Altstadt-Blues 2.0

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Großes Halligalli und Geklatsche rund um die SWR4-Bühne, die Massen hörbar begeistert. Sechs kräftige Zunftkollegen tunkten die jungen, weiblichen und männlichen Mediengestalter nacheinander in hohem Bogen mehrfach in einer Bütte mit eiskaltem Wasser nach unten. Mit viel lokalkoloriertem Witz kommentiert von einem graubärtigen Mann, als Gevatter Gutenberg täuschend echt in Originaltracht verkleidet. Zum Glück war es sehr heiß draußen, weil die nassen, fast transparenten Shirts beim Aussteigen aus der Bütte gesetzmäßig, hochgerutscht am Körper klebten. Wenn dabei als Nebeneffekt und Augenschmaus, ein Stück nackter Haut, ein brauner Bauch oder gar ein paar spitze Brustwarzen der weiblichen Täuflinge aufblitzten, regnete es verstärkt »Standing Ovations« und anfeuernde Rufe:

»Zugabe! Zugabe!«

*

Eine Weile verfolgten die Freundinnen das Spektakel auf der Bühne, bis Simone Mona anschubste:

»Ich könnt’ jetzt was essen, wie sieht’s bei dir aus?« Auf dem Domplatz und entlang der Ludwigstraße bot sich alles, was das Herz begehrte. Die beliebten Thüringer, Rinds-, Brat- oder Currywürste, Spießbraten mit Röstzwiebeln, Champignons in Rahm, frittierte Blumenkohlröschen, massige Pizzen, Maiskolben mit Knobibutter, Fischbrötchen mit Echt- oder Ersatzlachs, fettknusprige Reibekuchen mit Apfelmus und, und, und… und natürlich noch klebrige Kalorienbomben wie gebrannte Mandeln, Popcorn&Co. Sie entschieden sich für gegrillten Prager Schinken mit Kraut und ließen sich mit den dick belegten Brötchen auf den verfügbaren Holzbänken nieder.

»Da kriegt man ja Maulsperre!«

»Aber tierisch lecker – besonders die knackige Kruste«, murmelte Mona mit vollem Mund, während Simone die Schinkenstücke aus dem Brötchen fingerte und genüsslich in den Mund schob. Das angestrengte Kauen bis zum letzten Krümel verhinderte jegliche Unterhaltung.

»Jetzt hab ich Durst, und du? Cola?«

Mona nickte, während sie die letzten Bissen herunterschluckte. Simone besorgte am Nachbarstand zwei eisgekühlte Coca Colas mit Strohhalmen und stellte sie vor ihnen ab.

Ein langer gieriger Schluck und…

»Jetzt ‘ne Zigarette. Geht es uns wieder gut heute.«

Ein Blick in den ovalen Taschenspiegel bestätigte Monas Vermutung, am Mundwinkel klebte Senf und der Lipgloss musste erneuert werden. Ein braun gescheckter Hund, plötzlich am Tisch aufgetaucht, schob schnuppernd seine feucht glänzende Nase neben die fettigen Servietten, was Mona mit schlechtem Gewissen, Troll ins Gedächtnis rief.

»Ich muss unbedingt mal nach Hause. Troll ist sicher schon am Kneifen.«

»Okay, ich komme mit, danach können wir ja noch mal los.«

Es war nicht leicht, sich vorwärts zu bewegen zwischen den vielen Menschen und wie erwartet, stand er schon kläffend an der Tür, als Mona aufsperrte.

»Scheint dringend, also stürmen wir die Zitadelle.«

Zu dritt quetschten sie sich durch die Fußgängerzone, umrundeten die klatschende Passantentraube, die sich hingerissen um einen kleinen Jungen und sein wildes, ohrenbetäubendes Bongogetrommel vor einem CD-Laden gescharrt hatte. Die lang andauernde, monotone Penetranz genau dieser Vorführung war Mona bereits ein Begriff durch Ilse, die eigentlich sehr nachsichtig war. Aber genau über jenen Dschungelsound hatte sie sich des Öfteren mächtig echoviert, was Mona schlagartig absolut nachvollziehen konnte.

*

»Super idyllisch hier oben. Wie lange existiert diese Holzpyramide mit dem klappernden Windrad denn schon?«

Simone war länger nicht dort gewesen.

