ilses Sohn Henrik stammte. Dieser lebte jetzt in den USA und war als Anästhesist in einer Bostoner Klinik tätig. Ilse vermisste ihn sehr, klagte jedoch nie darüber. Beide pflegten eine rege Korrespondenz über ausführliche Mails und über Skype. Früher, als routinierte Schreibmaschinennutzerin, war Ilse anfangs nicht sonderlich angetan vom Laptop, das ihr Sohn ihr überlassen hatte vor seinem Abflug. Doch heute konnte sie sich das Leben kaum mehr vorstellen ohne das digitale Teufelsteil und Gottesgeschenk in einem. Mona kannte Henrik nicht, nur durch Ilses schwärmerische Erzählungen wusste sie einige Interna und wäre ihm gerne mal persönlich begegnet. Ilses Ehemann hatte früh »… bei einem grässlichen Unfall im Hamburger Elbtunnel sein junges Leben ausgehaucht«, und sie musste Henrik alleine großziehen.

»Alleinerziehend, vor dreißig Jahren war das eher die Ausnahme, nicht normal, und sehr schwer ohne die vielen staatlichen Hilfen, die es heute gibt. Die Zeiten ändern sich eben zum Glück. Heutzutage sind diese taffen Mütter schon fast die Regel. Mein Sohn war erst fünf und mir blieb nichts übrig, als die kleine Witwenrente durch meinen Verdienst aufzustocken für einen angemessenen Lebensunterhalt«, hatte Ilse der jungen Frau damals nicht ohne Stolz anvertraut, als sie sich bei einem Vortrag der Stiftung Lesen in der Staatskanzlei kennenlernten. Und dass ihr Sohn später sein Medizinstudium in Heidelberg mit ›Magna Cum Laude‹, abschließen konnte.

*

Jede zwei große Stücke von der Erdbeertorte mit viel Sahne. Mehr ging beim besten Willen nicht.

»Zum Kaffee passt jetzt gut eine Zigarette«, meinte Ilse. Sie rauchte nur ganz selten eine mit, hatte aber nichts gegen Raucher in ihrer Wohnung, wenn das Fenster geöffnet war. Der Rauch stieg in graublauen Kringeln in die Höhe und verflüchtigte sich durch das zweiflügelige Sprossenfenster über die Fußgängerzone.

»Also, was gibt’s bei dir Spannendes zu berichten?« Endlich konnte Mona loslegen mit der Schilderung der tragischen Kapriolen, die der nächtliche Samstag ihr beschert hatte. Ilse war am Ende sichtlich geschockt und schaute sie ungläubig an.

»Ein Mord auf unserer Zitadelle, wo tagtäglich so viele Kinder spielen und eigentlich immer Leute mit und ohne Hunde spazieren gehen. Ich kann’s nicht glauben! Diese Dreistigkeit des Mörders. Er musste doch damit rechnen, bei seiner Tat beobachtet zu werden. Aber warum eine Politesse? Dass der Eine oder Andere mal Wut auf die Damen hat, kann ich ja nachvollziehen, aber gleich jemandem das Lebenslicht für immer auslöschen.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Das Böse lauert überall, auch wenn man sich in dieser beschaulichen Stadt in scheinbarer Sicherheit wiegt.«

Ilses poetische Ader zeigte sich auch hier wieder. Jemandem das Lebenslicht auslöschen! Was hätte dieser säuerliche Fastkommissar wohl gedacht, wenn Mona sich so ausgedrückt hätte bei ihrer Aussage. Wahrscheinlich hätte er sie blitzschnell in sein Schubladensystem sortiert unter LÜK oder TÜK, abgelegt als leicht- oder total übergeschnappte Künstlerin. Aber was juckte sie das, sie hatte eh nichts mehr am Hut mit dieser Mordsache.

