Von kommenden Dingen

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Und doch seltsam! Gehört er nicht zu den wenigen, die man gebildet und vermögend nennt, so sitzt er nach wenigen Tagen in den Räumen eines

 andern Arbeitgebers, bei der gleichen achtstündigen Arbeit, unter der gleichen Aufsicht, mit gleichem Lohn und mit gleichen Genüssen, mit gleicher Freiheit und mit gleichen Rechten. Niemand zwingt ihn, niemand tritt ihm in den Weg, und dennoch verläuft sein frühalterndes Leben ohne Muße und ohne Sammlung. Die mechanische Welt tritt ihm entgegen als ein verworrenes Rätsel, das eine Parteizeitung einfarbig beleuchtet; die höhere Welt erscheint im Ausschnitt einer billigen Predigt und eines populären Abrisses; der Mensch erscheint als Feind, wenn er dem fremden, als wortkarger Genosse, wenn er dem eigenen Kreise angehört, der Arbeitgeber als Ausbeuter, der Arbeitsraum als Knochenmühle.



Die Bürgerrechte bestehen, vor allem das Wahlrecht in beiderlei Form. Doch wiederum seltsam! Im behördlichen Leben bleibt der Mensch stets Objekt; Subjekt sind die andern, gleichviel ob sie als militärische Vorgesetzte ihn duzen, als Richter aburteilen, als Polizei und Beamte ihn behandeln, ausfragen, verwalten. Er mag sich verbünden und organisieren, versammeln und demonstrieren, er bleibt der Regierte und Gehorchende, auf den goldnen Stühlen sitzen die gleichen, die in breiten Straßen unter Bäumen wohnen, in Wagen fahren und sich grüßen; sie tragen die Verantwortungen, die Würden und die Macht.



Doch das bürgerliche Leben ist frei. Hier herrscht der Wettbewerb, der Starke und Kluge mag wagen und gewinnen, hier beschränken ihn nur notdürftige Gesetze und Regeln; dieser Kampfplatz steht allen offen. Und abermals: der Eintritt gelingt nicht. Der Kreis ist heimlich geschlossen, sein Bundes-

 merkmal ist Geld. Wer hat, dem wird gegeben; was einer besitzt, das vermehrt sich, doch zunächst muß er besitzen. Er besitzt, was seinen Vorfahren gehörte, was sie ihm als Erziehung und Kapital hinterließen. In reichen, unerschlossenen Ländern mag es gelingen, daß der ersparte Pfennig sich mehrt; je älter und unergiebiger das Land, desto teurer der Einkauf in den werbenden Stand.



So erheben sich gläserne Mauern von allen Seiten, durchsichtig und unübersteiglich, und jenseits liegt Freiheit, Selbstbestimmung, Wohlstand und Macht. Die Schlüssel des verbotenen Landes aber heißen Bildung und Vermögen, und beide sind erblich.



Deshalb schwindet die letzte Hoffnung des Ausgeschlossenen: seinen Kindern möchte beschieden sein, was ihm selbst versagt war; er scheidet aus der Welt mit der Erkenntnis, daß seine Arbeit nicht ihm, nicht seinen Nachkommen, sondern andern und ihren Nachkommen diente, daß auch ihr Schicksal erblich, vorbestimmt und unentrinnbar sei.



Was bedeutet das? Das bedeutet nicht die alte Knechtschaft, die persönlich war, und indem sie die Schicksale zweier Menschen oder zweier Familien, widernatürlich zwar, doch unter einem Dach verband, die letzte menschliche Gemeinschaft und Anteilnahme aufrechthielt. Dieses Verhältnis bedeutet unter dem Scheine der Freiheit und Selbstbestimmung eine anonyme Hörigkeit, nicht von Mensch zu Mensch, sondern von Volk zu Volk, unter beliebigem Austausch der Beziehung, jedoch unter dem unverbrüchlichen Gesetz der einseitigen Herrschaft. Dieses erbliche Diensttum besteht in allen Ländern des alten Zivilisationskreises, es besteht unter Bevölkerungsklassen gleichen Stammes,

 gleicher Sprache, gleichen Glaubens und gleicher Sitte und nennt sich Proletariat.