»Null Ahnung, aber angeblich stand vor über hundert Jahren, hier schon mal eine Windmühle und daran soll das neue Bauwerk erinnern. Der unförmige Silberschlauch, an dem die Kids herumturnen, ist eine Rutschbahn.«

»Cool! Überhaupt, hier gibt’s wirklich viele Möglichkeiten zum Toben, auch sonst ist einiges bewegt worden von meinem Brötchengeber. Wusste ich gar nicht.«

»Tja, wenn der von Schwiegermama Ingrid SO heiß herbei gesehnte Enkel endlich da ist, dann könnt ihr euch ja in einer der tollen Villen gegenüber einmieten. Hier oben ist die Welt nämlich noch in Ordnung.«

»Unbedingt! Ha, ha, wohl einen Clown gefrühstückt?«

»Nö. Aber gestern hab ich über eine aufschlussreiche, angeblich wissenschaftliche Studie gelesen. Bei dringlichem Nachwuchswunsch soll man jeden Tag Sex praktizieren, weil häufiger Verkehr die Spermien stärkt, nicht wie früher angenommen, sexuelle Enthaltsamkeit.”

»Von wegen dringlich! Hast du das aus dem »Playboy«? Hat sicher ein Redakteur verfasst, um die Dauerlüsternheit mancher Kandidaten zu legitimieren.”

»Nein, ich glaube aus der Brigitte.”

»Okay, dann geb ich das weiter an Holger, wenn er völlig groggy aus dem Büro kommt”, lachte Simone,

»Oder an Ingrid, damit sie uns bei der nächsten Visite, nicht wieder unsere Intimsphäre vermiest.”

Zuhause schob Mona einen getrockneten Knabberschuh aus Rinderhaut vor Trolls pelzige Pfoten.

»Hmh, lecker. Für den braven Hund. Bis nachher, Süßer.«

Sie tauchten wieder ein in den Trubel Richtung Weindorf am Leichhof, wo Simone einen Ex-Kollegen der netteren Art entdeckte, welcher dort einen Stand betrieb und ihnen zuwinkte.

»Hallo ihr Hübschen, womit kann ich die Damen denn verwöhnen?« Ein gegenseitiger Blick genügte.

»Ein Gläschen Sekt wäre nicht zu verachten.« Es wurden zwei/ drei/vier Gläschen daraus, die Stimmung stieg, der Blutdruck auch. Holger, von Simone zwischendrin informiert, war kurze Zeit später in Begleitung einiger Kollegen samt Anhang gut gelaunt zu ihnen vorgedrungen. Anfangs gestaltete es sich sehr lustig mit der zusammengewürfelten Truppe. Es wurde viel gelacht und flotte Sprüche wechselten die Seiten, doch mit stetigem Alkoholkonsum schmusten sich die Pärchen immer mehr auf Tuchfühlung. Mona fühlte sich zunehmend isoliert als einzige Singlefrau und ihrem pfundigen Standnachbarn ausgeliefert, der in Karohose und Lederblouson gequetscht, immer scheinbar beiläufig ihren nackten Arm tätschelte mit schweißiger Hand. Und dem Wirt dazu wieder einen zwei- bis dreideutigen Joke zum Besten gab. Um halb zwei Uhr reichte es ihr.

»Ich mach mich los, bin ziemlich K.o. Wir telefonieren morgen.« Das Übliche, »Bleib doch noch, ist grade soo gemütlich.«

»Nö – keinen Bock mehr.« Küsschen rechts und links – von Holger auch, die anderen winkten, »CIAO!«

Knutschende Pärchen, grölende Teenies, überall scheinbar glückliche Menschen in ausgelassener Stimmung. Monas Laune rutschte schlagartig in den Keller und sie sehnte sich nur nach ihrem Bett. Troll winselte ihr herzerweichend entgegen.

»Nein, bitte nicht schon wieder, du Nervensäge.« Er kaute auf seiner Leine und guckte flehend. So sehr wie sie Troll mochte, doch gerade wünschte Mona nichts sehnlicher, als dass Micha da wäre und sich um sie beide kümmern würde. Und sie vielleicht tröstend in den Arm nähme… Sie tat sich selber so leid, aber es half nichts. Lustlos hängte sie ihren Rucksack an die Stuhllehne und ergriff den Haustürschlüssel.

»Na los, komm, du haariges Monster.«

*

Entlang der Straße und der kleinen Gärten der Villen war es ruhig, dunkel und seltsam unheimlich heute Nacht. Vielleicht entstammte das mulmige Gefühl in ihrem Bauch, ihrer bleiernen Müdigkeit oder ihrer momentanen Souterrain-Stimmung? Unten tobte noch immer der Bär. Hier oben zeigte sich keine Menschenseele, nicht einmal ein übrig gebliebener Fan vom Meat Loaf-Konzert. Kurz vor Monas Golf sprang Troll unvermittelt und unbändig hoch, zerrte wie besessen an der Leine, fast bis zur Selbststrangulation, und bellte. Was wollte er denn nur?

