Altstadt-Blues 2.0

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Auf dieser wirbelte ihnen jetzt Diva hechelnd entgegen, mit hängender Zunge und in eine kleine Staubwolke gehüllt.

»Diva« war die inzwischen mehr graubraune als braunschwarze Rauhaardackelin von Ilse Gerlach. Beide relativ klein, aber sehr lebendig.

»Meine Tragetaschenhündin«, pflegte Ilse immer zu sagen, weil sie Diva bisher überall problemlos mitnehmen konnte. Manchmal sogar im überdimensionalen Weidenkorb, in dem die jung gebliebene Rentnerin gewöhnlich Berge von Gemüse vom Wochenmarkt nach Hause transportierte. Die Leute glaubten zwar in der klein geratenen, quirligen Dackeldame stets einen süßen, zu groß geratenen Welpen zu erkennen, aber seit die Hälfte von Divas struppigem Fell die Farbe verloren hatte und falls jemand nach deren Alter fragte, antwortete Ilse mit leichtem Augenzwinkern, »Wie der Herr, so’s Gescherr!« Dabei deutete sie auf ihre eigene, graumelierte, dichte Haarpracht, die sie immer geschickt mittels Hornkämmchen zu einer Art kunstvoller Hochsteckfrisur arrangierte.

Ilse Gerlach (Monas mütterliche Freundin)

Ilse lebte seit vielen Jahren als bekennende Vegetarierin, resultierend aus der festen Überzeugung, dass es gesünder sei, für Körper und Geist und aus großer Leidenschaft:

»… für alles, was Augen hat!« Früher schon selten Fleisch verzehrt, erfolgte die Initialzündung für den endgültigen Verzicht umgehend nach ihrem Einzug in der Altstadt. Damals, als die nichts ahnende Großstädterin Ilse erschreckt die Anlieferung einer Ladung aufgeschlitzter, mittig auseinandergeklappter, ganzer Schweine beobachtete, die im Morgengrauen mittels einer quietschenden Winde aus einem Transporter nach unten gelassen, in benachbarter Metzgerei verschwanden.

Das zwangsläufig folgende Mark&Bein-durchdringende Kreischen einer Kreissäge im Hinterhof, welches vom Zerstückeln der armen Säue zeugte, vergällte Ilse langfristig den Appetit auf den geliebten Frühstücksspeck, da sich die gruselige Vorstellung regelmäßig und unausweichlich wiederholte. Lange Zeit verlegte die Neubürgerin ihr Frühstück ins Wohnzimmer, um den nervtötenden Geräuschen der unteren Nachbargefilde zu entgehen. Sie schloss das Küchenfenster wegen des aufsteigenden, weißen Dampfes, der ihre Fensterscheiben beschlug, und vermied zukünftig den Blick auf die sehr frühe Leere der Fußgängerzone, weil das Quietschen des Seilzugs sie stets an das Quieken lebendiger Schweine erinnerte.

Zum Glück war die Ausbeinerwerkstatt vor einigen Jahren deutlich besser isoliert worden, sodass Ilse sich von der schweinischen Verarbeitung nicht mehr belästigt fühlte. Auch die sehr frühen Zeiten für die wöchentliche Anlieferung und den Abtransport der abgenagten Knochen samt Müllbox waren ihr schleunigst so hinlänglich bekannt, dass sie diese Aktionen bewusst ignorieren konnte. Ilse bewohnte seit fast dreißig Jahren ihre kleine, aber sehr charmante Wohnung mit schiefen Wänden im zweiten Stock eines vierhundertjährigen Hauses mit überputztem Fachwerk in der Augustinerstraße. Anfangs noch mit Sohn Henrik, der inzwischen erwachsen war, und im Ausland lebte. Auch Mona hatte auf Anhieb ihre Studentenbude hier gefunden, allerdings in einem jüngeren Wohnhaus, auf der sogenannten Beletage im ersten Stock und zweihundert Meter weiter Richtung Dom. Die Bischofsstadt, insbesondere die verwinkelte Altstadt, war inzwischen zu Ilses Heimat aufgestiegen, wo sie sich sehr wohl fühlte. Trotz ihrer mittelgroßen Adaptionsprobleme an die »Schunkelmentalität« der Urmainzer – treffend ausgedrückt im Fastnachtsmotto: »Mainz, wie es singt und lacht!«, oder in der Realität der Altstadt manchmal eher… stank und krachte!

