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Mittwoch abends hatten wir immer Filmtag. Es wurden alle zwei Wochen im barocken Festsaal ältere Kinofilme auf die Leinwand auf der Theaterbühne projiziert. Das Rattern des Filmprojektors, der die Filmstreifen durch zog, faszinierte mich. So etwas hatte ich als Bub vom Bauernhof noch nie erlebt.

In der nächsten Woche hatten wir unseren ersten Wandertag. Wir wanderten zusammen mit der „B-Klasse“ durch St. Marienkirchen, wo wir bei den Eltern einer Schülerin etwas zu trinken bekamen. Danach erreichten wir Egg nahe Pollham, wo wir bei Christophs Mutter ebenfalls unseren Durst löschen konnten. Wir gingen ungefähr zwei Stunden von Dachsberg nach Pollham. Das war beruhigend für mich zu wissen, dass ich zu Fuß so schnell nach Hause kommen würde. Unsere Essenspause hatten wir bei der Jausenstation „Wirt in der Pfleg“, wo es riesige „Wizeln“ gab, die auch meine Oma gern machte, allerdings viel kleiner. Weiter führte unser Marsch über den Magdalenaberg nach Bad Schallerbach. Dort wohnte die Sportlehrerin der Mädchen Professor Rosenauer, die uns zusammen mit Frau Professor Söllinger und Frau Professor Geidl begleitete. In Bad Schallerbach angekommen wartete schon ein Bus, der uns wieder zurück nach Dachsberg brachte.

Im Unterrichtsfach Religion hatten wir einen jungen Lehrer, von dem ich sehr beeindruckt war. Ich fand den Religionsunterricht von ihm sehr interessant. In der Volksschule las uns der Pfarrer in Religion gewöhnlich etwas Langweiliges vor.

In Biologie hatten wir einmal draußen Unterricht. Wir betrachteten die Pflanzen im Garten des Maierhofes, wo sich die Zimmer der Patres und der anderen Ordensleute befanden. An diesem Tag plauderte ich etwas intensiver mit Thomas, vor dem ich am ersten Tag so Angst hatte. Wir verstanden uns sehr gut und wurden Freunde. Die meiste Zeit verbrachte ich aber mit Guido.

Es war schon die vierte Schulwoche, als wir zum ersten Mal Spaß mit den externen Schülern hatten. Isabell Landl schrieb auf gelbe Klebezettel Sprüche wie „Du dumme Sau“ oder „Du blöder Affe“. Diese Zettel klebten dann auf den Rücken einiger Mitschüler, die diese wieder jemand anderen auf den Rücken klebten. Guido riss sich gerade einen Zettel mit der Aufschrift „Ich bin so blöd“ vom Rücken und überlegte, wer sein nächstes Opfer sein könnte. Er stand am Katheder des Lehrers und beobachtete die Klasse. Seine Hand mit dem Zettel hatte er unbewusst am Katheder. Nikola, die stellvertretende Klassensprecherin, sah Guido und rief im Eifer ihres Amtes: “Habt Ihr das gesehen, Guido klebt den Zettel „Ich bin so blöd“ auf den Katheder von Frau Professor Söllinger!“ Sie drohte ihm: „Guido, das melde ich!“ Der Klassensprecher Christof Bauer war auch dafür, es zu melden, dass Guido die Söllinger für blöd hält. Es war offensichtlich, wir hatten bei der Klassensprecherwahl schlecht gewählt. Seither gab es eine Kluft zwischen den Externen- und den Internatsschülern.

Als nach der Pause die Söllinger hereinkam, stürmten Christof Bauer und Nikola nach vorn zum Katheder und berichteten: “Frau Professor, der Guido hat einen Zettel auf Ihren Tisch gelegt, auf dem steht, dass Sie blöd sind!“ Sofort zog Nikola den verhängnisvollen Zettel aus ihrer Hosentasche und reichte ihn der Söllinger. Der Klassensprecher und Isabell bestätigten den Vorfall. Die Söllinger richtete ihren tötenden Blick auf Guido und fällte sogleich das Urteil: “Guido, Du bekommst eine Mahnung nach Hause geschickt!“ Sie wurde etwas lauter und fügte hinzu: „Bei der dritten Mahnung wirst Du von der Schule gegangen!“ Den Ausdruck „von der Schule gegangen“, hörten wir noch öfter in diesem Schuljahr.