SO benahm er sich nie, wenn es noch so heftig drückte. Er zog sie mit all seiner Kraft bis ans Auto und streckte den schwarzen Kopf weit unter die Kühlerhaube. Vermutlich wieder so ein junger Igel, dachte Mona, wie der letzthin im Volkspark unter dem hellgrünen Ginkgo Baum, welcher kurioserweise zur Gattung der Nadelbäume gehört und als Glückssymbol in China gilt, weil er angeblich unbeschadet den Atomkrieg in Hiroshima überlebt hat. Oder doch ‘ne fette Stadtratte, die überall nachts durch die Altstadt huschen, aber eine von den echten Nagern und keine Taube, die manchmal so tituliert werden. Sie blickte nach unten, wo der Hund gerade rückwärts hervor robbte, mit einer Art Band im Maul, an dem scheinbar etwas Schweres dran hing, das über den Boden schleifte. In der Dunkelheit konnte Mona nicht sehen, was er gefunden hatte, weil er mit der Nase darüber gebeugt, schnüffelte. Sie schob ihn zur Seite, so gut es ging, sah etwas aufblinken und erkannte im schwachen Mondlicht schemenhaft die Umrisse eines Fotoapparates. Wer warf denn so ein Teil weg? Vielleicht defekt? Oder gestohlen und hierher entsorgt. Beherzt entwand sie die Kamera Trolls Gebiss und hängte sie mit dem Gurt über ihre Schulter.

»Du guckst zu viele Krimis, Mona«, sprach sie sich halblaut selber Mut zu und wollte den Hund, der erneut nach oben zog, gerade von der Leine lassen, als es oberhalb hinter den Büschen deutlich raschelte. Atmete da einer? War da jemand?

*

Troll stand jetzt völlig regungslos, die Ohren aufgestellt und schaute fragend zu ihr. Eine Gänsehaut kroch Mona die Arme hinauf bis in den Nacken. Sie traute sich kaum zu schnaufen und das flaue Bauchgefühl wurde jetzt so übermächtig, dass keine zehn Pferde sie mehr zu halten vermochten. Bloß weg von hier! Sie zerrte mit Mühe an Trolls Halsband, der jetzt wieder knurrend und heftig in Richtung Zitadelle zog, und schleifte ihn fast ein Stück der Straße. Dann rannten sie im Laufschritt hinab wie von imaginären Furien gehetzt. Die Kamera schleuderte wild über Monas Schulter, bis sie endlich die Plätze erreichten, wo die Menschen feierten. Keiner beachtete sie, alle waren mehr oder weniger wein- oder bierselig. Noch immer außer Atem schloss Mona die Haustür auf und drückte den Schalter der Treppenhausbeleuchtung. Sie beugte sich nach unten, um den Hund von der Leine zu klinken, als ihre Entdeckung sie erstarren ließ. Die weißen Muster an ihrem schwarzen Kleid schillerten rund um die rechte Taillenseite, rot – blutigrot!

 

Verdammt, das konnte nur von Trolls Fundstück stammen. Tatsächlich! An der verkratzten Digitalkamera (wie Mona gerade registrierte, war es eine!) klebten noch verschmierte Reste von leicht verkrustetem Blut. Angeekelt und mit leichter Übelkeit in der Magengegend, aufgrund ihrer Aversion gegen den Anblick von Blut, nahm Mona das Band vorsichtig von der Schulter und transportierte die Kamera an zwei Fingern des ausgestreckten Arms pendelnd die restliche Treppe hinauf. Am liebsten würde sie den blutigen Apparat durchs offene Fenster auf die grölenden Heimkehrer werfen, dann könnten die sich damit befassen. Heute war wirklich kein Glückstag. Eigentlich müsste sie jetzt noch bei der Polizei anrufen, ihren Namen nennen und ALLES erklären… Was tun? Sie hatte so gar keinen Nerv mehr dafür, fühlte sich hundemüde und völlig erschlagen.

›Verschieben wir’s auf morgen!‹

Dieses Motto von Scarlett O’Hara in, ›Vom Winde verweht‹, hatte Mona von klein auf fasziniert und genauso – würde sie dieses kleine Problemchen jetzt auch händeln.

Samstagnacht, drei Uhr dreißig.

