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Walter Weinberg

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im Internat

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Brief einer Mutter

Vorwort

1. Rückkehr

2. Umzug ins Kloster

3. Leben im Internat

4. Außenseiter

5. Wandlung

6. Frühlingserwachen

7. Rebell im Internat

Traumsequenz

Oktober 2020

Walter Weinberg

Impressum neobooks

Brief einer Mutter

Lieber Walter!

Mit großer Begeisterung habe ich Dein Manuskript gelesen, oft bis weit in die Nacht hinein. Ich bewundere Deine Wahrnehmungs- und Merkfähigkeit! Das Brechen von Tabuthemen und wie Du Deine Gefühle ausdrücken kannst.

Wenn ich gewusst hätte, wie es Thomas dort wirklich gegangen ist, hätte er nicht bleiben brauchen. Von P. Angleitner sind meine Anfragen, wie es ihm geht und wie er sich nach Rückkehr ins Internat verhält, stets herunter gespielt worden. So glaube ich zumindest jetzt!

Vielleicht hat Dich Deine harte Zeit so herausgefordert, dass Du doch auch etwas mitnehmen konntest und so ein Stück Weg zu Dir gefunden hast und dadurch gestärkt hervorgegangen bist. Ich habe nämlich den Eindruck, dass Du eine starke Persönlichkeit bist!

Auch wenn die äußere Freiheit eingeschränkt ist, wünsche ich Dir, dass Du Dir Deine innere Freiheit stets bewahren kannst und Dein Leben weiterhin gelingt.

Danke fürs Lesen lassen, würde mich freuen, wenn Du uns wieder einmal besuchen könntest.

Herzliche Grüße,

Margarete Obermüller

Vorwort

Viel Zeit ist vergangen, seit ich in den 1980er-Jahren im Kloster-Internat Dachsberg gelebt habe. Jetzt, viele Jahre später, hat bereits meine Nichte Viktoria hier maturiert, und ihre jüngere Schwester Helena besucht zurzeit das Gymnasium. Einige in diesem Buch vorkommenden Mitschüler sind Lehrer in Dachsberg geworden.

Mein bester Freund im Internat, Thomas hat sich leider das Leben genommen. In dankbarer Erinnerung an unsere Freundschaft und an seine Unterstützung in dieser schwierigen Zeit widme ich ihm dieses Buch. Den Brief von der vorigen Seite hat seine Mutter verfasst.

Leider ist mein Held im Kloster, Bruder Josef „Josy“ auch schon verstorben. Als meine Nichte Viktoria 2011 ihre Schulzeit in Dachsberg begann, bot ich meiner Schwester an, falls Viktoria Hilfe in Dachsberg braucht, kann sie sich jederzeit an Josy wenden. Ich hoffte, dass er auch ihr ein guter Freund wird und sie ebenfalls Einiges von ihm lernen kann. Leider ist er in Viktorias erster Schulwoche unerwartet verstorben. Durch meine vielen Besuche nach meiner Schulzeit wusste ich, dass Josy einsam war und immer weniger Sinn im Leben fand. Die Schulleitung nahm ihm seine Aufgaben großteils weg, und das Kloster wurde mangels Klostereintritte sehr leer. Josys Todesursache war Herzversagen, und das mit 63 Jahren.

Als mein Vater tödlich verunglückte und wir die Beerdigung vorbereiteten, wurden wir von meinem ehemaligen Erzieher Wolfgang betreut. Er ist der Leiter meiner Heimatpfarre. Meine Mutter nutzte die Gelegenheit, ihm von diesem Buch zu erzählen. Er war überrascht, dass ich alles aufgeschrieben habe. Nach dem Lesen bat er mich um Verzeihung. Er war lange im Gymnasium als Lehrer tätig, hat aber die Arbeit als Erzieher schon früher aufgegeben.

Dobi, einer meiner besten Freunde, liest seit 25 Jahren mit seiner Frau jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Seiten dieses Buches.

Auch ihn lässt diese Zeit nicht los ...