Wir hatten unseren ersten Skandal in der Klasse! Der völlig unschuldige Guido musste sich schrecklich gefühlt haben. Er hat vor Angst keinen Ton von sich gegeben, auch weil ihm die Söllinger keine Gelegenheit dazu gab. Ahnungslos, wie es sich wirklich zugetragen hatte, unterschrieb der Direktor Pater Biregger die Mahnung. Diese Ungerechtigkeit sollte nicht die Einzige bleiben für den armen Guido. Die Eltern, die so eine Mahnung bekamen, mussten denken, aus ihren Kindern sind kleine Monster geworden. Es wurde monatlich ein Internatsbericht über unser Verhalten an die Eltern verschickt, der voller Übertreibungen bezüglich kindlicher Streitigkeiten war. Ich bekam deswegen oft Probleme mit meinem Vater, da ich so ein schlimmes Kind geworden bin.

Es war Anfang Oktober und man spürte, dass der Sommer endgültig zu Ende war. Wir konnten die Abendfreizeit nur noch drinnen verbringen. Jetzt, da das erste Schulmonat zu Ende war, durften wir endlich von der Indoor-Telefonzelle nach Hause telefonieren. Voller Freude nutzte ich das und rief jeden Tag nach dem Mittagessen meine Mutter an. Endlich durften auch wir ins zehn Minuten entfernte Geschäft, um einzukaufen. Der Greißlerladen „Pucher“ war der beliebteste Treffpunkt in der Vier-Uhr-Freizeit. Der alte Pucher hatte die Buben gerne und quatschte lange mit uns. Es fiel ihm auf, wenn einer länger nicht kam, und er fragte, ob derjenige krank ist. Guido und ich machten uns in der Freizeit auf, den Dachsberger Wald zu erkunden. Die anderen spielten meistens Fußball oder Tennis.

Im Sportunterricht mussten wir am Beginn jeder Stunde weit joggen. Es wurde immer kälter, und das Joggen wurde unerträglicher. Schließlich mussten Guido und ich wegen der Kälte unsere Spaziergänge im Wald einstellen. Eigentlich war es einfacher, drinnen zu spielen, denn wir mussten jedes Mal die Erlaubnis des diensthabenden Präfekten einholen, um draußen spazieren oder einkaufen zu dürfen. Am meisten Spaß machte uns das Fangenspielen auf den langen Gängen. Dabei fassten wir saftige Strafen aus, wenn wir erwischt wurden.


Schloss, Schule und Internat Dachsberg mit dem Maierhof 1985

Der Tagesablauf im Internat war bereits Routine geworden:

06.15: Aufstehen

06.35: Morgengebet, Morgenstudierzeit oder Besuch der Heiligen Messe

07.10: Frühstück

07.30: Gebet, Schulbeginn

13.05: Gebet, Mittagessen, Dankgebet

13.35: Beginn der Freizeit oder Nachmittagsunterricht

14.30: Gebet, Nachmittagsstudierzeit

16.10: Zweite Freizeit und Möglichkeit im Speisesaal Mitgebrachtes zu essen

17.30: Studierzeit

18.30: Abendessen

18.50: Freizeit

19.30: Abendstudierzeit

20.00: Abendgebet in der Kirche, danach Bettruhe

Mittwochs war es Pflicht, abends die langweiligen und in die Jahre gekommenen Kinofilme von Pater Prinz anzusehen.

Die Studierzeiten wurden uns schon zu kurz, um mit dem Lernen des Stoffes durchzukommen. Wer in der Studierzeit flüsterte, musste eine Seite Lesebuch abschreiben. Wenn man auf die Toilette musste, war die Erlaubnis der Aufsicht einzuholen.

Von den älteren Internatsschülern wurden spezielle Handzeichen, wie zum Beispiel das Hochstrecken des Mittelfingers, der sogenannte „Fuck-Finger“ verwendet. Auch mein Jahrgang praktizierte immer mehr diese sexuelle Zeichensprache. Ich konnte diesen „Fuck-Finger“ lange nicht richtig zeigen, weswegen mich die anderen auslachten. Ich wusste einfach nicht, welchen Finger ich als „Mittelfinger“ hochzeigen sollte.

Am Nachmittag ging ich den Gang entlang zum Speisesaal. Ein Zweitklassler kam mir entgegen. Blitzartig griff er in meine Körpermitte und drückte zu. Der Schmerz war unerträglich, und ich bekam kaum Luft. Er ging einfach weiter. Ich stand da wie angewurzelt und konnte nicht begreifen, was gerade geschehen war. Mein Herz pochte heftig, und ich zitterte am ganzen Körper. Immer noch spürte ich den Druck in meinen Genitalien. Warum hat er das getan? Ich konnte es nicht verstehen. Ich gab ihm doch überhaupt keinen Anlass dafür. Noch nie zuvor wurde ich so berührt. Ich fühlte mich allein und hilflos. Etwas wurde mir gerade gestohlen, und ich hatte Angst. Ich wusste nicht, dass man Menschen auf diese Art berühren kann!