Anfangs unvorstellbar, als es Ilse samt Nachwuchs aus dem hohen Norden ins Rhein-Main-Gebiet verschlagen hatte und festkleben ließ. Sie kannte zahlreiche Geschichten aus der langen Zeit,

»…über das schwarz-weiße und manchmal grellbunte Treiben in der Altstadt, als sich noch metallene Straßenbahnschienen wie große Adern durch die inzwischen gepflasterte Fußgängerzone zogen und heiße Öfen von Motorrädern oder röhrende Auspuffrohre von lautstarken Autos ihre stinkenden Abgase – fast blau – in den engen Häuserschluchten stehen ließen, ehe sie zum Himmel entweichen konnten.« Aus dieser prallen, imaginären Schatzkiste bewegten Altstadtlebens kramte die sympathische Seniorin des Öfteren, autobiografisch gefärbte Anekdoten und offenbarte diese schmunzelnd der Kunststudentin Mona. Die, immer auf der Suche nach lohnenden Karikaturmotiven, sog sie begeistert auf. Wie jene vom kleinwüchsigen, verhärmten Italiener im zweiten Stock der gegenüberliegenden Straßenfront.

Jedes Mal, sobald Ilse es wagte sich mit Freundinnen am Fenster zu zeigen, fühlte sich dieser Kretin scheinbar zu halböffentlichem, wildem Onanieren animiert, die markante Region zusätzlich beleuchtet durch einem verbeulten Spotstrahler. Was stets so lange reibungslos, bzw., eher reibungsvoll bei ihm ablief, bis ein rohes Ei an seinen verwitterten Fensterflügeln zerbarst und mit klebriger Schleimspur zerfloss. Gezielt platziert von Ilses studentischem Nachbar im dritten Stock, untermalt durch lautes Beifall-Geklatsche eines Konzertmitschnitts aus seiner Anlage, welche er zur Untermalung der kostenlosen Peepshow so lange erdröhnen ließ, bis die wohlgenährte, italienische Mama wutschnaubend aus dem Nachbarzimmer der engen Wohnung emportauchte. Sie zerrte ihren ‚Onani’ hastig von der Bildfläche und verschloss Fenster und Gardinen blickdicht.

Oder die von zwei feministisch angehauchten Studentinnen im gleichen Haus, die Ilses dreizehnjährigen Sohn samt Freund eines Abends mit anstachelnden Sprüchen quer über die Straße in ihre Wohnung lockten, um den Teenies eine Metallreibe vom Flohmarkt in die Hände zu drücken mit den Worten,

»Macht’s euch selber, Männer«: Umgehend schickten sie dann die verdutzten Jungs samt Reibe zurück. Wohl eine Reaktion auf deren neugierige und pubertäre Blicke in die gut einsehbaren, gardinenlosen Fenster, unter denen sich die Mädels anschließend lachend auf der Matratze kugelten.

Ebenso diverse Storys über den quirligen, italienischen Familienclan, der sich Jahr um Jahr zahlenmäßig vergrößerte und das enge, nachbarliche Hinterhaus bevölkerte, welches im Zweimeter Abstand zum Haupthaus errichtet war. Im Winter kühlten sie ihre Vorräte in aufgeschnittenen Plastikkanistern auf der Fensterbank und im Sommer kurbelten »la Madre« und »la Nonna« abwechselnd und tagtäglich die Wäsche mittels einer abenteuerlichen, mechanischen Rollenkonstruktion zum übernächsten Hinterhof. Dort hauste mehr als wohnte scheinbar ihre Verwandtschaft, wie man den lebhaften, fast maschinengewehrartigen Unterhaltungssalven entnehmen konnte, die, zumindest die Hälfte des Tages, quer über den Hinterhof schallten. Durch die plastische Schilderung der pittoresken Altstadtarchitektur und ihrer Bewohner in den siebziger Jahren vermittelte Ilse immerzu einen Hauch ihres ganz persönlichen Mainz-Eindrucks an Mona, die jedes Detail begeistert aufsog. Die Studentin verklärte die überlieferten Momentaufnahmen schwärmerisch zu einem Fin de siècle-Flair, welches sie bedauerlicherweise nicht mehr hatte erleben dürfen aufgrund der umfassenden Altstadtsanierung.