1. Rückkehr

Wir biegen gerade am Schild „Gymnasium Dachsberg“ rechts ab. Es ist ein heißer Tag im Juni. Oft bin ich schon zurückgekehrt an diesen Ort, wo wir uns kennenlernten: Thomas, Dobi, Guido und ich. Erinnerungen werden wieder wach. In diesem Jahr ist es schon das dritte Mal, dass ich nach Dachsberg zurück komme. Gestern waren Dobi und ich auf der Dachsberger Oberstufenparty, die zweimal jährlich stattfindet. Seltsam, wie es die ehemaligen Schüler immer wieder hierher zieht, vor allem die Internatsschüler. Fast alle meine früheren Klassenkameraden waren gestern auf der Oberstufenparty.

Guido und ich gehen an der Schule und am Schloss vorbei in das Ordensgebäude. Im Maierhof suchen wir Josy, den wir schnell finden. Als ich gestern mit Dobi hier war, wagte ich es kaum zu glauben, dass er ins Kloster zurückgekehrt ist. Überrascht erblickten wir ihn auf einer Leiter im Park, so wie früher. Josy, eigentlich Bruder Josef hat uns Internatsschülern immer viel Abwechslung im tristen Internatsleben geboten. Ich freue mich ihn wieder zu sehen, denn er hatte den Orden auf unbestimmte Zeit verlassen. Es war nie leicht für Josy, sich gegen abgehobene Patres zu behaupten. Auf jeden Fall ist mit ihm ein wichtiges Stück Dachsberg zurückgekehrt. In den letzten zwei Jahren sollte sich Josy entscheiden, im Kloster zu bleiben oder auszutreten. Er hätte mit seinen künstlerischen Fähigkeiten bessere Möglichkeiten gehabt, als im Orden die Gartenarbeit und Reparaturarbeiten zu erledigen. Für mich ist er so etwas wie ein Universalgenie. Er schnitzt aus Holz unglaubliche Kunstwerke, malt fast wie ein Michelangelo und hat aus einer Orgel vom Müll die Kirchenorgel fürs Kloster gebaut. Orgel spielen hat er sich selbst beigebracht und sogar Internatsschüler darin unterrichtet.

Schon als Jugendlicher musste Josy ins Kloster eintreten, da seine Mutter eines Ihrer Kinder Gott opfern wollte. Die Mutter ist zwar verstorben, aber wenn Josy aus dem Kloster austritt, ist er so gut wie mittellos. Er würde auch im Alter fast keine Pension erhalten. Das ist der Grund, warum Josy mit 50 Jahren wieder zurück im Kloster ist!

Er bietet uns Erdbeeren aus „seinem“ Ordensgarten an. Es sind gut gedüngte Walderdbeeren, die gleich groß sind wie Felderdbeeren. Dann zeigt er uns sein Holz zum Schnitzen, das er von jener Tischlerei erhielt, in der er die letzten zwei Jahre gearbeitet hat. Wenigstens kann so niemand behaupten wie schon einmal, dass er das Holz des Klosters unterschlagen hätte. Wir spazieren im Dachsberger Wald zur Lourdes-Grotte und frischen unsere Erinnerungen auf.


Am Rückweg zum Schloss treffen wir den Ordensrektor und Direktor des Gymnasiums, meinen ehemaligen Erzieher. Als ich mit Dobi voriges Jahr hier war, war er sehr unfreundlich. Wir klopften damals an Pater Angleitners Tür und grüßten ihn freundlich. Er erwiderte unseren Gruß nicht. Trotzdem fragten wir nach Wolfgang, unserem ehemaligen Erzieher, den wir besuchen wollten. Pater Angleitner nahm den Telefonhörer, wählte rasch und legte sofort wieder auf. So schnell hätte Wolfgang nicht ans Telefon gehen können! Der Pater murmelte genervt, dass niemand da sei und wir nicht länger stören sollen. Dabei kam in mir das ungute Gefühl wieder hoch, das ich während meiner ganzen Zeit in Dachsberg hatte. Am Maturaball, vier Jahre nach meiner Internatszeit, war Pater Angleitner sehr freundlich. Wahrscheinlich, weil wir am Ball freiwillig gearbeitet haben und damit eigentlich für ihn als Direktor.