Auch andere machten das mit mir. Obwohl ich erst zehn Jahre war, musste ich das Zusammendrücken meiner Genitalien von älteren Internatsschülern mehrmals täglich ertragen. Das wurde „Ausgreifen“ genannt. Mit der Zeit wurde es sogar normal für uns, und einige aus meinem Jahrgang praktizierten es selber. Meldungen an die Präfekten brachten leider keine Besserung der Situation.

Christian lief den Gang entlang auf unser Zimmer zu. Ich wollte ihn mit meinem ausgestreckten Arm erschrecken. Er landete allerdings mit seiner Körpermitte genau in meiner Faust. Er krümmte sich vor Schmerz. Aber wegen des „Ausgreifens“ war dieses Missgeschick nichts Ungewöhnliches für ihn. Mir war es zwar peinlich, aber ich entschuldigte mich nicht. Wir verhielten uns, als sei nichts geschehen.

In den Nächten, wenn wir zu wach zum Schlafen waren, machte hin und wieder jemand eine „Strip-Show“ zum Spaß der anderen. Manchmal entblößten wir uns alle fünf im Zimmer und betrachteten uns nackt. Nun waren wir also in der Pubertät. Ich kannte dieses Wort vorher gar nicht, aber dieses Thema wurde jetzt im Biologie-Unterricht von Professor Zimmerer behandelt. Meine Kindheit war zu Ende, das fühlte ich eindeutig.

Aufklärungsunterricht brauchte ich aber keinen mehr. Seit ich im Alter von acht Jahren die TV-Serie „Dornenvögel“ gesehen hatte, wo sich ein junges Mädchen in einen Priester verliebte, hatte ich meine eigenen Vorstellungen von Sex. Die hatte ich dann stolz mit meinen Freunden geteilt, die diese Serie nicht sehen durften. Es war allerdings völlig falsch, was ich mir unter körperlicher Vereinigung vorstellte. Ich war mir damals sicher, ich hatte das Geheimnis gelöst, wie es zur Empfängnis kommt.

In den Sommerferien, bevor ich ins Internat kam, gab mir meine Mutter ein Aufklärungsbuch zu lesen. Alle meine romantischen Vorstellungen waren dahin, und ich musste die schockierende Realität zur Kenntnis nehmen. Ein persönliches Gespräch mit meinen Eltern hätte geholfen, aber die zogen es vor, das einem Buch zu überlassen.

 

Im Internat waren auch nicht gerade harmlose Schimpfwörter in Gebrauch. Eigentlich kann man sie nur als pervers bezeichnen. Einigen Schülern wurden solche Spitznamen verpasst, die ihnen bis zum Ende ihrer Schulzeit erhalten blieben. Lehrer und Erzieher hörten manchmal davon, nahmen es zur Kenntnis und ignorierten es. Von einigen mutigen Internatskollegen wurde ihnen immer wieder das „Ausgreifen“ gemeldet. Unternommen dagegen wurde von den katholischen Priestern, die unsere Erzieher waren, aber nichts. All diese Unannehmlichkeiten gehörten nach einiger Zeit auch für mich zum Alltag. Ich dachte, man sollte wenigstens beim Besuchen der Toilette seine Ruhe haben. Es war wieder ein Zweitklassler, der sich auf die Trennwand zwischen die Toiletten hängte und mir in meiner Kabine dabei zu sah.

3. Leben im Internat

Immer noch musste ich sonntags weinen, bevor ich von zu Hause abgeholt wurde, um nach Dachsberg zu fahren. Jedes Mal war mir schlecht, als wir am Schild „Ausfahrt Schule“ abbogen. Am Internatseingang stand jedes Mal der Heimleiter Pater Prinz und begrüßte zusammen mit einem Erzieher die Eltern und Schüler. Genauso wurden wir samstags verabschiedet.

Am Sonntagabend war ich immer ganz still und leise im Internat. Ich wollte mit niemandem sprechen. In der ersten Nacht ließ ich immer in Gedanken das Wochenende Revue passieren. Wir mussten spätestens um halb acht abends in Dachsberg eintreffen, denn da begann die Abendstudierzeit. Statt dieser konnte man sonntags auch in die Abendmesse gehen.