Mit der Forderung der seelischen Freiheit und des seelischen Aufstiegs vertragt es sich nicht, daß die eine Hälfte der Menschheit die andre, von der Gottheit mit gleichem Antlitz und gleichen Gaben ausgestattete, zum ewigen Dienstgebrauch sich zähme. Man wende nicht ein, daß beide Hälften nicht sich, sondern der Gemeinschaft leben und schaffen; denn die obere Hälfte wirkt unter freier Selbstbestimmung und unmittelbar, die untere wirkt, indem sie ohne Blick auf ein sichtbares Ziel mittelbar und im Zwange der oberen dient. Niemals sieht man einen Zugehörigen der oberen Schicht freiwillig niedersteigen; der Aufstieg der unteren aber wird durch Vorenthalt der Bildung und des Vermögens so vollkommen verhindert, daß nur wenige Freie in ihrem Kreise einen Menschen erblicken, der selbst oder dessen Vater den untersten Ständen angehört hat.



Trägheit und Vorteil sind starke Kräfte, wenn sie dahin wirken, sich mit dem Gegebenen abzufinden. Die Abschaffung der Sklaverei in Amerika, der Leibeigenschaft in Rußland hat leidenschaftliche Teilnahme erfahren, vor allem bei den Nichtgeschädigten; die Besitzer menschlicher Haustiere verteidigten ihre Einrichtung mit gleichen Gründen, wie heute Geistliche, Staatsmänner und Kapitalisten sie für die Notwendigkeit der Unfreiheit anführen: gottgewollte Abhängigkeit, Dienst, gleich viel an welcher Stelle, Demut und Selbstbescheidung; und auch hier gelten die Argumente stets für die andern.



Daß die im Rechte und Besitz Beharrenden ihre

 hartherzige Meinung im besten Glauben vertreten, weil ihnen das Bestehende so absolut gültig, so festgefügt, unabänderlich und unersetzlich scheint daß nur der allgemeine Zusammenbruch an seine Stelle treten könnte, diese urteilslose Einseitigkeit und unfreiwillige Verhärtung hat nichts so sehr verschuldet wie der Kampf und Kampfplan der sozialistischen Bewegung.



Diese Strebung trägt den Fluch ihres Vaters, der nicht ein Prophet war, sondern ein Gelehrter, der sein Vertrauen setzte nicht in das menschliche Herz, dem alles wahrhafte Weltgeschehen entspringt, sondern in die Wissenschaft. Dieser gewaltige und unglückliche Mensch irrte so weit, daß er der Wissenschaft die Fähigkeit zuschrieb, Werte zu bestimmen und Ziele zu setzen; er verachtete die Mächte der transzendenten Weltanschauung, der Begeisterung und der ewigen Gerechtigkeit.



Deshalb hat der Sozialismus niemals die Kraft gewonnen, zu bauen; selbst wenn er unbewußt und ungewollt in seinen Gegnern diese produktive Kraft entzündete, verstand er die Pläne nicht und wies sie zurück. Nie hat er auf ein leuchtendes Ziel zu weisen vermocht; seine leidenschaftlichsten Reden blieben Beschwerden und Anklagen, sein Wirken war Agitation und Polizei. An die Stelle der Weltanschauung setzte er eine Güterfrage, und selbst dies ganze traurige Mein und Dein des Kapitalproblems sollte mit geschäftlichen Mitteln der Wirtschafts- und Staatskunst gelöst werden. Mag hie und da ein unbefriedigter Denker Auswege ins Ethische, Reinmenschliche, Absolute gesucht und angedeutet haben: diese Gewalten wurden niemals als die Sonnenzentren der Bewegung verehrt, son-

 dern allenfalls als matte Seitenlichter ästhetisch geduldet; im Mittelpunkt der Bühne saß der entgötterte Materialismus, und seine Macht war nicht Liebe, sondern Disziplin, seine Verkündung nicht Ideal, sondern Nützlichkeit.