Josy schlägt vor, uns im neuen Schulgebäude herumzuführen. Es hat sich einiges verändert hier. Josy probiert, ob sein Schlüssel zum ehemaligen Bastelraum noch passt. Zu Josys Überraschung wurde das Türschloss nicht ausgewechselt. Josy erinnert sich, als er mit uns die Weihnachtskrippen in diesem Raum geschnitzt hat: „Damals war die schönste Zeit meines Lebens!“ „Du hast Dich richtig aufgeopfert für uns!“, ergänze ich. Josy war damals Hausmeister des Klosters, Schulwart, Mesner, Organist und Gärtner. Seine Arbeit mit uns an den aufwendig geschnitzten Weihnachtskrippen machte er in seiner Freizeit und aus eigener Initiative. Josy meint: „Ich habe viel dabei gelernt, außerdem habe ich es sehr gern gemacht!“ Ich danke ihm, dass er mir einem handwerklich hoffnungslosen Fall beim Krippenbauen so sehr geholfen hat. Meine „Orientalische Weihnachtskrippe“ wird nach wie vor jedes Jahr zu Weihnachten aufgestellt. Immer noch glaubt mir fast niemand, dass ich zu so einem Kunstwerk fähig war!

Im Speisesaal des Ordens, der Hunderte Jahre das Gericht im Schloss Dachsberg war, plaudern wir über viele Erinnerungen und die zahlreichen Veränderungen. Die Sitzordnung der Patres und Brüder gleicht auch heute eher einem Tribunal, nur dass jetzt ein großes Gemälde vom Heiligen Franz von Sales anstatt des Doppeladlers in der Mitte der Wand hängt.

 

Wir verabschieden uns von Josy, der anmerkt: „Wenn Du einen eigenen Wagen hast, kannst Du ja öfter her kommen!“

Jährlich gibt das Internat Dachsberg eine Zeitschrift heraus, in der es hauptsächlich um das Leben im Internat geht. Aufgrund der Schilderungen von heutigen Internatsschülern merkt man, wie sehr sich alles hier zum Besseren verändert hat. Aus dem Internat Dachsberg ist jetzt eher ein Schüler-Wohnheim geworden.

Meine Erinnerungen an die für mich harte Zeit und die Veränderungen in Dachsberg sind Ansporn für mich, alles aufzuschreiben, was ich dort erlebt habe.

2. Umzug ins Kloster

10. September 1985: Es war ein schwüler, bewölkter Spätsommertag, an dem meine Mutter und ich Bettzeug, Kleidung und Schulsachen packten. An diesem Tag zog ich als Zehnjähriger in das Internat Dachsberg.

Im Februar hatte ich mit meinen Eltern das Gymnasium und Internat besichtigt. Wir hatten damals einen Termin mit dem Heimleiter P. Prinz vereinbart. Es schneite und war sehr kalt an diesem Sonntagnachmittag. Wir fuhren durch St. Thomas, wo mein Onkel lebte und nach ein paar Minuten waren wir schon in Dachsberg. Es war also nicht weit von zu Hause.

Wir betraten das Internatsgebäude, das wir glücklicherweise sofort fanden bei diesem Dorf ähnlichen Gebäudekomplex. Auch das Präfektendienstzimmer war leicht zu finden, wo gerade ein älterer Herr telefonierte: „Tut mir leid, unser Heimleiter Pater Prinz ist heute leider nicht hier. Bitte rufen Sie morgen wieder an. Auf Wiederhören!“ Mein Vater fragte trotzdem: „Grüß Gott, wo finden wir Herrn Pater Prinz?“ „Ja“, antwortete Pater Elias: „Der ist heute nicht da. Ich kann Sie aber zu unserem Direktor führen!“