Das anheimelnd nostalgische Bild, welches ihr Ilse irgendwann beschrieben hatte, » …als über viele Jahre aus dem Rundbogenrahmen der Dachluke im unbewohnten Hinterhaus, ein dickwangiger, barock vergoldeter Putto, seinen Blick verträumt in mein Küchenfenster richtete«, konnte sie bereits zu einer zart pastellfarbenen Illustration verarbeiten. Mona mochte Ilse und deren häufig poetische Ausdrucksweise gefiel ihr sehr. Obwohl die ungleichen Freundinnen bei Unterhaltungen regelmäßig befremdliche Blicke und Tuscheln der Nachbarn ernteten. Besonders auffällig vor dem italienischen Eiscafé am Leichhof zwischen den eng gestellten Tischen, wo sie sich öfter zu Latte macchiato oder Gelati multicolore verabredeten. Vermutlich zielte das pikierte Gebaren mancher Mitmenschen darauf, Ilses Redefluss zu stoppen oder auf normalbürgerlichen Level herabzusenken, doch es bewirkte eher das Gegenteil. Je nach Stimmung regte es Ilse zu lyrischen Höhenflügen an, mit promptem Echo im Umkreis, über das sie beide später herzhaft lachen konnten. Ilses vieljährige Tätigkeit als Lektorin eines Frankfurter Verlages, wo sie auch Gedichte redigieren durfte, hatte mit Sicherheit auf sie abgefärbt, wie sie gerne einräumte.

*

»Der Wochenmarkt ist schlichtweg ein Traum. Von mir aus könnte der immer am Hopfengarten seine Zelte aufschlagen«, rief sie ihnen leicht keuchend zu, weil sie versucht hatte ihrer Diva zu folgen, die trotz kurzkrummer Dackelbeine sehr flink war. Mit,

»Hallo, ihr zwei! Schon so früh unterwegs am Samstag?«, blieb Ilse vor ihnen stehen, während die freilaufende Diva den angeleinten Troll schnuppernd umkreiste.

Inzwischen war es halb zehn geworden. So früh waren sie sich samstags noch nie begegnet. Mona schilderte leicht verstimmt ihren frühmorgendlichen Ärger mit der Politesse und dem Strafzettel, während bleierne Müdigkeit langsam ihre Glieder hochkroch und ihr den viel zu früh abgebrochenen Schönheitsschlaf in Erinnerung rief. Ilse nickte zwar verständnisvoll, aber da sie kein eigenes Auto besaß, kannte sie die katastrophale Parksituation der stark frequentierten Altstadt nur vom Hörensagen. Sie meinte beschwichtigend:

»Aber Mona, die tun doch auch nur ihre Arbeit. Sonst würde ja überall das Chaos ausbrechen.«

»Ja, aber klar.« Niemand verstand Mona heute Morgen, darum verabschiedete sie sich schnell. »Ciao, Ciao! Wir sehen uns bestimmt später noch.«

Mit schweren Beinen und Troll im Schlepptau stapfte sie die Stufen hinunter, vorbei am bunten Marktgetümmel, um die Ecke in die enge Fußgängerzone, wo wieder einmal reger Lieferwagenverkehr sich wagemutig an vollgehängten Kleiderständern, Angebotsschildern und ausladenden Markisen vorbeiquälte. Hupend bemühten sie sich, sich gegenseitig im Schneckentempo, Millimeter für Millimeter, zu überholen, was alle Passanten mehrmals zu lästigem Stop-and-go zwangen.

 

Werktag für Werktag, das gleiche lästige Spiel, so unnötig wie ein Kropf! Warum schafften es die Anrainer-Geschäftsleute nicht, ihre Werbeutensilien bis elf Uhr im Laden zu lassen bis die tägliche Ladezone für die Zulieferer beendet war und diese niemanden mehr störten? Verflixt, beim Ausweichen an eine Hauswand war Mona voll in einen stinkigen Hundehaufen getreten. Brr, igitt! Sonst achtete sie immer penibel auf solche Tretminen. Eigentlich war der Samstag Monas Lieblingstag der Woche, aber in letzter Zeit erschienen ihr die Samstage eher wie aneinandergereihte Montage, in denen Murphys Gesetz zu Monas unliebsamen Begleiter wurde. Genau dieses grüßte gerade wieder einmal leise aus der Ferne.

Sie streifte ihre rechte Sandale am nächsten höher stehenden Pflasterstein ab, der sich bot. Leider waren nicht alle Hunde so reinlich wie Troll, der niemals seine Ausscheidungen auf der Straße absonderte. Den rettenden Hausflur erreicht, die Treppe hoch, rutschte Mona mit ihrem restkot-behafteten Blockabsatz blitzschnell und mit viel Druck, über die borstige, spruchgeschmückte Fußmatte des Hausmeister-Ehepaares der gegenüberliegenden Wohnung. Genauso, wie sie es einmal bei zugehöriger Dame auf der Matte der Mieter vom Erdgeschoss beobachtet hatte. Immerhin war hier zu lesen, ›Tritt rein, bring Glück hinein!‹ Sei’s drum! Endlich zu Hause. Die Schuhe vorsichtig aus und auf die Werbeprospekte gepackt, die für die Papiertonne bereitlagen. Klamotten herunter, schnell noch das Handy auf zwölf Uhr »Wecken« gestellt.