*

»Diva und ich werden den Ort in Zukunft meiden. Vielleicht sollten wir auch so selbstverständlich agieren wie ein ziemlich dreister Bewohner aus der Nachbarschaft. Ein gepflegter Herr mittleren Alters im Boss-Anzug, der jeden Tag frühmorgens durch die menschenleere Augustinerstraße spaziert mit einer weißgrau, gelockten Pudelhündin, die ganz selbstverständlich und stets unter seiner Aufsicht, munter ihr Geschäft ebendort an einer wahllosen Stelle erledigt. Ganz Ehrenmann, kratzt der Herr das Häuflein anschließend penibel mittels Küchenrolle vom Kopfsteinpflaster und entsorgt es in die öffentliche Abfallbox.«

»Ist nicht möglich, oder?«

»Ich habe die beiden selber einige Male perplex beobachtet. In der besten und einzigen Metzgerei am Platze wurde sich auch bereits darüber aufgeregt.«

»Was suchst DU denn dort, du isst doch kein Fleisch?«

»Schon, aber mein Hundefräulein! Wenn ich dort die heiß geliebten Frankfurter besorge, gibt es den aktuellsten Altstadtklatsch gratis obendrauf, meist noch pikant gewürzt mit persönlichen Spekulationen diverser Tratschtanten.«

»Gratis gab es in meiner Jugend immer die obligatorische, daumendicke Scheibe Fleischwurst mit scharfem Seiteneinschnitt, zum leichteren Abpellen der Haut. Aber vielleicht ist das inzwischen démodé?« »Keine Ahnung, aber umsonst gibt es fast nirgends mehr etwas, vor allem nicht bei echten Geschäftsleuten. Nur mit knallhartem Geschäftssinn kommt man wirklich zu etwas. Weißt du, dass es früher in der Altstadt fünf Metzgereien gab? Drei allein in der Augustinerstraße, eine in der Holzstraße und eine in der Kapuzinerstraße, wovon nur eine übrig blieb. Tja, the winner takes it all! Gute Waren zu saftigen Schweinebackenpreisen, gepaart mit fleißigem Engagement, innovativen Ideen und dem Teuro, sind die Lizenz für eine Goldgrube. Im Besonderen für Metzgereien!«

»Mit der Währungsreform haben alle ihre Geschäfte gemacht. Ganz krass fällt es mir auch immer in der Gastronomie auf. Ich glaube, vor dem Euro, hätte ich mir nie eine Tasse Milchkaffee für sechs Mark neunzig geleistet und ein Päckchen Zigaretten oder eine läppische Geburtstagskarte für zehn Deutsche Mark oder mehr gekauft. Aber du wolltest mir auch etwas erzählen?«

»So dramatisch wie deine Erlebnisse zu nachtschlafender Zeit, wenn anständige Bürgerinnen vom Sandmännchen geküsst, bereits im Bette schlummern, ist’s natürlich nicht, aber …«

*

Ilse berichtete Mona mit leicht geröteten Wangen von einem Brief, der freitags irrtümlicherweise in ihrem Briefkasten landete und worauf in alter Sütterlinschrift, die Adresse mit Füllertinte vermerkt war.

›An Herrn Richard Eugen Lieser, Augustinerstraße 8, 6500 Mainz‹ – abgeschickt von einer Witwe Elisabeth Erasme, geborene Herber aus 25746 Heide an der Nordsee. Ilse vermutete eine hochbetagte Adressantin wegen der akkuraten, wie gestochen wirkende Handschrift in altdeutscher Schreibweise und der nicht mehr existenten Postleitzahl. Sie nahm an, dass der Brief vielleicht bedeutsam sein könnte und beim Nachschlagen im Telefonbuch hatte sie diesen Mann tatsächlich ausfindig machen können.

»Aber Leute, die Lieser heißen, gibt es doch bestimmt einige?«, fragte Mona.

»Ja, aber nur einen Richard E. Lieser.«

An ihn hatte Ilse den Brief weiter geleitet mit dem Vermerk, dass sie seit langem dort wohne, ihr aber kein Mieter dieses Namens bekannt sei. Er rief umgehend zurück und sie unterhielten sich auf Anhieb wie zwei alte Bekannte.

»Der Clou! Vor dreißig Jahren war er für zirka ein Jahr mein Vormieter in dieser Wohnung. Er hat eine tolle Stimme und… für morgen sind wir bereits verabredet.« Ihre Wangen glühten jetzt geradezu. »Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen!«

»Ich auch. Hört sich doch super an. Du musst mir anschließend unbedingt ausführlich Bericht erstatten.« Wie süß. Wie ein junges Mädchen mit Lampenfieber vorm ersten Date. Mona wünschte Ilse von Herzen, dass sie jemand Liebes finden würde, sie war schon so lange allein mit Diva und den Mails aus Übersee. Und für sich, wünschte Mona das natürlich auch.