Aus der Verneinung entsteht Partei, nicht Weltbewegung. Der Weltbewegung aber schreitet Prophetensinn und Prophetenwort voran, nicht Programmatik. Das Prophetenwort ist ein einiges, ideales Wort; mag es Gott, Glaube Vaterland, Freiheit, Menschentum, Seele heißen: Besitz und Besitzverteilung sind ihm schattenhafte Nebendinge; selbst Leben und Tod, Menschenglück, Elend, Not, Krankheit und Krieg sind ihm nicht letzte Ziele und Gefahren.



Niemals hat Sozialismus die Herzen der Menschheit entflammt, und keine große und glückliche Tat ist jemals in seinem Namen geschehen; er hat Interesse erweckt und Furcht geschaffen; aber Interessen und Furcht beherrschen den Tag, nicht die Epoche. Im Fanatismus einer düsteren Wissenschaftlichkeit, im furchtbaren Fanatismus des Verstandes, hat er sich abgeschlossen, zur Partei geballt, im unfaßbaren Irrtum, daß irgendeine einseitig losgelöste Kraft endgültig wirken könne. Doch der Dampfhammer vernichtet nicht den Eisenblock, sondern verdichtet ihn; wer die Welt umgestalten will, darf sie nicht von außen pressen, er muß sie von innen fassen. Erschließbar ist sie durch das Wort, das in jedem Herzen, wenn auch noch so schüchtern, widerklingt und es wandeln hilft; das blinde Pochen einer Partei von Interessenten täubt und verschließt die Ohren.



Nimmt man alles in allem, in größten Zügen,

 die rein politische Wirkung der sozialistischen Bewegung im Laufe dreier Geschlechter: so besteht abgesehen von geschäftlich-organisatorischen Wirksamkeiten die Summe ihres Waltens in der mächtigsten Steigerung des reaktionären Geistes, in der Zertrümmerung des liberalen Gedankens und in der Entwertung des Freiheitsgefühls. Indem der Sozialismus die Aufgabe der Völkerbefreiung zu einer Frage um Geld und Gut machte und unter diesem Banner die Massen gewann, wurde die Idee gebrochen; aus Unabhängigkeitsdrang wurde Begehrlichkeit; mancher innerlich Gebildete wandte sich ab, das Bürgertum erzitterte, die besitzende Reaktion sah sich durch Zulauf und bequeme Maßregeln doppelt gestärkt und lächelte über den armen Teufel der Masse, der Böses wollte, Gutes schuf, der Thron und Altar festigte, indem er Republik und Kommunismus anpries. Innerlich Interessentenvereinigung, äußerlich Beamtenhierarchie, verfiel der Sozialismus, der Weltbewegung werden sollte, dem Abstieg zur Partei, dem Wahn der Zahl, der populären Einheitsformel; im Gegensatz zu jeder echten Epoche verlor er an Wirksamkeit, je stärker er wuchs.



Aus der Trägheit des Gewissens, die der Widerstand gegen traurige Nützlichkeitsparadiese, gegen Schalter- und Markenideale, gegen nüchterne Schausprüche und invektive Drohungen im Herzen Europas hinterlassen hat, aus dieser Trägheit müssen wir uns losreißen. Empfinden wir den Stachel der Würdelosigkeit, den die Knechtschaft verwandten, geliebten und göttlichen Blutes uns einprägt, so werden wir ohne Scheu eine Wegstrecke neben der Bahn des Sozialismus wandern und dennoch seine