»Leg dich hin, Troll, guter Hund.« Die elastischen, gelben Ohrenstopfen in die Ohren gedrückt, zog Mona die Bettdecke über den Kopf und mit den Gedanken, falls jetzt noch mal einer stört, den höre ich hoffentlich nicht oder ich erwürge ihn, schlief sie ganz schnell ein. Tief und fest.

*

Handyklingeln weckte sie. Vierzehnuhrzehn – verflixt, sie hatte verschlafen. »Jaa?«

»Hallo Süße.« Ihre beste Freundin Simone versuchte schnell zu eruieren, welches Outfit Mona gewählt hatte für ihr Date um halb drei. Außerdem wollte sie ihr mitteilen, dass das »Buchdruckergautschen« erst um vier stattfand, nicht um drei, wie sie zuvor gesimst hatte. Die zuverlässige Sonne malte safrangelbe Muster durch die blau-metallischen Jalousien auf der weißen Raufasertapete des Schlafzimmers.

»Das trifft sich gut. Treffen wir uns dann um drei, vielleicht vor dem Café am Ballplatz?«

»Okay, und was ziehst du an? Etwa das schicke Shirt aus der Boutique Diehl am Leichhof aus der letzten, verkaufsoffenen »Nacht der Sinne«?«

»Das im Kaufrausch erstandene heiße Teil? Nein, zu offenherzig für heute. Ich denke, das schwarzweiße Kleid und die kurze Jeansjacke nehme ich mit. Aber jetzt muss ich dringend unter die Dusche. Bis gleich.«

»Ciao, Bella!«

Troll, ebenfalls staksig erhoben, schnuffte an dem halb vollen Pott, bevor er mit spitzen, gelblichen Zähnen ein paar Happen ins Maul bugsierte. Das heiße Wasser tat Mona gut und langsam wechselte ihr Befinden von so-lala-wach zu hellwach. Noch ganz kurz nach Kneipp – eiskalt abgeduscht, fertig.

Wo hatte sich nur das angedachte Kleid versteckt? Mona durchforstete den bunten Klamottenberg, der sich auf dem platzbietenden Rattanschaukelstuhl türmte.

»Ordnung ist das halbe Leben…«; hörte sie im Geiste ihren korrekten Vater dozieren und ihre lässige Mutter vermitteln:

»Wer Ordnung hält, isch nur zu faul zum suche!« Sie nicht! Da war es schon und absolut tragbar. Ein heftiges »Danke« an die Erfinder knitterfreien Materials. Wimperntusche in Intense Black, einen Klacks des genialen Consealers auf den rosa aufblühenden Pickel an der Nase und der zartrote Gloss-Lippenstift. Perfekt. Ungeschminkt in Naturpur-Look wie heute Morgen verließ Mona fast nie das Haus. Der Hund lag bequem in seiner Kuscheldecke vergraben, augenscheinlich wunschlos glücklich.

»Pass schön auf die Wohnung auf. Ich komme bald zurück«, trug sie ihm auf, während sie noch kurz seine Lieblingsstelle am Hals kraulte. »Mach mir keine Schande, bis nachher, Troll!«

*

Quer durch die Fußgängerzone wuselte es ameisenhaft. Samstags Normalzustand und heute bei strahlendem Wetter und wegen des Johannisfestes entsprechend mehr. Mona schob sich durch die Massen bis zum fachwerkgeschmückten Weinhaus auf der Ecke zur Heiliggrabgasse, die zum Bischofsplatz führte. In dieser lauschigen Weinstube pflegten wohl einige Rentner ihren Zeitwohnsitz. Zu Anfang ihrer Mainzzeit, beim fünften Anlauf darin einen Platz zu ergattern, waren Micha und sie endlich fündig geworden. Doch statt des Kellners, der ihnen die Speisekarte offerierte, erschien ein rechts und links grüßendes, sehr reifes, gemischtes Dreiergespann und behauptete empört, die Studenten blockierten ihre gewohnheitsrechtlichen, langjährigen Stammplätze, die umgehend zu ihren Gunsten zu räumen wären. Danach hatte es sie beide nie wieder gereizt, einen weiteren Versuch zu starten.