Hin und wieder wurde ich noch vom Heimweh geplagt, weshalb mir Guido öfter seine Heimweh-Tabletten verabreichte. Wie sich später herausstellte, waren die aber nur „Dixi“-Traubenzucker. Jedenfalls wirkten sie und erfüllten ihren Zweck. Jeden Dienstag hatten wir Internatsgottesdienst, der selbstverständlich verpflichtend war. Es wurden dabei moderne Kirchenlieder aus dem Buch „Das Lob“ gesungen. Dienstags war auch „Pflicht-Duschtag“ im Internat. Die Schule war jeden Tag sehr herausfordernd. Wir hatten eine Schularbeit nach der anderen, jede Menge Tests und ständig mündliche Prüfungen. Mir machten die Anforderungen des Gymnasiums im Vergleich zur Volksschule sehr zu schaffen, vor allem im Fach Deutsch. Ich durfte in Aufsätzen keinen Satz mehr mit „Danach“, „Nachdem“, „Dann“ oder mit „Nachher“ beginnen. Unser strenger Deutsch Professor Lehner hatte zusätzlich jeden Donnerstag in der Nachmittag-Studierzeit Aufsicht. Ich hatte richtig Angst vor ihm, aber auch vor anderen Studierzeit-Aufsehern. Die „Lehner-Studierzeit“ donnerstags waren zwei schreckliche Stunden für mich!

An einem herbstlichen Sonntag Ende Oktober machte ich mit meiner Familie einen Ausflug in den Wildpark Altenfelden. Es war sehr interessant, Wildtiere wie Hirsche, Leoparden, Strausse usw. fast so wie in freier Wildbahn zu sehen. Leider mussten wir jeden Sonntag einplanen, rechtzeitig nach Hause zu fahren. Ich brauchte Zeit, um mich für das Internat fertigmachen, da ich um halb sieben abreisen musste. Deswegen mussten wir vor fünf Uhr vom Wildpark nach Hause fahren. Ich musste Kleidung, Handtücher, Getränke und Essen einpacken.

Ich dachte immer mehr über den Grund nach, weshalb meine Eltern mich nach Dachsberg geschickt hatten. Als ich in die Volksschule ging, wollte ich Priester werden. Das war mein Traumberuf, wie für andere Schiffskapitän, Feuerwehrmann ... Ich war von unserem Pfarrer Jan Pulchny sehr begeistert, wie auch vom Zeremoniell der katholischen Kirche. Aus diesem Grund ministrierte ich sehr gerne in der Heiligen Messe.

Ich war in der zweiten Klasse Volksschule, als ich abends meiner Mutter im Stall Gesellschaft leistete und ihr offenbarte, dass ich Priester werden möchte. Meine Eltern beschlossen deshalb, dass ich nach Dachsberg gehen soll.

Schon früh mit fünf Jahren, als wir jeden Tag vom Kindergarten mit dem Bus nach Hause fuhren, verkündete ich: “Zuerst werde ich Pfarrer, dann Bischof und dann Papst!“ Später in der Volksschule wettete ich sogar mit meinem Freund Pepi um eine Million Schilling, dass ich Bischof werde. Durch das Leben mit Priestern im Kloster Dachsberg wollte ich schon bald nichts mehr davon wissen. Bei meinem ersten Besuch in Dachsberg, bei dem uns Pater Biregger herum geführt hat, erwähnten meine Eltern, dass ich Priester werden möchte. Pater Biregger reagierte mit einem Lächeln, das mir vermittelte, dass er so etwas nicht ernst nimmt.

Donnerstags konnten wir während der Studierzeit um halb sechs abends freiwillig zur Beichte gehen. Einige nutzten das nur, um der Studierzeit zu entkommen. Zwei Jahre später wurde das Beichten während der Dienstagsmesse eingeführt und am Donnerstag gestrichen.

In Biologie machten wir den Aufbau des menschlichen Körpers durch, wozu dem Lehrer zur Veranschaulichung ein echtes Skelett zur Verfügung stand. Dieses Skelett stammte laut Pater Köckeis von einem ehemaligen Schüler, was er uns beim Rundgang am ersten Internatstag glauben machen wollte. Ein paar Tage später hatten wir Lehrerstreik in Oberösterreich, dem sich auch unsere Lehrer anschlossen. Der Unterricht entfiel, weshalb Guido und ich uns einen gemütlichen Tag im Internat machten. Seltsamerweise wurde Guido auf einmal von allen „Fido“ gerufen. Dieser Name blieb ihm seine ganze Zeit über in Dachsberg.