 Ziele ablehnen. Wollen wir in der innern Welt das Wachstum der Seele, so wollen wir in der sichtbaren Welt die Erlösung aus erblicher Knechtschaft. Wollen wir die Befreiung der Unfreien, so bedeutet dies nicht, daß wir irgendeine Güterverteilung an sich für wesentlich, irgendeine Abstufung der Genußrechte für wünschenswert, irgendeine Nützlichkeitsformel für entscheidend halten. Es handelt sich weder darum, die Ungleichheiten des menschlichen Schicksals und Anspruchs auszugleichen, noch alle Menschen unabhängig oder wohlhabend oder gleichberechtigt oder glücklich zu machen; es handelt sich darum, an die Stelle einer blinden und unüberwindlichen Institution die Selbstbestimmung und die Selbstverantwortung zu setzen, dem Menschen die Freiheit nicht aufzuzwingen, sondern ihm den Weg zur Freiheit zu öffnen. Welche menschlichen und sittlichen Opfer dies fordert, ist gleichgültig, denn es wird nicht Nützlichkeit und Vorteil erstrebt, sondern göttliches Gesetz. Würde durch dieses Gesetz die Summe des äußern Glücks auf Erden vermindert, so verschlüge es nichts. Würde der Weg der äußern Zivilisation und Kultur verlangsamt, so wäre das nebensächlich. Wir werden ohne Leidenschaft erwägen, ob diese Nachteile eintreten; wenn es nicht geschieht, so ist das keine Anpreisung oder Ermunterung für unsern Gang. Denn der bedarf keiner Überredung und keiner Versprechung; im Sichtbaren will ihn die Würde und Gerechtigkeit unsres Daseins und die Liebe zum Menschen, im Jenseitigen will ihn das Gesetz der Seele.

 



Wenn von nun an diese Schrift sich eine Zeitlang mit den Dingen des Tages befaßt und dennoch nicht den tastenden, beweisenden und überredenden Schritt beibehält, den der Praktiker gewohnt ist und sachlich nennt, so sei diese Unterscheidung bemerkt: Wir haben tausendfach Schriften, die das letzte Zehntel einer verbreiteten Überzeugung sicherstellen und unwiderleglich machen, bis die nächste Überzeugung kommt und die alte vernichtet, und wir haben solche, die aus gegebenen Voraussetzungen die brauchbarsten Folgen ziehen. Leider fehlt beiden bei aller mathematischen Sicherheit der Methode die Sicherheit des Zieles, die niemals mathematisch sein kann, sondern stets intuitiv ist. Hier wird keine Sicherheit beansprucht, sondern Empfindung und Wertung denkend erörtert; denn diese Schrift ist nicht praktisch erwägend, sondern zielsetzend. Entspricht dies Ziel im kleinsten dem Empfindungswege des objektiven Geistes, so wird das Maßwerk der Wirklichkeiten ohne unser Zutun zu den Bögen des Gedankens emporwachsen.



Das Ziel aber, zu dem wir streben, heißt menschliche Freiheit.



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Der

 Weg



Der Weg







I. DER WEG DER WIRTSCHAFT



Die geschichtliche Betrachtungsweise hat ein Jahrhundert lang unserm Denken gedient; jetzt artet sie aus und wird schädlich, zumal wenn sie auf Einrichtungen angewandt wird.



Schöpfungen der Natur wandeln sich, indem sie ihren Sinn und Zweck behalten oder nur sehr langsam ändern; Einrichtungen bleiben im Namen und wesentlichen Attributen sich selbst gleich und vertauschen ihren Inhalt, ja selbst ihren Daseinsgrund; in der veralteten Schale schlägt ein neues Geschöpf seine Wohnung auf. Diese Erscheinung möge der Kürze halber die Substitution des Grundes genannt werden.



Sie rührt daher, daß die Zahl der Einrichtungsformen begrenzt ist, daß die Trägheit und Ökonomik des Geistes sich gern vorhandener Formeln bedient und daß die Stetigkeit des zeitlichen Fortschreitens den Augenblick schwer erkennen läßt, in welchem die Wahl eines neuen Begriffs und Namens, das Abstreifen abgestorbener Organismen und das Einsetzen neuer Betrachtungsweisen am Platze wäre.