In der etwas ruhigeren Gasse, vis à vis von Sparkasse und dem edlen Weinladen, vor dem alljährlich gleich platzierten Toilettenwagen, thronte die Toilettenfrau auf ihrem Hocker, traumverloren in einer zerfledderten Vogue blätternd. Neben sich einen antiquarischen Pinkelpott aus Porzellan deponiert, mit kleinen Blümchen darauf und einigen Münzen darin, harrte sie geduldig des Ansturms notdürftiger Kundschaft, der unausweichlich später erfolgen würde. Um die bronzene Bischofsskulptur waren die vielen Stände bereits stark frequentiert von durstigen Gästen. Die aufgebaute Bühne für die spätere Live-Musik lag verlassen, nur ein Konservensong, der angeblich niedlichsten Versuchung, seit es Blondinen gab, der Australierin Kylie Minogue, schallte über den lauschigen Platz mit dem efeuüberwucherten Parkhaus. Geradeaus, durch die Gasse zwischen Paxbank und Bereitschaftspolizei hindurch, eilte Mona schnellen Schrittes zum Ballplatz, wo gerade ein Zauberer im blau beleuchteten Szenario, Eltern, Großeltern und Kindern mit Magischem verzauberte. Der Johannis-Büchermarkt, täglich von zehn bis zweiundzwanzig Uhr geöffnet und von Leseratten jeden Alters umlagert, lief bereits auf Hochtouren. Monas Blick schweifte suchend über die besetzten Tische des Cafés, als Simone ihr zuwinkte, lachend aufstand und stehen blieb, bis sie durch die knappen Abstände zu ihr hinlangte.

»Hi, Mona!« Küsschen rechts und Küsschen links.

»Hi! Wartest du schon lange?«

»Nein, gerade gekommen und noch nichts bestellt. Gut siehst du aus.« Kaum hatten sie Platz genommen, erschien die Bedienung und Simone bestellte: »Zweimal Latte macchiato, bitte.«

»Gerne! Die Latte, mild oder würzig, typisch italienisch oder sortenrein?«, fragte das Mädel.

»Wusste nicht, dass es solche Unterschiede gibt, aber ich denke, sortenrein hört sich gut an, oder?«

Simone blickte fragend zur Freundin, die zustimmend nickte.

»Okay, aber mit viel Zucker, bitte«, rief Mona der Serviererin noch hinterher, die zum nächsten Tisch weiter gegangen war.

»Du Zuckerschnute! Wohl immer noch nicht süß genug?« Zuerst die Zigaretten und die Handys auf den Tisch, dann ihr kleines Ritual bei jedem Treffen. Simone gab Mona Feuer und umgekehrt. Simone bevorzugte Menthol-Zigaretten, die Mona immer Kopfschmerzen bescherten, sie selber war leicht süchtig nach den schlanken Caprice, fast genauso süchtig wie nach glibberig, grüner Götterspeise. »Und? Wie ist es dir ergangen?«

Simone Gebert (Monas beste Freundin)

Letzte Woche hatten sich die Freundinnen nicht gesehen. Die Freundin bezeichnete sich als zufriedene Inhaberin eines raren Halbtagsjobs, als PR-Frau im Amt für Öffentlichkeitsarbeit der Stadt; recherchierte viel und schrieb hauptsächlich Texte für deren Internetauftritte. Ihr Ehemann Holger hatte eine leitende Position inne, als Polizeibeamter im gehobenen Dienst des Bundeskriminalamts in Wiesbaden, aber was genau er dort machte, wusste Mona nicht. Die jungen Frauen hatten sich vor einem Jahr in der Uniklinik angefreundet, als Leidensgenossinnen eines geteilten Doppelzimmers. Dessen traute Gemeinschaft durften sie auch nach fünf Tagen gemeinsam verlassen, allerdings ohne den überflüssigen Wurmfortsatz, üblicherweise auch als Blinddarm bezeichnet. Diese Ausnahmesituation, wo völlig fremde ihre Privatsphäre dem zufälligen Zimmergenossen manchmal so öffneten wie selten im normalen Leben, erwies sich für sie beide als Glücksfall. Denn sie wurde zum Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Monas allererste, abschreckende Klinikerfahrung im Frühjahr gleichen Jahres wurde dadurch glücklicherweise amortisiert. Der fürchterliche und nervige Aufenthalt neben einer quengeligen Bettnachbarin, der dauerschwitzenden und vollschlanken Frau Speck. Im März hatte sie sich einen schmerzhaften Abszess an der Pobacke erritten, der stationär behandelt und exzidiert werden musste. Dieser war die unerwünschte Folge eines Schnupperkurses für Reitanfänger im Wiesbadener ›Adamsthal‹, welcher zur Vorbereitung für Reiterferien in Andalusien dienen sollte. Micha hatte diese spanische Region zum gemeinsamen Urlaubsziel des Sommers erkoren und letztendlich alleine genossen – drei Monate nach ihrer Trennung. Von dieser Frau Speck wurde Mona bereits am ersten Abend als »Eule« eingestuft und nebenher noch, gebetsmühlenartig, über deren sämtliche Wehwehchen informiert.