*

Inzwischen war es achtzehn Uhr geworden. Die Hunde lagen eng zusammengerollt, fast wie in der bei Paaren beliebten Löffelchenposition, Troll oberhalb und Diva eng an seinen Bauch gekuschelt.

»Schau dir das an, ein Bild für die Götter. Aber ich glaube, die müssten mal raus.« Beide hatten prompt den Kopf gehoben und die Ohren gespitzt, ohne ihre Lage zu verändern.

»Sie registrieren sofort, wenn man von ihnen spricht. Na los, auf an den Rhein, ihr zwei.«

Überall Menschen, ganz Mainz schien unterwegs und sicher genauso viele Wiesbadener, Rheinhessener und Rheingauer, Großgerauer, Frankfurter… Eine Armee überwiegend weiblicher Jungteenies mit unausgeprägten Gesichtszügen und teilweise zu greller Schminke bevölkerte dicht die holzverkleideten Treppenstufen zum Rheinufer hinterm ›Hyatt‹ Hotel. Die Mehrzahl labte sich an Bier aus Megaplastikbechern oder nuckelte kichernd an süffig süßen Alcopops. Die Jungs und Mädels wirkten seltsam homogen in ihrem Look. Trotz ihrer scheinbar großer Bemühungen, sich vom Massengeschmack abzuheben. Selbst die Variationen von gefärbten Haaren, Piercings an allen möglichen und unmöglichen Körperstellen oder die teils grellbunten Tattoos vermochten nicht wirklich, ein Hervorstechen aus der anwesenden Clique zu bewirken. Genauso wenig wie der deutlich vernehmbare Wettbewerb um die coolsten, immer spleeniger piependen und surrenden Handy-Klingeltöne.

 

Bei ihrem Anblick bemerkte Ilse etwas wehmütig,

»Tja, süßer Vogel Jugend. Unser Schöpfer ist wohl kein Gentleman, sonst hätte er uns Frauen die Falten unter die Fußsohlen verbannt. Wie schnell wird man alt und ergraut an Stellen, die niemand wissen will, oder ist so faltig, wie diese bedauernswerten, chinesischen Zuchthunde. Falls man vorher nicht zu Tode kommt, wie die arme Frau von der Zitadelle.«

Sie hatte die Aktionen der Kidis wohlwollend und aufmerksam beobachtet und zeigte sich keineswegs abgeschreckt.

»Ich hätte so gerne ein paar Enkelkinder, möglichst in meiner Nähe. Da wird man wieder jung.«

»Aber Ilse, du bist die frischeste Ü-Sechzigjährige, die ich kenne. Man ist nur so alt, wie man sich fühlt, heißt ‘s doch immer«, raunte Mona ihr zu.

»Danke. Das geht runter wie Olivenöl, das ist manchmal auch leicht ranzig, wie morgens öfter meine Gelenkschmiere«, antwortete Ilse leise. »Aber, dass Altwerden nichts für Feiglinge ist, wusste schon Bette Davis«, fügte sie noch weise lächelnd hinzu. Im Rhein war die ›Cullinarium Wasserbühne‹ aufgebaut, worüber sie ein älterer Herr informierte, der wohl schon eine Weile das hektische Treiben unten und die darüber kreisenden, kreischenden Möwen oben, beobachtet hatte. In Kürze würde dort ein musikalischer Event des Staatstheaters stattfinden.

»Da hab ich jetzt keine Lust drauf, du?«

Ilse schüttelte den Kopf,

»Ich bin irgendwie k.o.« Die Hunde hatten ihr Geschäft erledigt und tollten auf der Wiese umher.

»Hey, ihr beiden! Es geht heimwärts«, rief Mona ihnen zu.

»Sei mir nicht böse, aber ich möchte morgen fit sein, wenn dieser Herr Lieser kommt. Ich werde heute zeitig Zubettgehen und noch etwas lesen.«

»Kein Problem. Wenn ich mich beeile, kann ich noch die ›Blindenstraße‹ gucken Die einzige Kultserie, der ich einigermaßen treu bin.« Vor ihrer Haustüre drückte Ilse die junge Frau mütterlich an die üppige Brust.