Anziehend und anregend bleibt die geschichtliche Betrachtung in jedem Falle, sie kann manche Benennung, manche Zutat erklären, Spielarten dar-

 tun, funktionelle Bewegungen und Wandelbarkeiten ins Licht setzen; doch führt sie zum gefährlichen Irrtum, wenn sie sich unterfängt, den gegenwärtigen, lebenden und wirkenden Organismus auszudeuten oder fortzubilden. Es mag interessant sein daß das Pontifikat in irgendeiner Weise vom Brückenbau ausgeht; aber es wäre bedenklich, grundsätzliche Schlüsse vom Ingenieurwesen auf kirchliche Einrichtungen zu ziehen; es ist lehrreich, eine Entwicklungsreihe von den attischen Dionysien bis zur französischen Unterhaltungskomödie zu leiten, doch wäre es keinem Vergnügungsindustriellen zu raten, bei der Beurteilung seiner Zugstücke archäologischen Erwägungen nachzugehen. Man verspottet die Meinung der französischen Aufklärung vom Staat als einem Gegenseitigkeitsvertrage und hält ihr prähistorische Ableitungen entgegen; und doch liegt im Wesen eines auf Kräftegleichgewicht beruhenden Organismus mehr von vertragsähnlicher Wechselbeziehung als von totemistischen oder patriarchalischen Funktionen; vor allem gehen die Umwandlungsbewegungen in sehr ähnlichen Formen vor sich wie Umgestaltungen vertraglicher Verhältnisse. Nirgends ist so fühlbar die Substitution des Grundes am Werke gewesen wie beim Wesen des Staates; daher die Unfruchtbarkeit der Bemühung, eine geschichtlich umfassende Definition dieses Organismus zu finden, der bei scheinbarer Stetigkeit sich in jedem Menschenalter unter bleibendem Namen neu erzeugt und nur unter der metaphysischen Form, als Willensseite des kollektiven Geistes, kontinuierlich angeschaut werden kann; eine Anschauung, die zeitlos und ohne fortgestaltende Anwendung bleibt.



 Aus falscher Anwendung geschichtlicher Betrachtung folgt falsche Einschätzung des „geschichtlich Gewordenen" als eines absoluten Wertes: der Tradition als einer positiven Kraft. Der Wert des geschichtlich Gewordenen liegt darin, daß es ein geschichtlich Vergängliches und Vergehendes ist; es entstand als revolutionäre Neuerung, es vergeht als überholte Veraltung, und es hält sich, solange es einigermaßen brauchbar und erträglich ist. Der Wert der Tradition liegt in der Verlangsamung der Bewegung, die hierdurch an Stetigkeit gewinnt; der weniger emphatische Name des Trägheitsmomentes verdeutlicht diese Kraft, die durchaus eine negative ist, und die bei hoher praktischer Bedeutung niemals den Wert einer erkenntnismäßigen Widerlegung haben darf. Sie besaß diesen Wert vormals gegenüber religiöser und philosophischer Überzeugung, sie beansprucht ihn noch heute gegenüber sozialer und politischer Erkenntnis. Muß dieser theoretische Wert verneint werden, so dürfen wir neben dem praktischen Wert der Verzögerung den ästhetischen Wert anerkennen, der sich in Formeln, Trachten, Zeremonien und Feiern ausdrückt, Stolz, Farbe und Haltung dem Alltag spendend, der mit gerechtem Selbstbewußtsein sich gern an eine ehrenvolle Herkunft erinnert. Doch muß die ästhetische Seite der Tradition bleiben, was sie lebenskräftigen Nationen ist: Schaustück, nicht Wesen. Es ist festlich anmutend, wenn der König von Preußen zuzeiten als Kurfürst von Brandenburg auftritt; es wäre nicht ersprießlich, wenn hieraus ein politisches Vorrecht der heutigen Provinz Brandenburg gegenüber Schlesien oder dem Rheinlande gefolgert würde.