Allmorgendlich um halb fünf weckte sie die Studentin unsanft durch Klopfen aufs Fußteil und ein lautes »Gudemorjen,« nachdem sie nachts die Heizung abgedreht und alle Fenster klimakteriumsbedingt weit aufgerissen hatte. Als Krönung pochte diese »Lerche« tagtäglich nach der Tagesschau auf ihr Ruherecht als Schwerstkranke, aufgrund höllisch brennender Hämorrhoiden oder wuchernder Divertikel. Danach folgte immer das herrische Verlangen nach »AUS!« von Licht und Fernseher, um sofort fürchterlich sägend in einen todesähnlichen Tiefschlaf zu versinken. Vier endlos erscheinende Tage und Nächte inklusive zahlreicher Versionen der »speckigen Krankheitschronik« und stets identischer Telefonate der Nachbarin mit verschiedenen, scheinbar Schwerhörigen schleppten sich dahin – bis zu Monas Entlassung. Die Studentin hatte die nörgelnde Matrone inbrünstig und von Herzen unzählige Male zum Teufel gewünscht, aber der wollte sie wohl auch nicht.

*

Der Kaffee mit aufgeschäumter Milchkrone und tatsächlich sechs Päckchen Zucker wurde prompt geliefert.

»Lecker!« Ihre Freundin erzählte vom viertägigen Besuch ihrer Schwiegermutter Ingrid, mit der sie sich, entgegen jeglicher Volksmundunkerei, gut verstand, obwohl Holger ihr einziger Sohn war. Natürlich erwartete diese immer viel Aufmerksamkeit und Unterhaltung, was für Simone dann doch zu gewissem Stress ausartete, neben ihrem Job und dem Putzmarathon vorher. Und nicht zu vergessen, die immer wiederkehrende, nervige Frage nach einem Enkelkind. Seltsamerweise glänzte Holger in dieser Zeit für die Dauer ihres Besuchs durch Abwesenheit, angeblich stets arbeitstechnisch bedingt. Auf Schwiegermamas Wunsch und ihrer gönnerhaften Einladung waren sie am letzten Mittwoch gepflegt verköstigt worden. Im Edellokal mit pompösem Ambiente und vielen Blumen, Kerzen und Kristalllüstern, welches Ingrid mit Gatte Hans-Hermann vor vielen Jahren entdeckt hatte. Das Essen war überaus schmackhaft, obwohl die salzigen Austern, die sie als ‚hors d’oeuvre’ orderte, ihr einen kurzfristigen Schüttelfrost bescherten, der aber durch den Aperitif, ein 0.1l Gläschen Winzersekt mit Pfirsichlikör im edlen Glas zu sechs Euro, schnell ausgesöhnt wurde. Weshalb sie sich auch ungeniert drei davon zu Gemüte führte.

»Ein rundherum gelungener Abend, nicht eben preiswert, aber das war er absolut wert«, hatte Ingrid abschließend auf dem Heimweg befriedigt resümiert. Dass ihre Schwiegereltern keinesfalls am Hungertuch nagten mit der Pension eines emeritierten Inhabers einer C-Professur, hatte Simone Mona bereits in der Klinik anvertraut. Ingrid verlegte ihre Abreise überraschend auf diesen Samstagmorgen, packte flink ihr Louis Vuitton-Köfferchen und fuhr nach Hause, die neueste, lindgrüne Creation aus der Hutboutique auf den grau melierten Kurzlocken. Für den Johannisfest-Trubel fehlten ihr angeblich doch die Nerven. Ursprünglich war ihr Abschied auf kommenden Dienstag datiert, weswegen Simone und Holger schweren Herzens auf das blitzschnell ausverkaufte, heutige Konzert von Meat Loaf verzichtet hatten.

*

»Zum Glück, sonst wäre dieses Treffen heute ins Wasser gefallen.« Simone lachte erleichtert.