Mir flößte das Gebäude wegen seiner Größe Angst ein. Das war für mich als Kind vom Lande eine völlig andere Welt. Wir begrüßten den Direktor Pater Biregger. Meine Eltern sprachen mit ihm über mein Halbjahreszeugnis von der Volksschule: „Ob Walter mit einem Dreier in Mathematik überhaupt aufgenommen werden kann?“ Pater Biregger meinte: „Leider sind wir ja schon ziemlich voll für das nächste Schuljahr, aber wenn jemand ausfällt, werden wir ihn aufnehmen. Es fallen jedes Jahr welche aus!“ Er führte uns durch einen dunklen, fensterlosen Gang zur Kapelle, als mich plötzlich ein totes Zebra, dessen Fell an der Wand hing, erschreckte. Ich war etwas verängstigt, was Pater Biregger merkte: „Ich muss mich entschuldigen, es brennt kein Licht, weil ja am Sonntag kein Schulbetrieb ist!“ Vorm Eingang zur Kirche war eine dicke Betonsäule und ein großes Kreuz mit einem lebensgroßen voll Schmerz und Wunden gezeichneten Christus.

Zur Kapelle musste man durch eine schmale Schiebetür die Stiege hinunter gehen. Unten war es eiskalt! Pater Biregger erklärte: „270 Personen finden hier Platz.“ Später als Schüler bei Schulgottesdiensten merkte ich, wie wenig Platz das war. An der Altarwand hing eine übergroße, sehr ungewöhnliche Jungfrau Maria mit ausgestreckten Armen, die mir vorkam wie ein Jüngling. Der Direktor sagte über die Statue: „Das ist unsere Sonne!“ Er meinte allerdings den Heiland Jesus, also doch keine Jungfrau Maria! Die ganze Kapelle wirkte sehr seltsam und kühl in ihrer Siebzigerjahre-Architektur.

Wir gingen zu den kleinen Seitenaltären. Pater Biregger fragte mich: „Walter, wer ist denn der Mann, der da im Seitenaltar dargestellt ist?“ Ich sah das bunte Glasbild an und antwortete: „Das weiß ich nicht!“ Pater Biregger war über mein Unwissen überrascht: „Das ist der Heilige Josef mit dem Jesuskind!“ „Aber der Josef hat doch einen Bart?“, entgegnete ich. Anscheinend war in dieser Kirche alles ein wenig anders. Anschließend zeigte er uns den Bastelraum. Die Fenster vom Bastelraum, durch die man in den Turnsaal blicken konnte, gefielen mir. Wir besichtigten noch den Festsaal mit der barocken Bühne und den Speisesaal. Das war der einzige Raum, der mich glauben ließ, dass Dachsberg ein Schloss ist. Am Weg zum Auto faszinierte mich ein Übergang mit Fenster direkt über der Straße.


Als wir von meinem ersten Besuch in Dachsberg nach Hause kamen, sagte ich zu meiner Mutter: „Mama, mir gefällt es dort nicht, ich will da nicht hin!“ Sie meinte: „Das wird schon! Wenn Du erst einmal dort bist, wird es Dir schon gefallen!“ Ich dachte, wenn kein Platz frei wird, nehmen sie mich sowieso nicht!

Ein halbes Jahr verging und ich fuhr mit meiner Mutter wieder nach Dachsberg, nur dass ich dieses Mal dortbleiben musste. Vor den Sommerferien meldete mich meine Mutter endgültig in Dachsberg an. Kurz zuvor erfuhren wir, dass ein Schüler mit den besten Schulnoten abgesagt hatte und sein Platz frei für mich wurde. Pech gehabt, dachte ich und übte mich in Realitätsverweigerung.

Am Vorabend meines Umzuges ins Internat fing im Fernsehen eine neue Serie an „Der Leihopa“. Ich wusste, ich werde die zweite Folge nicht mehr sehen können. Mein Vater schenkte mir eine Armbanduhr, damit ich nie zu spät zur Schule komme. Im Internat bemerkte ich bald, wie viele Uhren es an den Wänden gab. Eigentlich waren sie überall.