Völlig verschwitzt erwacht, fühlte Mona sich bleischwer wie ein feuchter Zementsack. Schlagartig überfiel sie der Gedanke an die Kamera, die sie auf dem Papierberg an der Eingangstür deponiert hatte, direkt neben den schmutzigen Turnschuhen vom verregneten Spaziergang am Rhein. Sie sollte mit jemandem darüber reden. Vielleicht hätte sie doch besser noch angerufen. Womöglich hatte der Dieb noch hinter den Büschen gehockt, nachdem er einen Mann oder eine Frau beraubt hatte. Bei Simone konnte sie eigentlich zu jeder Uhrzeit durchrufen. Aber die lag entweder sektselig schlummernd neben ihrem Holger im Bett oder sie liebten sich gerade unbefangen und hemmungslos in der ersten Nacht, wo die Schwiegermutter abgereist war und nicht vom Nebenzimmer, die Rhabarberohren ausklappte zum großen Lauschangriff. Wen könnte Mona sonst noch…?

Micha fiel ihr ein, doch der war in weiter Ferne und sicherlich mit spannenderen Dingen beschäftigt bei seiner aktuellen Weltreise. Eine große Ehre, als Kameramann beim Dreh dabei zu sein am Fuße des Himalaja Massivs im kleinen, angeblich so glücklichen Königreich Bhutan, zwischen Indien und China gelegen. Die ZDF-Crew war das erste ausländische Fernsehteam, dem der Zutritt vom König gestattet wurde, wie er ihr voller Stolz gemailt hatte. Keine Ahnung, wie es dort mit einer Zeitverschiebung aussah, oder ob er noch wach war? Egal, falls er keine Störung wünschte, würde sich die Mailbox melden. Ihn durfte sie jedenfalls immer anbimmeln mit diesem Tribandhandy fürs Telefonieren nach Übersee. Eh ein Geschenk von ihm und natürlich mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis.

»Michael Berens. Hallo?«

»Micha? Gott sei Dank! Du schläfst noch nicht? Hier ist Mona.«

»Hallo Prinzessin, (SO nannte er sie immer noch!) wo brennt es denn? Ist etwas mit Troll?«

Wegen der beträchtlichen Gebühren bei Auslandsgesprächen spulte Mona die Geschichte hastig herunter.

»Den Notruf – die 110 – kannst du jederzeit anrufen. Mach’s am besten gleich, nicht so lange überlegen, dann hast du es hinter dir. Unangenehme Dinge sollte man nicht auf die lange Bank schieben, vielleicht gibt es eine ganz simple Erklärung dafür«, riet er ihr. Sein Pragmatismus war wirklich manchmal sehr hilfreich, obwohl er sie in ihrer Beziehung oft damit genervt hatte. Sicherlich entsprach es einer Tatsache, dass Mona sich immer zu viele Gedanken machte.

»Meinst du wirklich? Na gut, ich halte dich auf dem Laufenden. Wie läuft’s denn bei euch? Alles okay?«

»Alles paletti! Super, traumhaft gigantisch und ein bisschen hinterm Mond hier. Ich werde dir ausführlich berichten, wenn wir zurück sind. Was treibt Troll, benimmt er sich?«

»Klar, wie immer. Viele Grüße von ihm. Danke für deinen Rat und bis bald. Ciao.«

»Ciao Bella und viel Glück beim Anrufen.«

Oh yeah! Derart aufgekratzt und die Superlative überschlugen sich ja fast, dachte sie verwundert, war es wirklich so toll dieses Land? Troll blickte sie an, als wollte er sagen:

›Mach nicht so einen Bohai mitten in der Nacht, es ist schließlich Schlafenszeit!‹

*

Etwas nervös drückte Mona die Tasten des Telefons.

»Notruf hier. Wer spricht?«, meldete sich eine sonore Stimme.

»Hier ist Mona Blume und ich habe heute Abend eine blutige Digitalkamera gefunden, als ich mit dem Hund Gassi war.«

Sie sprach zwar sehr schnell, aber der Mann hatte alles verstanden.

»Geben sie mir bitte ihre Anschrift und beschreiben sie den Ort, wo und wann sie das Fundstück entdeckt haben. Moment, ich habe hier eine Monika Blume, Augustinerstraße 29. Sind sie das?«

»Ja, klar. Entschuldigung, aber alle nennen mich nur Mona.«

Die Studentin beschrieb detailliert den Platz nahe der Zitadelle, den Part des Hundes und die Uhrzeit. Sogleich folgte die nächste Frage.

»Wo befindet sich die Kamera momentan?«

»Ich hab sie mitgenommen.«

»Wir kümmern uns darum, sie hören von uns.«

Ihre Bürgerpflicht war getan und den klebrigen Fotoapparat würden sie sicher morgen abholen. Damit dürfte der Fall für sie erledigt sein, dachte Mona blauäugig und kuschelte sich wieder ins noch warme Bett.