»Und was gibt’s bei dir Neues, noch kein neuer Lover in Sicht?«

 

»DU hast ja gut spotten! Du mit deinem Alphamann.« Simone war seit einem halben Jahr mit Holger verheiratet und quasi noch in den Flitterwochen, wie ihr Gatte beharrlich und scherzhaft anmerkte. Zwei Jahre zuvor hatte es bei ihnen mächtig gefunkt auf dem Wochenmarkt. Beide wählten unabhängig voneinander, jedoch nebeneinander vor dem gleichen Marktstand platziert, je drei grüne Gartengurken, welche die Verkäuferin eifrig zusammen in eine Plastiktüte packen wollte. Auf Simones,

»Bitte in Extratüten!«, schüttelte die Frau den Kopf, verpackte das Gemüse in einzelne Tüten, zog aber den Betrag für sechs Gurken bei Holger ab. Nach gemeinsamem Lachen auf den verständnislosen Blick der Marktfrau lud Holger Simone zum Kaffee auf den Domplatz ein und zwei Stunden später, zum gemeinsamen Besuch aufs Rebblütenfest in Laubenheim am Abend. Quasi fast über Nacht wurden sie seitdem ein Paar und unzertrennlich bis heute. Mona erzählte von ihrem Job auf dem Lerchenberg und der Arroganz mancher Redakteure, die Studenten manchmal scheinbar mit besseren Dienstboten verwechselten. »Gibt es da keine knackigen Jungs bei den vielen Männern, die dort um dich herum arbeiten?«

»Schon. Aber entweder sind sie liiert, schwul oder ständig belagert von blutjungen, goldblondschöpfigen Assistent- oder Praktikant/innen. Diese Girlies löchern die aufgeblasenen Typen mit belanglosen Fragen, schmieren ihnen klebrigen Honig ums Maul und vermitteln ihnen ständig, wie toll sie sind, während sie ihnen mit bauchfreien T-Shirts und knappen Miniröcken fast ins Gesicht kriechen. Seufz! Doch wie sollen die geschmeichelten Herren der Schöpfung, da auch widerstehen können?«

Nach kurzer Atempause räumte Mona schnell noch ein,

»Na ja, natürlich nicht alle.«

»Du brauchst dich doch nicht zu verstecken mit deiner roten Mähne und der Figur. Sicher erntest du viel Positivresonanz, wo du auch auftauchst, oder?«

»Schon … aber die ZDFler wissen auch, dass ich mit Micha fast drei Jahre liiert war und so viel Zeit ist noch nicht vergangen seit unserer Trennung.«

»Apropos, ich hab was für dich, direkt aus Frankfurt importiert, wohin Ingrid mich zum Einkaufsbummel gezwungen hat.« Simone kramte ein schmales, rechteckiges Päckchen in buntem Geschenkpapier aus dem Rucksack und legte es vor ihr auf die Tischplatte. Gespannt riss Mona es auf. Zum Vorschein kam ein orangefarbener Karton mit der kleinen Aufschrift: »prince charming putty« und darüber in groß – Traumprinzenknete.

»Ich dachte an dich und konnte nicht widerstehen«, meinte Simone fast entschuldigend, als Mona das Mitbringsel nicht gleich kommentierte.

»Danke, du Liebe. Aber super, so was kenne ich gar nicht.« Die Freundin lachte erleichtert: »Lies doch mal die Rückseite.«

›Wünsche gehen in Erfüllung, wenn man fest an sie glaubt! Knete dir deinen Traumprinzen; hier drin findest du eine Anleitung und alles, was du brauchst, um deine Wünsche wahr werden zu lassen!‹

»Da muss ich doch gleich mal nachsehen.«

Nach vorsichtigem Öffnen kam eine etwa zehn Zentimeter lange, dünne Stange von grünem Knet zum Vorschein.

»Das reicht ja nicht mal, um ein bestes Stück nachzubauen«, bemerkte Mona grinsend.