Es war so weit und ich musste von zu Hause weg! Während der Autofahrt erblickten meine Mutter und ich nach dem Schild „Ausfahrt Schule“ den riesigen Gebäudekomplex von Dachsberg. Angst und Traurigkeit überkamen mich. Wir gingen durch den Internatseingang zum Präfektendienstzimmer und begrüßten dort endlich den Heimleiter Pater Prinz. Als wir damals nach der Besichtigung heimfuhren, verband ich den Namen Prinz mit dem sympathischen Direktor Pater Biregger. Jetzt war es für mich schwierig, den Namen Prinz mit diesem Mann in Verbindung zu bringen. Er teilte uns die Nummer meines Zimmers mit: 24 im zweiten Stock. Oben angekommen, schritten wir den langen Gang hinter der Glaswand entlang bis zum Ende. Es war jener Stock, in dem die Türen orange waren. Im ersten Stock waren die Türen grün. Das letzte Zimmer hatte die Nummer 24.

Bevor wir das Zimmer betraten, sah ich aus dem Fenster am Ende des Ganges. Es war weit bis nach unten! Im Zimmer erblickte ich meinen Freund aus der Volksschule, Christoph, der einzige meiner Freunde, den ich überreden konnte, mit mir nach Dachsberg zu gehen. Christoph hatte anscheinend bereits einen neuen Freund gefunden, mit dem er Fußballspielen wollte. Ich fragte ihn, weil ich nicht alleine bleiben wollte: “Hast Du denn einen Fußball mit?“ „Nein, aber der Herr unten hat gesagt, er gibt uns einen!“ Jedenfalls wusste ich jetzt, dass Christoph und sein neuer Freund mit mir das Zimmer teilen. Es fehlten noch zwei Burschen, die ebenfalls in meinem Zimmer schlafen werden.

Eine zarte Frau trat mit ihrem dicken, stark wirkenden Sohn ins Zimmer. Der kam mir vor, als würde er sich gerne prügeln. Meine Mutter plauderte mit der Frau, während ich den starken Buben beobachtete. Meine Mutter fragte sie, ob sie uns bei einem Rundgang durchs Internat begleiten will. Der starke Junge ging auch mit. Ich musste dringend auf die Toilette, aber wir kamen an keiner vorbei. Ich traute es mir wegen der Frau und dem Jungen nicht sagen, aber jetzt musste ich wirklich! Wir gingen hinunter zum Heimleiter und Mama fragte, wo die Toilette ist. Ich musste eine Tür mit einem „H“ darauf finden. Am Rückweg fand ich eine Tür mit einem „D“ wie Dame. Ich hatte es begriffen!

Jetzt musste sich Mama von mir verabschieden. Ich konnte mir das Weinen nicht mehr verhalten. Sie begleitete mich noch bis in den Studiersaal und verließ mich dann. Die fremden Buben im Saal machten mir Angst. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Ich hatte das Gefühl, dass ich jetzt ganz auf mich allein gestellt war. Ein Mann kam durch die Tür und stellte sich vor: „Ich bin Euer Präfekt Pater Angleitner.“ Ein blonder Junge stellte ihm gleich eine Frage: „Herr Lehrer ...“ Ich war überrascht, denn meine Mutter wies mich darauf hin, die neuen Lehrer und Erzieher nur mit „Herr Professor“ anzusprechen. Ich war also doch nicht der Einzige, dem das komisch vorkam. Ich hatte mich gerade ein wenig beruhigt, als ich plötzlich Mama durchs Fenster erblickte, wie sie die Stiege zum Parkplatz hinauf ging. Mir fiel erst jetzt auf, dass sie das dunkelbraune Kleid mit dem weißen Muster anhatte, dass sie sonst nur zu feierlichen Anlässen trug. Vielleicht hat sie noch mit der kleinen Frau gesprochen, sonst wäre sie schon weg gewesen. Ich fing wieder an zu weinen. Nach der Begrüßung des Präfekten führte er uns in den barocken Speisesaal. Der Saal war riesig und sah aus wie eine Kirche. Später erfuhren wir, dass der Speisesaal tatsächlich früher die Kapelle des Schlosses war. Nach dem Essen mussten wir auf unsere Zimmer gehen. Wir stellten uns dort gegenseitig vor. Die anderen sprachen davon, dass einer mit dem Namen „Guido“ fehlt. Solch einen Namen hatte ich noch nie zuvor gehört. Und schon kam er herein. Ein dicker rothaariger Junge, der sehr gut gelaunt war. Er hatte sich das Eckbett an der Trennwand zu den Waschbecken reserviert. In allen vier Jahren, egal in welchem Zimmer, beanspruchte er dieses Bett für sich. Für mich war kein gutes Bett mehr frei. Es war das Mittlere, wo man am besten gesehen wurde. Ich konnte mich auf keine Seite drehen, wo ich unbeobachtet war.