Sonntagmorgen, 26. Juni

Pustekuchen! Um sechs Uhr klingelte es Sturm. Troll sprang auf, trabte an die Tür und bellte, so laut er konnte.

»Ruhig, Troll!« Obwohl es Mona sehr recht war, wenn er bei jedem Klingeln heftigst Laut gab, denn die lästigen Zeugen Jehovas hatte er irgendwann auf diese Art nachhaltig vertrieben, scheinbar für immer.

»Ja«, grummelte sie in die Sprechanlage.

»Hier ist die Polizei. Wir haben einige dringende Fragen, öffnen sie die Tür und sperren sie den Hund weg.«

Mona eilte zum Fenster und schaute hinunter. Tatsächlich, vor dem Haus warteten zwei uniformierte Polizisten in grünen Jacken, khakifarbenen Hosen, mit weißgrünen Helmen und Funkgeräten in den Händen. Schnell wickelte sie den geblümten Kimono übers Schlafshirt und betätigte den Türöffner. Troll schob sie vorher ins Bad, wo er weiter ausgelassen kläffte, knurrend und kratzend dabei seine Krallen in der Tür verewigte, als die Beamten mit gezückten Ausweisen die Wohnung betraten.

»Wo ist die Kamera, wo genau lag sie? Was haben sie gesehen? Bitte jedes kleinste Detail angeben, auch wenn es ihnen nicht wichtig erscheint. Ist ihnen jemand begegnet? Warum haben sie uns nicht sofort verständigt…«

So viele Fragen – wegen eines ordinären Taschendiebs?

Mona versuchte alles penibel zu beantworten und erkundigte sich dann leicht echauffiert nach dem Grund dieses, in ihren Augen, maßlos übertriebenen Zwergenaufstands.

»Darüber dürfen wir keine Auskunft geben. Nur so viel, wir haben dort eine weibliche Leiche gefunden und brauchen ihre Zeugenaussage. Kommen sie heute um acht Uhr dreißig ins Polizeipräsidium am Valenciaplatz zwei. Das Beweisstück nehmen wir mit.«

OH Gott! Eine tote Frau lag da oben, wo sie nachts entlang spaziert waren. Mona lief es eiskalt den Rücken herunter. Die Beamten verabschiedeten sich und gingen mitsamt der ekligen Kamera die Treppe hinunter. Ihre vollschlanke Nachbarin, Frau Liane Liderlich, geborene Frommhold, aus einem Altmainzer Clan stammend, wie sie sich vorstellte, als Mona einzog, war leider ebenfalls schon wach. Sie blickte neugierig und verschlafen hinter der spaltbreit geöffneten Tür hervor.

»Ah Frolleinche, wat’s dann los – Bollizei?! Honn se ebbes ausgefresse?«

Sie verzog das flache Mondgesicht zu ihrem typischen, breiten Pharisäerlächeln. Die Studentin bezeichnete es so, weil die Hausmeistergattin schon einige Male erfundene Gerüchte über sie in der Nachbarschaft verbreitet hatte, ihr aber nichtsdestotrotz – stets bigott und katzenfreundlich ins Gesicht lachte. Schrappnelda! Die hatte ihr gerade noch gefehlt!

Das Hausmeisterpaar Liane und Benno Liderlich

Madame hörte, sah und wusste alles, und was sie nicht wusste, das wusste sicher ihr Göttergatte Benno, ein dürrer, meist griesgrämig dreinschauender, langer Lulatsch mit strohig zottigem Schnauzbart. Seines Zeichens Hausmeister ihres Wohnhauses, wie auch im nahe gelegenen Kolpinghaus, wo er die manchmal aufsässigen Lehrlinge dort tüchtig

» …aufmische dut und dafür noch Geld kassiere dut!«

Mit geschwellter Brust hatte Liane derart geprahlt, als sie Mona zu Anfang in die gute Stube bat, um ihr stolz die, mit winzigen Kreuzstichen in rotem Garn gestickten und gerahmten Erbbilder aus Familienbesitz an der Wand zu präsentieren, welche ihren alten Stammbaum als Rhein-Adel in der ›Vilzbach‹ belegten.



Benno Liderlich wirkte ständig unzufrieden, wahrscheinlich wusste er selber nicht so genau, warum. Vielleicht war er schlichtweg ein Frauenhasser, seine Angetraute natürlich ausgenommen. Augenscheinlich ein waschechter Misanthrop und knottriger Miesepeter, über dessen Eignung zu einem Job in dieser katholischen Einrichtung, wo der Umgang mit unterschiedlichsten, auch körperbehinderten Jugendlichen vonnöten war, konnte die Studentin nur spekulieren.