 Diese Vorbemerkung war im Dienst der Arbeitsmethode und zur Erläuterung der Substitution des Grundes vorauszuschicken.





Die alte Schichtung des Feudalismus rechtfertigte sich praktisch durch die Bereitschaft der Waffen, durch menschliche Überlegenheit durch Organisation und Okkupationsbesitz der Landeseroberer; sie rechtfertigte sich teleologisch durch Verwaltung und Verteidigungsschutz, beruhend auf erblichen Eigenschaften. Diese Erblichkeit lag in der Erziehung zum Waffenhandwerk und zur kriegerischen Gesinnung, in der Züchtung geeigneter Körperlichkeit und Geistigkeit, in der Heranziehung religiöser Weihe, im Ausschluß der Blutmischung und in der zwangsweisen Herabdrückung und Verfriedlichung der Unterworfenen.



Die siedlerische Ausfüllung der Länder, die zunehmende Intensität der Wirtschaft hinderte die Oberschicht, sich fortschreitend mit der Unterschicht auszudehnen. Jüngere Söhne konnten nicht genügend ausgestattet werden und verfielen der Kirche oder der Auswanderung, Besitztümer zerbröckelten und verschmolzen, kirchliche und Territorialherrschaften wuchsen empor, städtisches Bürgertum drängte sich ein, und die beharrende Oberschicht blieb nicht länger imstande, die quellende Unterschicht zu decken. Im höchsten Augenblick, als auch der Waffendienst auf die Unterschicht erstreckt werden mußte, brach das letzte Recht der feudalen Organisation zusammen.



Schon hatte die neue erbliche Schichtung den Volkskörper durchspalten, die Schichtung des Besitzes.



 Von landesherrlichem und kirchlichem Besitz, von Kolonien, Monopolen, Bergrechten und Wuchergeschäften hergeleitet, waren Kapitalmengen herangewachsen; die Mechanisierung der Gewerbe, der Technik, des Verkehrs, des Denkens und Forschens hatte das Leben ergriffen, die Weltbewegung orientierte sich in der Richtung des Kapitalgefälles. Die Erblichkeit der Kapitalmacht war überkommen aus der Erblichkeit des Standes, des Bodens und der beweglichen Güter; ihre Berechtigung wurde nicht angezweifelt und somit nicht begründet.



Eine gewisse innere Rechtfertigung hätte sich zur Not anfänglich geboten: das Kapital trat überwiegend auf in der Form des Unternehmens. Das Unternehmen aber überlebt Geschlechter und verlangt daher eine ununterbrochene Reihe vorbereiteter Leiter und Herren, wie die Erbfolge sie bot und wie sie aus der Landwirtschaft geläufig war. Insbesondere war die allgemeine Schulung und Erziehung unzulänglich; das Haus des Besitzers konnte an geistiger und erfahrungsmäßiger Erziehung mehr leisten als die Allgemeinheit; und somit verblieb ein gemehrter Schutz für die Zusammenhaltung der Mittel, die nur in ihrer Ansammlung wirken konnten.



Drei Umstände hätten die erbliche kapitalistische Schichtung erschüttern müssen: Die Volksschule, wenn sie den Erziehungsvorsprung vernichtete, die Einrichtung der Kapitalassoziation, indem sie das Unternehmen unpersönlich stellte und von der Notwendigkeit erblicher Leitung befreite, die politisch-militärische Emanzipation, indem sie Verwaltungserfahrungen verbreitete und den Sehkreis erweiterte.



 Daß diese Umstände nicht zur Wirkung kamen, liegt am rasch gewaltsamen Aufstieg der Kapitalmacht, die durch Anknüpfung an die noch vorhandenen Territorial- und Feudalmächte, durch Verzweigung der Beziehungen und Interessen durch Erziehung und Lebensweise, durch publizistischen Einfluß und politische Unentbehrlichkeit zur Klasse zusammenschmolz und geschlossen ihr Recht verteidigte, das sie nicht durch Vernunft, sondern durch Gegeninteressen angetastet glaubte.