Pater Köckeis betrat das Zimmer und bot allen Interessierten an, sich seiner Führung durchs Haus anzuschließen. Ich hatte Angst, mich in diesem riesigen Haus nie alleine zurechtzufinden. Der Blick von unten in das Stiegenhaus hinauf machte mich schwindelig. Das Schulgebäude war das höchste Gebäude, das ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte.

Wir mussten noch einmal in den Studiersaal. Dort hänselte der große blonde Junge, der „Herr Lehrer“ gesagt hatte, den starken dicken Buben und verhöhnte ihn: “Gel? Du bist mit Deiner Mama verheiratet!“ Irgendwie musste er erfahren haben, dass die Mutter des starken Buben nicht verheiratet war. Der starke Junge blickte traurig und hatte Tränen in den Augen. Nach dem Abendgebet mussten wir Schlafen gehen. Der starke Bub zog sich vollständig nackt aus und wusch sich beim Waschbecken mit einem Waschlappen. Als wir das sahen, mussten wir alle kichern. Es fielen auch blöde Bemerkungen wegen seiner Figur. Er war gar nicht so stark. Auch er weinte, wie ich in dieser Nacht. Ich vermisste es, allein in einem Zimmer zu schlafen. Es war auch viel zu früh für mich, um diese Uhrzeit ins Bett zu müssen. Zu Hause durfte ich gewöhnlich noch fernsehen und bekam eine heiße Schokolade. Irgendwann schlief ich dann doch ein.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich sehr gespannt auf den ersten Schultag in der neuen Schule. Es hat ein neuer Lebensabschnitt für mich begonnen! Nach dem Frühstück suchten Christoph und ich unsere Klasse, die wir im zweiten Stock fanden. Alle Möbel waren schön und sauber, nicht zerkratzt, so wie in der Volksschule. Die „externen“ Schüler, die mit dem Bus kamen, waren bereits alle in der Klasse. Christoph und ich setzten uns nach hinten. Er sprach gleich die zwei Buben in der vorderen Reihe an und berichtete: “Der eine da vor Dir heißt auch Walter!“ Ich war zu ängstlich, um etwas zu sagen. Nun betrat eine große blonde Dame das Klassenzimmer. Es wurde still und wir mussten aufstehen. Nach der Begrüßung wurde das Morgengebet gesprochen. Sie schrieb ihren Namen auf die Tafel: „Frau Professor Söllinger“. Sie forderte uns auf, ihr in die Kirche zu folgen.

Die kleine Klosterkirche war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nach dem Glockenläuten betraten zehn Patres und zwei Ministranten den Altarraum. So viele Priester um einen Altartisch hatte ich nie zuvor gesehen. Der Direktor Pater Biregger begrüßte die Schüler, vor allem die Neuen. Dann sprach er von einer Sonne im Altarraum. Ich wusste nicht, ob er das große runde Glasfenster an der Decke meinte, von dem Licht auf den Altar strahlte, oder die Jungfrau Maria alias Jesus ohne Bart.