Mona Blume mochte er offensichtlich nicht, so bärbeißig, wie er in ihrer Gegenwart stets agierte. Er verkörperte für Mona, das absolute Kontrastprogramm zur aufdringlichen Leutseligkeit seiner besseren Hälfte. Sprichwörtlich flogen Gegensätze ja geradezu aufeinander, bei diesen beiden traf der Spruch scheinbar ins Schwarze. ›Dick und Doof‹ liegen wieder auf der Lauer oder ›Waldorf und Stadler‹, die zwei Balkongreise der Muppetshow, hatte Micha des Öfteren bemerkt, weil ihre Köpfe stets prompt am Fenster auftauchten, wenn er zu ungewöhnlichen Zeiten ging oder kam aufgrund seines Dienstplanes.

Du kannst mich mal, Liane!

»Nein, Frau Liderlich, sonst hätten SIE es schon gehört!« Rumms! Die Tür fiel laut ins Schloss. Heute war es Mona völlig schnuppe, falls die scheinheilige Nachbarin pikiert war. Ansonsten bemühte sie sich ja immer freundlich zu sein, auch wenn sie das zänkische Albtraumpaar eigentlich nicht ausstehen konnte. Warum musste man in einem Mietshaus zwangsläufig auf irgendeine Weise und meist noch hautnah, am Leben anderer Bewohner teilnehmen? Ob man wollte oder nicht! Mona befreite erst Troll aus seinem gekachelten Gefängnis. Ihre Knie waren butterweich, die Beine gaben nach und sie musste sich erst einmal hinsetzen. Augenblicklich war ihr die Situation der letzten Nacht, so richtig bewusst geworden. Ein gemeiner Mord im katholischen Mainz und sie unmittelbar in der Nähe des Tatorts. Die knackenden Geräusche im Gebüsch. Vielleicht hatte der Mörder sie beobachtet…? Er hätte sie ja auch…!

Deswegen war der Hund kaum zu bändigen. Simone hatte Mona mal gefragt, ob sie keine Angst hätte, wenn Troll nachts noch raus musste. Bislang hatte sie das stets verneint, obwohl ihr bekannt war, dass dieser im Ernstfall keine große Hilfe wäre, weil er nicht schussfest war, wie es beispielsweise für Polizeihunde Vorschrift war. Michas Hund litt an einer Art Knalltrauma, seit er als Welpe einen Unfallcrash im Auto miterlebte, wo er von der Rückbank zur Windschutzscheibe geschleudert wurde. Seit jener Zeit erfasste den relativ großen Kerl eine panische Angst bei lautstarken Geräuschen und er verkroch sich schutzsuchend unterm Tisch oder besprang den nächsten, erreichbaren Schoß. Sie musste sich anziehen. Der Hund schlabberte währenddessen laut seine Schale leer, danach richtete er die braunen Knopfaugen auf Mona.

»Ja, ich weiß schon, die volle Blase drückt! Bloß wohin?«

Der gewohnte Platz auf der Zitadelle war ihr gründlich verleidet, aber am Rheinufer, hinter dem Malakoffkomplex, wuchsen auch grüne Büsche. Die Straße lag noch menschenleer. Durch die Holzstraße, an der Fachhochschule vorbei, unter dem Sandsteintor hindurch… Weiter kamen sie nicht, Troll hatte bereits eine geeignete Ecke zum Pieseln gefunden. Schnell retour, um halb neun sollte Mona bei der Polizei antreten, obwohl heute Sonntag war. Vielleicht gab es einen Kriminaldauerdienst für Mordfälle?

 

*

Die Studentin hatte das hochgeschlossene Kleid gewählt, um einen seriösen Eindruck zu hinterlassen. Sie zog die Jacke darüber, es war noch ziemlich frisch draußen und ging los. Was die dort noch von ihr wollten, sie hatte doch schon alles erzählt.

Gedankenverloren steuerte sie ihr Auto an, bestieg gewohnheitsmäßig die Treppe zur Weissliliengasse. STOPP! Sperrschilder quer vor dem Stufenende bis an die Ampel. Alles war weiträumig abgesperrt und überall agierten grüngekleidete Polizeibeamte mit Schäferhunden. Ihren fahrbaren Untersatz konnte sie wohl die nächsten Tage vergessen. Normalerweise erledigte sie alles Erreichbare zu Fuß, nur bei größeren Entfernungen nahm sie das Auto. Obwohl sie auch das Semesterticket der Uni hätte nutzen könnte, das im gesamten Rhein-Main-Verbund Gültigkeit besaß. Mona drehte auf dem Absatz um und lief zurück. Wo gab es einen Bus zum Valenciaplatz am Sonntagmorgen? Jetzt bedauerte sie, sich im Netz der Stadtwerke nicht auszukennen. Egal, am Höfchen befanden sich einige Haltestellen, da würde schon einer dabei sein.