Auf den leeren Gängen im Internat musste man sich vor den älteren Schülern in acht nehmen. Für manche Dritt- und Viertklässler war es die liebste Freizeitbeschäftigung, die Jüngeren zu verprügeln. Außerdem musste man immer Angst haben, ausgegriffen zu werden. In der Schule war die Gefahr Gott sei Dank nicht so hoch wegen der Lehrer, die auf den Gängen Aufsicht hatten.

Langsam lernten wir die Charaktere der anderen Mitschüler besser kennen, wie zum Beispiel von Rene Mitter. Dieser kleine Lockenkopf kommandierte jeden herum, wie es ihm gerade passte. Die gesamte Klasse hatte Probleme, sich gegen Rene zu behaupten. Unserem Musiklehrer Professor Pitroff riss der Geduldsfaden wegen seines unbändigem Temperaments. Er war ein Lehrer vom alten Schlag und zögerte nicht, Rene mit einem Stock zu züchtigen.

Da vor allem die externen Schüler jedes Vergehen den Professoren meldeten, waren wir in der Schule richtig brav. Im Internat war es aber fast lebensbedrohlich, etwas zu melden. Man kam danach in einsamen Gängen schnell in einen Hinterhalt und bereute das Petzen umgehend. In der Schule ging es dagegen richtig kindisch zu: Im Bildnerische Erziehungsunterricht malte eine aus meiner Klasse einer anderen etwas ab. Diese meldete das sofort dem Professor Roth. Der hatte aber nichts dagegen, wenn jemand eine Idee klaute. Wenigstens einmal eine erfolglose Meldung!

Die Novembertage wurden trüber, und so war uns die umfassende Buchausstellung, die jeden November in der Aula stattfand, sehr willkommen. Es gab alle möglichen Bücher, wie zum Beispiel das „Guinnes-Buch der Rekorde“, das in der Freizeit immer schnell vergriffen war. Es gab natürlich auch eine Menge religiöser Bücher, unter denen sich ein Buch unseres Pater Prinz befand. Meine Schwester bekam dieses Buch zufällig zu ihrer Firmung im darauf folgenden Sommer.

Mitte November war der Elternnachmittag, der zweimal jährlich stattfand. Die Eltern der ersten Klassen wurden an diesem Sonntagnachmittag ausführlich über die Schul- und Internatsaktivitäten informiert. Jetzt, da die Internatsschüler ihre Aggressionen nicht mehr am Fußballplatz ausleben konnten, wurde viel gerauft in der Freizeit. An einem Nachmittag ging es dem Schmidt aus der dritten Klasse an den Kragen, denn er hatte den berühmt berüchtigten „Pille“ erzürnt. Nachdem ich diesen schrecklichen Kampf mit ansehen musste, wich ich diesem „Pille“ immer weitläufig aus. Ich hatte eher meine Probleme mit den Viert- und Fünftklässler. Nach dem Mittagessen mussten die Älteren aus dem kleinen Speisesaal immer zu uns in den großen Speisesaal kommen, um sich die tägliche Ansprache von Pater Prinz anzuhören. Die Schüler der vierten und fünften Klassen saßen dabei immer in meiner Nähe auf der Bank und beschimpften mich mit ihren unreifen Ausdrücken. Am harmlosesten war noch „Weinbergschnecke“. So war es jeden Tag nach dem Essen, und ich gewöhnte mich auch daran. Dafür war ich immer noch nicht daran gewöhnt, jeden Sonntagabend vom Elternhaus in das Internat zu übersiedeln.

Mit der Zeit lernten wir auch die Gepflogenheiten unserer Erzieher kennen. Jeden Mittwoch wurden wir sehr ungewöhnlich von Pater „Fips“ Köckeis mit den Worten geweckt: “Auf auf! Großes Bettenlüften, alles auf!“ Wir mussten nach dem Aufstehen immer die Matratze über die Bettkante hinausziehen und nach dem Frühstück wieder zurück ins Bett schieben. Vor jeder Studierzeit mit „Fips“ Köckeis forderte er uns auf: „Wer noch aufs Häusl muss, der soll gleich gehen!“.

Neuerdings wurden wir auch von unserem anfangs zahmen Präfekten Pater „Mops“ Angleitner nicht mehr vor ungerechten Strafen verschont. Der Status der zu behütenden Neuankömmlinge war dahin. Fast jeden Sonntag beim Schlafengehen zeigte uns Guido ein neues Geschenk seiner Eltern. Diesmal waren es zwei Stoffhunde, die die Spitznamen unserer Präfekten bekamen, nämlich „Fips und Mops“. Nachdem Guido die Hunde ständig mit „Fips“ oder „Mops“ anredete, durchschaute Pater Angleitner, wer damit eigentlich gemeint war und beschlagnahmte die Stofftiere.