Durch die neue Schichtung wurden die Reste der alten nicht zerstört, sondern verstärkt, und zwar so: Die Schicht des Besitzes konnte, da sie nicht von außen kam, sondern von unten aufstieg, keine eigenen Lebensformen schaffen; sie mußte sie von ihren Vorgängern entlehnen, ward Schuldnerin und somit unterlegen. Zum zweiten blieben die Dynastien der Feudalschicht zugetan, die ihnen länger vertraut war, Regierungs- und Kriegserfahrung besaß, bodenständig und unveränderlich blieb, bereitwillig die Bedingungen ihres materiellen Daseins der Krone anheimstellte und somit im Sinne der unmittelbaren monarchischen Ansprüche zuverlässiger erschien. Zum dritten schlossen die beiderseitigen herrschenden Schichten Zugehörigkeit nicht aus; reicher Adel besaß doppelten Vorteil und machte ihn mit Vorbedacht mehr zugunsten der Kaste als der Klasse geltend.



So schillert die europäische Gesellschaft in der seltsamen Doppelbrechung zweier Achsen; die noch immer wesentliche feudale Schichtung durchsetzt sich mit der auffälligeren kapitalistischen, beide bleiben erblich und stimmen darin überein, daß sie einen leidenden Gegenzustand schaffen, der auf der kapitalistischen Seite zum unentrinnbaren Massenschicksal geworden ist.



Haben wir dieses Schicksal in seiner starren Vorbestimmung als unvereinbar mit der Forderung seelischen Lebens erkannt, so wird nun deutlich, daß eine künftige Ordnung, mag sie immerhin in sich abgestuft, geschichtet, differenziert sein, die Eigenschaft der erblichen Beständigkeit nicht mehr haben kann.



Wie auch immer ihr richtendes Grundgesetz gestaltet sein mag, auf Zwang und Gewalt wird es nicht beruhen können; es wird den Ausgleich des Gesamtwillens und des Einzelwillens in sich tragen, jedoch auf sittlicher Grundlage, es wird der Selbstbestimmung, der Verantwortung und der seelischen Entfaltung Raum lassen.



So erscheint uns die Forderung der Wiedergeburt nicht mehr allein unter dem Anblick der Befreiung eines Standes, sondern schlechthin in der Fassung der Versittlichung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnung unter dem Gesetz persönlicher Verantwortung.

 



Den Weg der Entwicklung finden wir, indem wir von der Verneinung des Unrechts uns leiten lassen: Die Entfremdung der Stände, beruhend auf Überspannung wirtschaftlicher Gegensätze, die Macht des zufälligen oder unsittlichen Erfolges, der Alleinbesitz der Bildung schaffen die unterdrückenden Mächte, die Erblichkeit verewigt sie. Unser Weg ist der rechte, wenn er zur Vernichtung der feindlichen Kräfte und dennoch zur Erhaltung menschlicher Ordnung, kultureller Gestaltung und seelischer Freiheit führt.



 Die naivste Form des Heilungsdranges ist die Forderung der unmittelbaren Stillung. Der Baum verlangt unmittelbar Licht, Raum, Luft, Wasser, Erde; er nimmt, was er braucht, der Nachbar verkümmert, das Erdreich versauert, der Wald kämpft gegen Moor und Heide, solange es geht, dann stirbt er, und mit ihm der glücklichste Baum.



Forstmann und Erzieher, Arzt und Staatsmann haben längst den Weg der unmittelbaren Stillung verlassen. Der Arzt wird erkaltende Glieder nicht durch warme Umhüllung, der Staatsmann wird trunksüchtigen Durst nicht durch vermehrte Brauereien zu heilen suchen; ein jeder überblickt das Lebensgebiet des zu schützenden Organismus, beginnt nicht beim Symptom, sondern beim Krankheitskern, ermißt die Gesamtheit der Lebenskräfte und verteilt sie nach bedachtem Plan auf alle Organe, fördernd und hemmend, stärkend und schwächend.