Nach der Messe gingen wir wieder in die Klasse und die blonde Dame teilte die Schulbücher aus. Es klopfte jemand an die Tür, und eine nette Frau betrat die Klasse: “Brigitte, teilst Du heute schon die Schulbücher aus?“ Frau Professor Söllinger antwortete: “Ja, Ulli!“ Die freundliche Lehrerin sagte darauf: “Dann mach ich das bei meiner Klasse auch heute schon!“

Wir waren alle überrascht, als wir am ersten Schultag schon eine umfangreiche Hausübung von Frau Professor Söllinger bekamen. Um elf Uhr entließ sie uns, und wir mussten gleich zu Pater Angleitner in den Studiersaal gehen. Er teilte uns mit, dass wir nun zur „Ausgabe“ von Pater Prinz gehen müssen, um uns Packpapier für das Auskleben unserer Pultladen zu holen. Dort bekamen wir auch weiteres Schulzeug wie bunte Leuchtstifte, Lineale, Hefte usw. Alles, was wir dort holten, wurde auf die Internatsrechnung gesetzt.

 

Danach mussten wir unser Taschengeld bei Pater Köckeis abgeben, der es in einer Eisenkassette verwahrte. Wir konnten es in der sogenannten „Geldausgabe“ wieder bekommen. Nur 25 Schillinge (1 Euro und 80 Cent) durften wir behalten. Nach dem Auskleben der Pultladen mussten wir die Hefte und Bücher einbinden und alles in das Pult einräumen. Diejenigen, die das Pult am schönsten eingeräumt hatten, bekamen nach der Kontrolle von Pater Angleitner Waffel oder Schokolade zum Verdruss der weniger Ordnungsbegabten.

Um 13.05 gab es jeden Tag Mittagessen. Es wurde vor und nach dem Essen gebetet. Jeder bekam einen Platz im Speisesaal zugewiesen. Ich saß am Tisch nahe dem Eingang. Unser „Tischmeister“ war Glas Peter aus der vierten Klasse. Die Aufgabe des Tischmeisters bestand darin, das Essen auszuteilen und für Ordnung zu sorgen. Als disziplinarisches Mittel gab es „Nachschubverbot“. Unser Tischmeister war Gott sei Dank gerecht beim Verteilen des Essens, im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden. Jedem Tisch waren bei den Kühlregalen zwei Boxen mit der jeweiligen Tischnummer zugewiesen, in denen wir unser mitgebrachtes Essen unterbringen mussten. Die überfüllten und schweren Boxen mussten in den großen Pausen von den zugeteilten Schülern auf die Tische getragen werden. Da ging öfters etwas zu Bruch, wie zum Beispiel Flaschen. Zusätzlich gab es für jeden Tisch einen Kasten für Brot und Getränke, wo alles sicher war.

Nach dem Essen wollte ich mich im Zimmer etwas ausruhen und alleine sein. Der Gang zu den Zimmern war versperrt! Auf dem Weg in den Studiersaal sah ich eine hölzerne Telefonzelle in der Aula. Dort stellten sich Schüler an, um zu telefonieren. Als ich mich auch anstellte, kam Pater Angleitner auf mich zu und teilte mir mit: “Walter, die Neuen dürfen im ersten Monat nicht telefonieren!“ Ich verstand nicht, warum das verboten war. Mir kamen die Tränen, weshalb ich wirklich allein sein wollte. Wieder fand ich keinen Platz, wo ich mich zurückziehen konnte. Um Viertel nach vier nachmittags begann die Freizeit. Einige Schüler fragten den Präfekten, ob sie Süßigkeiten einkaufen dürfen. Ich war überrascht, dass es hier mitten am Land ein Geschäft gab. Als Christoph und ich fragten, ob wir auch einkaufen gehen dürfen, sagte Pater Angleitner: “Hab ich nicht schon gesagt, dass die erste Klasse im ersten Monat nicht weggehen und nicht telefonieren darf?“

Als wir um acht Uhr ins Bett gehen mussten und das Licht abgedreht wurde, musste ich wieder weinen. Ich hatte starkes Heimweh. Ich lag lange wach im Bett und konnte nicht einschlafen. Ich fühlte mich, als wäre ich nur hier, weil ich etwas Schlimmes angestellt hatte, wovon ich nichts wusste. Ich hatte das Gefühl, dass ich sehr weit weg von zu Hause war.