Im Dezember wurde endlich mit den „bösen“ Schülern abgerechnet, und das so richtig mit brutalen Peitschenhieben. Der ehrwürdige Richter bei dieser Bestrafung war Pater Köckeis, allseits bekannt als der „Heilige Nikolaus“. Die peitschenden Krampusse wurden von den älteren Schülern der Fünften verkörpert. Jeder Internatsschüler wurde entweder einzeln oder in kleinen Gruppen zum Nikolaus nach vorne gerufen. Beim Vortreten zur Bühne schlugen die Krampusse ausnahmslos jeden. Diejenigen, die gelobt wurden, durften, ohne geschlagen zu werden, zurückgehen. Die Schlimmen wurden beim Zurückgehen noch härter gepeinigt. Ich hatte große Angst, aufgerufen zu werden. Leider wurde niemand vom verkleideten Pater vergessen. Unsere Beine waren beim zu Bett gehen von den Ruten zerkratzt und voller Striemen. Die ganz Mutigen setzten sich dieser Qual sogar in kurzen Hosen aus. Auch ich, obwohl ich brav war und sogar eine Tafel Schokolade vom Nikolaus bekam, hatte genügend blaue Flecken. Wir waren froh, diesen Abend für ein ganzes Jahr hinter uns zu haben. Die Älteren erzählten uns, früher gab es oft vom erzkonservativen Pater Dinauer eine „gsunde Watschn“! Er wurde vom Orden nach Indien versetzt.

Wir mussten uns für das jährliche Tischfußballturnier im Internat vorbereiten, das noch vor Weihnachten stattfand. Beim Trainieren erzählte uns der Straßl Harald: „Nach Weihnachten gibt es keinen Straßl Harald mehr!“ Wir rätselten, wie er das meinen könnte. Er erklärte uns, dass sein Vater von seinem Boss adoptiert werde und daher die ganze Familie einen neuen Namen bekommt. Beim Tischfußballturnier konnte ich leider nur einen Trostpreis ergattern.

Wir hatten in der Kirche die Abschiedsfeier unseres Musiklehrers Professor Pittrof, der mit Jahresende in Pension ging. Der Rene Mitter hat sich sicher gefreut! Wir bekamen in der letzten Schulwoche die Englisch-Probeschularbeit zurück: Ich erhielt die Note „Befriedigend-Minus“. Der Guido hatte ein „Genügend-Minus“, aber es war nur eine Probeschularbeit. Leider verschlechterte sich meine Note bei der richtigen Schularbeit auf ein Genügend. Guido verbesserte sich auf ein Befriedigend.

Vor Weihnachten gab es einen Tag, an dem verpflichtend alle Schüler zur Beichte gehen mussten. Nach dem Mittagessen setzten sich wie immer die Viert- und Fünftklässler für die Ansprache von Pater Prinz in die Nähe meines Tisches. Unerwartet entschuldigte sich Martin Osterkorn aus der vierten Klasse bei mir für seine Schimpfwörter und sagte, er hat das gebeichtet. Er versprach mir, dass er nicht mehr lästig zu mir sein wird. Er hat sich daran gehalten. Ich konnte generell eine positive Veränderung bei ihm feststellen. Am 23. Dezember hatten wir die offizielle Weihnachtsfeier in der Kirche. Ich konnte dabei zum ersten Mal die von Bruder Josef aus Holz geschnitzte Weihnachtskrippe bestaunen. Seine wunderbare Krippe bestand aus mehreren aufwendig geschnitzten Gebäuden, einer faszinierenden Landschaft und wunderschönen Figuren. Jetzt war ich wirklich auf Weihnachten eingestimmt und freute mich, zwei Wochen zu Hause bleiben zu dürfen. In der Schule hatten wir mit der Söllinger auch schon besinnlich gefeiert, und dem Beginn der Ferien stand nichts mehr im Wege.

 

Die zwei Ferienwochen zu Hause taten mir wirklich gut, obwohl ich Englisch und Mathematik lernen musste. Ich konnte morgens ausschlafen, mich mit Freunden aus der Volksschule treffen und Bob-Fahren. Der Florian aus Bregenz war wie jedes Jahr bei seinen Großeltern, unseren Nachbarn zu Besuch. Wir hatten viel Spaß zusammen. Aber nach den viel zu kurzen Ferien wurde es schnell wieder ernst in der Schule. Frau Professor Geidl prophezeite uns in Mathematik, dass einige mit Sicherheit Probleme bei den Dezimalzahlen bekommen würden, die wir demnächst durchmachen werden. Nach den Weihnachtsferien hatten wir einander viel zu erzählen. Es waren noch sechs Wochen bis zum Semesterende und somit bis zu den nächsten Ferien.