Im ersten der gläsernen Wartehäuschen hatte sich das altstadtbekannte, obdachlose Männerpaar auf dem fleckigen Schlafsack häuslich eingerichtet mit zahlreichen Bierflaschen. Daneben war ein Einkaufswagen geparkt, vollgepackt mit der armseligen Habe. Sie belallten sich gegenseitig höchst unflätig wie immer, sonst war niemand zu sehen. Leider auch kein Bus, denn alle Stationen der rechten Seite waren verlegt wegen des Stadtfestes.

Als Mona die Ersatzhaltestelle, Ecke Quintinsstraße erreichte, war die richtige Linie gerade losgetuckert, wie ihr der Fahrplan verriet, und die nächste kam erst in einer halben Stunde. Shit! Keine Muße dort zu warten, also ‚per pedes’ quer durch die Stadt. Auf den letzten Metern vorm Präsidium überholte sie der Stadtbus, spärlich besetzt mit zwei Männern und dem Fahrer.

Sonnenklar, dass sie mit ihm zur gleichen Zeit eingetroffen wäre. Ihr Fuß schmerzte jetzt aufs Übelste, denn sie hatte sich zwei Blasen erlaufen an Ferse und dickem Zeh von den schicken Riemchensandalen, deren maximale Laufweite nur für einen Hin- und Rückweg zum Taxi, Theater oder Restaurant angelegt waren. So hinkte sie etwas, als sich die Glastür öffnete.

»Sind sie Monika Blume?«, fragte der uniformierte junge Polizist mit den lustigen Sommersprossen, der dahinter postiert war.

»Sie werden schon erwartet.«

Zügig ging er voraus und Mona folgte ihm langsam und fußlädiert in den ersten Stock. Am zweiten Zimmer links klopfte er kurz.

»Herein«, ertönte es kraftvoll von drinnen. Er öffnete die Tür, verkündete hinein:

»Frau Blume wäre jetzt da.«, und dirigierte sie mit einer kurzen Handbewegung ins Zimmer, dann schloss er sie hinter ihr. Zwei intensiv kornblumenblaue Augen taxierten Mona von Kopf bis Fuß. Bevor sie überhaupt einen Ton herausbrachte, stellte der dazu gehörige Mann oberlehrerhaft fest:

»Sie sind eine halbe Stunde zu spät! Ist Ihnen das klar?«

Klar war ihr das klar! Sonnenklar! Blödmann! Konnte sie etwas dafür, wenn seine Kollegen ihr Auto blockierten und der Bus vor ihrer Nase davonfuhr.

»Ich weiß und es tut mir auch echt leid, aber der Stadtbus…« Er ließ sie nicht ausreden.

»Nun gut, jetzt sind Sie ja endlich eingetroffen! Nehmen Sie dort Platz, wir haben unsere Zeit nicht gestohlen. Und nun geben Sie mir Ihren Personalausweis. BITTE!«

Sie konnte sich wahrhaft etwas Schöneres vorstellen, als den Sonntagmorgen hier zu verbringen. Falls er Stress hatte mit der Liebsten, musste er es nicht an ihr auslassen.

*

»Ihre Personalien haben wir, 1989 in Bonn geboren, fünfundzwanzig Jahre alt, ledig, wohnhaft Augustinerstraße 29 und Studentin an der Johannes-Gutenberg-Universität. Seit fünf Jahren mit Erstwohnsitz in Mainz gemeldet. Korrekt so?«

Sie sagte nichts, sondern nickte nur zustimmend. Jawohl, Herr Lehrer und Körpergröße einssiebzig, einundsechzig Kilo und neunzig-sechzig-neunzig, haha!

»Welches Fach?«, schob er noch hinterher.

»Kunst«, antwortete sie nur knapp. Damit kannst DU sicher nicht so viel anfangen. Warum fühlte sie sich von diesem maskulinen Typ nur so provoziert? Vielleicht, weil sie nicht mit solch einem jungen und attraktiven Kommissar gerechnet hatte. Normalerweise stellte sich jeder einen solchen Mann doch so vor, wie damals dieser ›Derrick‹ oder ›Inspektor Barnaby‹, oder?