Der Sozialismus, die Lehre, die ihre Wissenschaftlichkeit über alles stellt und sie dennoch beständig verleugnen muß, um populär zu bleiben, ist über den Weg der unmittelbaren Stillung nie hinausgekommen.



Ihr ergibt sich die volkstümliche Schlußkette: Was ist das Ziel? — Erhöhter Arbeitslohn. — Was schmälert den Lohn? — Die Kapitalrente. — Wie erhöht man den Lohn? — Indem man die Rente unterdrückt. — Wie unterdrückt man sie?



Nun wäre es folgerichtig, zu antworten: Indem man das Kapital aufteilt. Es ist jedoch wissenschaftlicher zu sagen: Indem man das Kapital verstaatlicht.



Die eine Antwort ist so falsch wie die andre. Beide verkennen das Gesetz des Kapitals in seiner gegenwärtig entscheidenden Hauptfunktion: nämlich als desjenigen Organismus, der den Weltstrom der Arbeit nach den Stellen des dringendsten Bedarfs lenkt.



Erinnern wir uns hier des Satzes von der Substitution des Grundes: Es ist nicht entscheidend, aus welchen Ursachen und Bedürfnissen ein Organismus geschaffen wurde; entscheidend ist, welchen Notwendigkeiten er in Wirklichkeit und Gegenwart dient.



Angenommen die soziale Revolution sei vollzogen. In Chicago sitzt der diesjährige Weltpräsident, der über allen Einzelrepubliken thront und mit seinen Organen alle internationalen Angelegenheiten ordnet. Er verfügt in letzter Instanz über das Kapital der Erde.



Heute liegen seinem Unternehmungsdepartement neben 700000 törichten Anträgen drei ernste vor: Eine Bahn durch Tibet, ein Petroleumwerk in Feuerland, eine Bewässerung in Ostafrika. Politisch und technisch sind alle drei Pläne einwandfrei, wirtschaftlich anscheinend gleich wünschenswert; im Hinblick auf die verfügbaren Mittel kann indessen nur einer ausgeführt werden. Aber welcher?



Nun liegen nach alter Sitte aus kapitalistischer Zeit drei geprüfte Rentabilitätsrechnungen vor: Tibet würde sich mit 5 Prozent, Feuerland mit 7 Prozent, Ostafrika mit 14 Prozent verzinsen. Es hat sich so viel von den Gewohnheiten der alten kapitalistischen Epoche erhalten, daß das Departement unter Zustimmung des Präsidenten sich für die Ausführung der ostafrikanischen Bewässerung entschließt.



 Nunmehr könnte man freilich die Rentabilitätsrechnungen einstampfen, Arbeitsmittel im Werte einer Milliarde nach Ostafrika beordern und von jeder weiteren Verrechnung absehen. Das Errechnen von Erträgen bliebe ein altes Schulexempel, lediglich zur Ermittlung des Bedürfnisgrades, ohne materielle Folgen. Leider erheben sechs Staaten Einspruch.



Sie erklären: Die Bevorzugung kommt den Einwohnern von Ostafrika zugute, die durch vermehrte Einwanderung, Verbesserung der Lebensverhältnisse, des Klimas und was sonst noch, allein profitieren; Portugal wartet längst auf dieses, Japan auf jenes, nun wird der Weltsäckel, zu dessen Füllung alle beigetragen haben, zugunsten des einen ausgeschüttet. Die Entscheidung: „künftig hat jeder Landstrich für sich selbst zu sorgen" kann der Präsident nicht geben, denn fünfzig Jahre lang sind aus Mangel an Universalmitteln wichtige Arbeiten unterblieben. So bleibt ihm nichts weiter übrig als zu erklären: Der Plan wird ausgeführt; doch die ostafrikanische Gesamtwirtschaft hat einen jährlichen Mehrertrag von soundso viel an den Weltsäc

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