Samstags hatten wir immer zwei Sportstunden, bevor es nach Hause ging. Diesmal turnten wir am Reck. Die Reckstangen waren unterschiedlich hoch, und wir mussten an allen Stangen Übungen machen. Als ich an der höchsten Stange an die Reihe kam und meine Rolle machte, stürzte ich vom Reck und schlug mit dem Kopf auf den Boden auf. Anfangs hatte ich nur ein wenig Kopfschmerzen, aber es wurde zu Hause immer schlimmer. Ich hatte eine Gehirnerschütterung. Ich musste eineinhalb Wochen zu Hause im Bett bleiben und versäumte in der Schule eine Menge wie die komplizierten Dezimalzahlen. Die machten mir dann tatsächlich schwer zu schaffen. Ich ruhte mich zu Hause vorm warmen Kachelofen aus und ließ mich vom Buch “Sindbads Abenteuer“ faszinieren. Zurück im Internat waren alle auf einmal ganz verrückt nach lustigen kleinen Autos, die man aufziehen konnte. Diese „Flitzer“ kreisten dann wild umher und konnten für ihre geringe Größe eine beachtliche Strecke zurücklegen. Jeder wollte eines dieser Autos haben. Man konnte die „Flitzer“ bei Rene Mitter kaufen. So hatte er wieder einmal die volle Aufmerksamkeit.

Meine Noten in der Schule wurden immer schlechter. Ich hatte große Angst vor dem nahenden Halbjahreszeugnis. Nach meinen verlorenen Wochen wegen der Gehirnerschütterung wurde ich ein weiteres Mal krank, blieb aber im Internat. Als ich mich nach drei Tagen besser fühlte, beschloss ich aufzustehen und zu lernen. Ich frisierte mir zum ersten Mal einen Seitenscheitel. Als ich den Studiersaal betrat, fingen gleich einige aus meiner Klasse an zu nerven, wie zum Beispiel der Luki: “Soll ich Dir Deinen Scheitel zerstören?“ Langsam wurde meine Haut dicker, und ich ärgerte mich nicht mehr.

Guido beherrschte zu meiner Überraschung das Spiel Schach! Pater Angleitner hatte es ihm beigebracht. Schon immer war ich fasziniert vom Spiel mit den weißen und den schwarzen Figuren. Guido brachte auch mir das Schachspielen bei. Es war gar nicht so kompliziert, wie ich immer dachte. Ich merkte mir zwar die Regeln, aber was strategisches Denken anbelangt, war ich nicht so gut. Es gab auch ein Schach-Turnier im Internat, aber dafür war ich noch zu schlecht.

In der Schule kündigte sich ein besonderer Besuch an. Die Schriftstellerin Käthe Recheis veranstaltete eine Lesung und Autogrammstunde. Ich konnte mir von ihr mein Buch „Die Geisterstunde“, das ich bei der Buchausstellung gekauft hatte, signieren lassen. Diejenigen, die keines ihrer Bücher besaßen, mussten sich in der Warteschlange anstellen. Diesmal war ich auch mal bei den Ersten dabei.

Es gab endlich genug Schnee, um Langlaufen zu gehen. Im Schuhputzraum wurde ein Skiständer mit verschiedenen Langlaufskiern in allen Größen aufgestellt. Professor Söllinger brachte uns das Langlaufen im Sportunterricht bei. Es wurde eine lange Loipe durch die schneebedeckten Wiesen, Felder und durch den Wald gezogen. Wir durften das Angebot in der Nachmittagsfreizeit nutzen. Das Langlaufen durch die hügelige Umgebung machte mir großen Spaß.

Wir hatten noch einige Schularbeiten und Tests vor uns, bis wir endlich in die Semesterferien entlassen wurden. In der Woche davor konnten wir uns etwas auf die Ferien einstellen. Die Morgenstudierzeit entfiel, und wir hatten meistens etwas früher schulfrei. Im Internat wurden die Studierzeiten gekürzt, und es wurden gute Videofilme gezeigt. Ich war besonders vom Film „Die Wikinger“ fasziniert. Die Videofilme waren sowieso immer besser als die seltsamen Kinofilme, die wir uns jeden zweiten Mittwoch ansehen mussten. Am Nachmittag vor jeden Filmabend wurde eine kleine Information am Schwarzen Brett im Internat aufgehängt. Als Kritik stand eigentlich immer „Prädikat: wertvoll“, Schlechtestenfalls „Prädikat: sehenswert“. Ich weiß nicht, wer diese Kritiken vergab, aber die Filme waren total langweilig.