ER war schätzungsweise dreißig bis fünfunddreißig, vielleicht einsachtzig groß (er saß), schlank, dunkelhaarig und dann diese blauen Augen… eigentlich optisch ein richtiger Traumtyp, aber eben ein Bulle und momentan wohl nicht in blendendster Stimmung.

»Was hatten Sie an der Zitadelle zu suchen? Um diese Uhrzeit? Waren Sie alleine? Wo genau haben Sie die Kamera gefunden? Warum haben Sie das Beweisstück nicht dort belassen und uns gleich verständigt?! Haben Sie am Tatort irgendjemand gesehen oder etwas gehört? War Ihnen nicht klar, dass Sie eventuell wichtige Fingerabdrücke verwischen könnten, durch Ihr unüberlegtes Handeln, indem Sie die Kamera einfach mit nach Hause nahmen?«

Ein Stakkato von Fragen prasselte auf Mona nieder und riss sie aus ihren Gedanken. Sie fühlte sich so gemaßregelt, wie damals in der Teeniephase, als ihre Mutter sie öfter ins Gebet nahm, wegen der quer durchs Zimmer verteilten, schmutzigen Wäschestücke. Trotzdem beantwortete sie alles in chronologischer Reihenfolge und begründete ihre spontane Aktion damit, dass sie das Teil am Montag im Fundbüro abgeben wollte. Auch, dass sie das Blut erst später entdeckt hatte und natürlich nicht im Traum daran dachte, dass so etwas passiert sein könnte. Langsam hellte sich seine Miene etwas auf und er wirkte gleich viel sympathischer. Das verlieh Mona den Mut nach der toten Frau zu fragen und wie sie zu Tode kam. Er zögerte einen kurzen Moment, dann meinte er:

»Sie können darüber morgen in der Zeitung lesen. Nur so viel, es handelt sich quasi um eine Kollegin von uns. Eine Politesse, die dort ihren Dienst ausübte, und sie ist erstochen worden.«

»OH Gott«, entfuhr es Mona, »das ist ja furchtbar! Weiß man denn schon etwas über den Täter?«

»Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen, aber wir sind jetzt fertig für heute. Falls wir noch etwas von Ihnen brauchen, wissen wir ja, wo wir Sie finden. Sie haben nicht vor, in den nächsten Wochen ins Ausland zu reisen?« Er wollte ihr nichts sagen, außerdem erschien ihr seine letzte Frage total überzogen.

»Wieso nicht verreisen? Verdächtigen Sie mich etwa, Herr Kommissar? Total absurd.«

»Ich bin erst Kommissars-Anwärter und ansonsten müssen wir jeder noch so kleinen Spur nachgehen. Aber jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe noch zu tun.«

Ein echter Rausschmiss in amtlichem Tonfall. Prima! Sie erhob sich vom Stuhl, ergriff ihren Rucksack vom frisch poliert wirkenden Boden und ging zur Tür.

»Auf Wiedersehen.«

»Wiedersehen«, antwortete er, ohne noch einmal von seinem Schreibtisch aufzusehen, als Mona sie schloss.

Vor dem Präsidium empfing sie so gleißendes Licht, dass sie schnell ihre schwarze ›RayBan‹-Sonnenbrille auf die Nase schob. Inzwischen war es halb zehn, die Sonne illuminierte die Stadt so strahlend, als wäre in der Nacht niemals etwas Schauerliches geschehen. Nur, auf einer eiskalten Pathologiebahre der Uniklinik lag eine tote Politesse, deren Mörder noch frei herumlief. Wirklich keine beruhigenden Aussichten! Wegen der inzwischen offenen Fußblasen nahm Mona sich jetzt die Zeit auf den Bus zu warten, der auch zwanzig Minuten später eintraf. In Gedanken ließ sie das Verhör noch mal Revue passieren. Dieser Kommissar in spe, mit diesen blauen Augen, hatte sie irgendwie irritiert. Gab es nicht mal ein Lied darüber? Sie glaubte, sich zu erinnern. Bei der Neuen Deutschen Welle… ›Spliff‹, oder? Ja, genau und ›Anett Humpe‹ war die Sängerin.

»Deine blauen Augen machen mich so sentimental, so blaue Augen…« Ihre ältere Schwester hatte den Song damals tagelang kratzend heruntergenudelt auf dem alten Kassettenrekorder, wegen des frechen Bäckersohnes Kurt Kälble mit den wasserblauen Augen, der Mona immer dicke Kletten in die Zöpfe gedrückt hatte. Dieser barsche Ton am Ende, absolut entbehrlich! Ob dieser Namenlose, sie konnte sich jedenfalls keiner Vorstellung erinnern, mit seinen Lieben auch so rüde umsprang?