»Mach keine Dummheiten, Mona. Du weißt doch, es ist noch ein obskurer Mörder unterwegs.«

»Keine Sorge, ich bin ja schon ein großes Mädchen. Viel Spaßmorgen bei deinem heißen Date. Wir hören voneinander.«

*

Als sie die Wohnung betrat, blinkte der Anrufbeantworter grün. Erst die halbe Stunde ›Lindenstraße‹, die natürlich schon auf Sendung war, als Mona einschaltete. Sie ließ sich in den pinkfarbenen Sessel fallen und warf die Schuhe in hohem Bogen von sich, denn die zweite Blase am großen Zeh schmerzte immer noch. Troll hatte sich instinktiv darunter weggeduckt. Als der Abspann lief drückte Mona die Wiedergabetaste. Zwei Anrufe. Erst ihre besorgte Mutter in leicht vorwurfsvollem Tonfall.

»Mona, wir höre ja garnischt mehr von dir! Geht’s dir auch gut? Hoffentlich? Grüße von Papa und denk an den Geburtschtag von Oma Rosa übernächste Woch. Meld disch mal! Adee!«

Dann Simone.

»Hey Mona, wo steckst du? Ruf mich bitte gleich zurück, ist dringend! Bin zu Hause. Ciao Bella.«

Okay! Simone und Holger logierten in einer traumhaften Altbauwohnung am Gartenfeldplatz in der Neustadt. Die Freundin war gleich am Telefon. »Na, endlich! Wo warst du denn?«

»Bei Ilse. War echt nett.«

»Immer deine Gluckerei mit dieser Oma! Dort findest du bestimmt keinen neuen Lover. Aber egal, ich muss dir etwas erzählen.« Sie legte los, dass etwas Schreckliches passiert sei, quasi bei Mona um die Ecke auf der Zitadelle, und dass ihr Gatte von den Mainzer Kollegen erfahren hätte, dass eine Politesse mit sieben Messerstichen ermordet wurde…

»Ich weiß schon«, antwortete Mona lapidar, »ich hab sie doch irgendwie darauf gebracht.«

»DU? Nein? Wieso, was war denn los?«

Mona wiederholte die ganze Story. Heute zum zweiten Mal.

»Nä, ne! Wie aufregend! Holger hat was von ‘ner schusseligen Studentin erzählt, die dämlicherweise die Digitalkamera der Toten mitgenommen und eventuell Spuren verwischt hätte, aber dass DU das warst… sorry. Das ist echt krass! Morgen wollen sie die gespeicherten Bilder auswerten, zwecks eventueller Rückschlüsse zum Tathergang. Falls ich was höre, meld ich mich wieder. Holger hat übrigens einen guten Draht zur Mainzer Polizei durch einen langjährigen Freund von der Polizeischule.«

Schusselig und dämlich, pah! Dieser arrogante Schnösel, der Mona sonntags verhörte, hatte das wohl genau so brühwarm an Holgers Kumpel übermittelt. Unverschämt! So ein blöder Arsch!

»Ja, gut. Macht ihr heute noch was?«

»Nein, nur gemütlich. Dolce farniente und Kuschelabend. Und du?« Süßes Nichtstun!

Mona konnte sich lebhaft vorstellen, wie das aussehen würde, und musste einen leichten Anflug von Neid unterdrücken.

»Ich hab nichts geplant.«

»Willst du vorbeikommen?«, fragte Simone halbherzig.

»Nein, danke. Ich bin k.o. und versuche mal, eine Nacht durchzuschlafen.« Kein Verlangen, als fünftes Rad am Wagen, den zwei Turteltauben zuzuschauen, obwohl sie sich ja fairerweise immer beherrschten, wenn Mona dabei war.

»Wie du möchtest. Des Menschen Wille ist sein Kuschelreich!

Dann hören wir uns bald, ja? Und schlaf gut. Ciao, Bella.«

»Ciao, Simone.”

Bonjour Tristesse! Mona sah schon wieder so einen einsamen Abend unaufhaltsam auf sich zurollen. Ihr aufmerksamer Gasthund legte demonstrativ seine dicke Pfote auf ihr Knie.

»You’re simply the best. Mein Süßer, was würde ich nur ohne dich anfangen.«

Sanft kraulte sie ihn hinter den plüschigen Ohren. »Komm, machen wir das Beste daraus, einen chilligen, relaxten Fernseh, Pflege- und Fressabend mit einer großen Schüssel Waldmeistergrütze, okay?«

Troll signalisierte vollen Herzens seine Zustimmung, indem er Mona mit seinem typischen Hundelächeln, welches ein Fremder niemals wahrnahm, zufrieden zublinzelte.