In der letzten Woche des ersten Semesters hatten wir einen sehr interessanten Diavortrag eines Fotografen aus Waizenkirchen. Die Bilder aus Sumatra und Borneo waren sehr beeindruckend, wie auch die Musikuntermalung. Etwas schockiert war ich, dass die blonde Frau des Fotografen ganz nackt zusammen mit den Eingeborenen auf den Fotos zu sehen war.

Endlich war Freitag und ich erwartete voller Spannung mein erstes Zeugnis in Dachsberg. Leider war es nicht ganz zu meiner Zufriedenheit. Ich hatte Angst, das Zeugnis zu Hause vor zu zeigen. Es waren einfach zu viele Vierer. Nur in Religion und in Zeichnen hatte ich eine Eins. Ich verstand nicht, was mit mir geschehen war, denn in der Volksschule war ich noch Vorzugsschüler. Jetzt gehörte ich auf einmal zu den schlechtesten Schülern meines Jahrganges.

Ich musste zwar die Ferien wieder mit dem Vorsatz beginnen, viel zu lernen, genoss aber die Ferienwoche trotzdem! Da wir genügend Schnee hatten, flitzte ich mit meinem neuen Bob die Hügel hinunter. Auf der Straße erreichte man allerdings ein höheres Tempo, und das machte mehr Spaß. Dabei brach leider mein Bob auseinander, als ich über einen Granitstein fuhr, der aus dem Schnee ragte.

Viel zu schnell waren die Ferien zu Ende, und es war wieder Zeit für meine Abreise ins Internat. Diesmal war meine Mutter an der Reihe, die Pollhamer Schüler ins Internat zu fahren. Meine Mutter und ich gingen statt meiner Studierzeit in die Abendmesse in die Kirche. Ein paar Reihen vor uns saß Rene Mitter. Meine Mama meinte, er ist hübsch und ihr gefallen seine schwarzen Locken. Ich dachte mir nur, weil sie ihn nicht kennt, kann sie so etwas sagen. Für mich war sein Charakter genauso schwarz wie seine Haare. Mama erzählte meiner Schwester Sabine vom hübschen Rene. Aus diesem Grund wollte Sabine unbedingt am darauf folgenden Sonntag in die Dachsberger Abendmesse mit kommen. Dort war sie so fasziniert von Rene, dass sie mich bat, ihm ein Foto von ihr zu zeigen. Aber Rene hatte schon längst eine „Freundin“: Karin Blechinger aus der fünften Klasse, die um vier Jahre älter war als er. Ich dachte, hätte er sich nicht wenigstens ihre Schwester Doris aus der Dritten nehmen können? Aber dieser Elfjährige musste sich an ein fünfzehnjähriges Mädchen ran machen!

Bei seiner Mittagsansprache stellte uns Pater Prinz den Frater Helmut vor, der zwei Monate als Gasterzieher in Dachsberg blieb. Wir waren begeistert von ihm, denn er war sehr jung und sportlich. Er unternahm gerne etwas mit uns und war für fast alles zu haben.

Nachts war mir wieder einmal sehr schlecht. Wahrscheinlich vom Leberkäse, den es zum Abendessen gab. Ich weiß bis heute nicht, ob es ein Gerücht war, oder doch die Wahrheit, dass der Leberkäse in Dachsberg aus Pferdefleisch gemacht wurde. Jedenfalls, nach schlimmen Magenkrämpfen musste ich erbrechen. Leider schaffte ich es nicht mehr auf die Toilette, und es landete alles im Waschbecken. Wegen der Leberkäse-Stücke konnte das Erbrochene nicht durch den Abfluss abfließen. Frater Helmut brachte mir einen Kübel, falls ich noch einmal erbreche. Er räumte dann mit seinen Händen das Waschbecken von meinem Erbrochenen frei. Er umsorgte mich so nett, dass es mir gleich wieder besser ging. Am nächsten Morgen konnte ich nicht in die Schule gehen. Um neun Uhr kamen zwei Putzfrauen ins Zimmer. Wegen der Zwischenwand bemerkten sie nicht, dass ich im Zimmer war. Eine Putzfrau sagte zur anderen: “Solche Schweine! Alles vollgekotzt, so ein Scheiß!“ Kurz darauf kam Pater Köckeis, dem so etwas nichts ausmachte. Er schraubte den Abfluss unter dem Waschbecken auf und putze das Erbrochene heraus.