»Dann musst du dir eben noch einige Hundert Päckchen davon besorgen und bald mit modellieren beginnen, damit das noch was wird in diesem Sommer.«

»Genauso!«

»Hab im Frankfurter Fritz-Heft auch mal die, ›Er, sucht Sie&Sie sucht Ihn‹-Rubriken für dich gecheckt.«

»Und?«

»Wie wäre es mit »Heißblütige, kaltschnäuzige, naturrothaarige Hexe als Flugbegleiterin zum Blocksberg oder sonst wohin gesucht! Könnte doch passen, oder?«

»Vielleicht hat diese Bibi noch einen Termin frei. Wesentlich spannender ist es, zufällig auf jemanden zu treffen, natürlich beidseitig hin&weg und dazu noch frei zu sein. Wie im Film immer. Die Liebe auf den ersten Blick mit dem oft zitierten Märchenprinz eben! Dann muss es nur noch klappen mit dem zermürbenden Alltagsgrau. Da, wo die Filme meistens enden. Ist doch kinderleicht, ha, ha!«

»Aha, Galgenhumor, Mona? Dazu bist DU doch noch viel zu jung. Viele sind beruflich so engagiert, dass sie die Zeit für dieses hollywoodreife Finden einfach nicht haben, schau dir mal die Datingseiten im Web an. Ein Versuch wäre es doch wert.«

»Notstand hab ich noch nicht. Ich lass mir Zeit, auch wenn es Jahre dauert. So etwas Lauwarmes, nein danke, da bleibe ich lieber Single. Wenn, dann möchte ich mich wieder so richtig verlieben! Das volle Programm mit den tanzenden Schmetterlingen im Bauch, Wochenenden und endlose Nächte voller Lust und Leidenschaft, Traumschlösser in den Wolken oder Frühstück bei Tiffanys und vielleicht auch irgendwann… Liebe? Ist das etwa zu viel verlangt?«

»Nö, ach was. Verlieben ist toll, alles ist so neu und interessant und jeder Joke ist witzig. Und manchmal geht es wirklich rasend schnell, Amor zielt einmal haarscharf und der Pfeil – landet mitten im Herz. Glaube einer wunschlos glücklichen Ehefrau.«

»Vielleicht verirrt sich ja eine Sternschnuppe, die Wünsche erfüllen kann, direkt zu mir!«

»Du Kindskopf! Apropos, ‘ne witzige Anzeige von einer älteren Frau hab ich entdeckt, darauf meldet sich bestimmt einer.«

»Echt? Lass mal hören.«

Simone blätterte zur markierten Seite und las vor: Verrückte, mollige Hexe (50) will zum letzten Mal, dem Zauber der Liebe erliegen. Lass uns gemeinsam den Kessel zum Kochen bringen, für den Rest unseres Daseins. Mickrige, knauserige und verknöcherte Möchtegernzauberer werden auf der Stelle in Kakerlaken verwandelt, zauberhafte Zuschriften mit Konterfei garantiert beantwortet!

»Klasse, oder? Als Singlemann im passenden Alter würde ich sofort antworten.«

»Doch wirklich, sehr originell! Sogar lästige Zeitgenossen geschickt im Text ausgebremst.« Mona berichtete von der Uni, wo kurz vor den Semesterferien nicht mehr viel lief; von Troll, der wieder bei ihr einquartiert war; vom Abend vorher beim feuchtfröhlichen Absturz mit Kommilitonen in die Eröffnung des Johannisfestes und vom Parkfrust frühmorgens. Diesen konnte Simone nachvollziehen aus eigener Erfahrung und selbst ihr Gatte beim BKA blieb von emsigen Politessen nicht verschont. Er musste seine zugegeben wenigen Strafzettel ebenfalls begleichen, trotz der Mitgliedschaft beim verwandten Verein.

»Vermutlich eine besondere Spezies von Weibern, die diesen Job gerne ausüben. Der überwiegende Teil sind sicher im Schnellverfahren geschulte Hausfrauen, die sich dort aufplustern können wie Kampfhennen. Nichts gegen Hausfrauen, aber von mir aus könnten diese Damen die Knöllchen verteilen, wo der Pfeffer wächst.«

*

Die Freundinnen balancierten sich relativ zügig entlang der Kaufhausfassaden und durch die wabernde Menschenmenge zum Platz der Vereine, neben Liebfrauenplatz und Gutenbergmuseum gelegen, wo die angestrebte Zeremonie des Buchdruckergautschens schon in vollem Gange war. Mona wusste zwar, dass dieser mittelalterliche Brauch nach dem Ende der Lehrzeit von Buchdruckern- und Setzern, kurz vor Aufnahme in die Handwerkerzunft, angewandt wurde.

Doch live hatte sie diese Touristen- und Einheimischen-Attraktion noch nie gesehen. Obwohl die traditionelle Taufe jedes Jahr beim Johannisfest, mit den Printnachfahren vorgeführt wurde, als Hommage an Johannes Gensfleisch zu Gutenberg, den berühmtesten Sohn der Stadt Mainz. Ursprünglich bedeutete es wohl das symbolische Abwaschen von Sünden dieser Zeit und von Bleibuchstabenstaub.