Es war wieder morgen, und der Junge namens Guido zog sich an, obwohl es erst sechs Uhr war. Er weckte den vom Heimweh geplagten „starken“ Buben und fragte ihn, ob er mit ihm in die Kirche gehen möchte. Ich überlegte, woher er wusste, dass man hier um halb sieben in die Messe gehen konnte.

An diesem Schultag ging der Unterricht richtig los. In Deutsch schrieben wir schon einen Aufsatz, und in Englisch mussten wir bei der blonden Dame die Hausaufgabe abgeben. Guido und ich machten uns nach dem Unterricht näher bekannt, und am nächsten Morgen ging ich mit ihm in die Kirche. Es war Freitag, und am folgenden Tag werde ich endlich nach Hause fahren. Nach dem Unterricht wurde das Pult wieder kontrolliert, und die Ordentlichsten bekamen wieder Süßigkeiten von Pater Angleitner, und dieses Mal sogar ich. In der Freizeit erzählten Guido und ich einander von zu Hause, und ich wünschte, ich wäre schon dort.

Endlich war Samstag, und es war soweit: Um Viertel nach elf werde ich nach Hause fahren. Wir hatten eine Fahrgemeinschaft mit den Eltern der Schüler aus meinem Heimatdorf. Manchmal fuhren wir auch mit einem Lehrer mit, der aus Pollham war. Daheim, als wir beim Essen saßen, fragten mich meine Eltern, wie es mir in Dachsberg gefällt. Ich überspielte meine Gefühle und antwortete: “Es geht so.“ So wie auf der Karte, die alle am ersten Schultag schreiben mussten, um sie nach Hause zu schicken:

Liebe Eltern und Geschwister!

Es gefällt mir gut hier in Dachsberg. Das Essen ist gut, und das Wetter ist auch recht schön. Mein Klassenvorstand heißt Prof. Brigitte Söllinger, und sie ist sehr nett. Ich komme am Samstag heim.

Euer Walter!


Blick von zu Hause auf Pollham und die Alpen

Nach dem Essen im Kreis der Familie ging ich nach draußen und setzte mich auf die Bank vorm Haus. Ich betrachtete die Blumen, die Bäume, die Wiesen und die Felder. Ich kannte jeden Baum und jedes Detail unseres Gartens. All das schätzte ich erst jetzt, weil ich es nicht mehr jeden Tag sehe. Ständig musste ich daran denken, dass ich am nächsten Tag um sieben Uhr abends wieder in Dachsberg zurück sein muss. Als meine Mutter im Stall die Kühe molk, schilderte ich ihr meine wirklichen Gefühle und weinte. Mama konnte mich gar nicht beruhigen. Ich bat sie, nicht mehr dorthin zu müssen.

Nachts schlief ich in meinem eigenen Bett endlich wieder gut. Am Sonntag war ich die ganze Zeit nervös. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als dass ich um halb sieben wieder wegfahren musste. Diesmal nahm ich viele Packungen Fruchtsaft mit, weshalb meine Tasche sehr schwer wurde. Als wir am Schild „Ausfahrt Schule“ abbogen, wurde mir richtig übel.


Meine Geschwister und ich 1985: Sabine, Walter (ich), Ulli und Thomas

Wir mussten in der zweiten Schulwoche einen Klassensprecher wählen. Nach zwei Wochen kannten wir einander kaum, wodurch diese Wahl keinen Sinn hatte. Dem entsprechend war das Ergebnis: Christof Bauer. Unser Klassenvorstand Frau Professor Söllinger nahm es sehr genau mit dieser Wahl. Wir mussten die Wahlzettel in eine Schuhschachtel mit Schlitz einwerfen. Die Frau Professor machte dann bei den jeweiligen Namen der Kandidaten Striche. In den Folgejahren durften sich nur Schüler mit einem „Sehr gut“ in „Betragen“ aufstellen lassen. Das galt jetzt noch nicht.

Bei einem Fußballspiel Lehrer gegen Lehrer dachte Guido, dass Professor Lehner und Professor Söllinger ein und dieselbe Person wären, und wir stritten deswegen. Beim Mittagessen plauderte ich mit Christoph, als ich schroff gestoppt wurde: “Weinbergmair, sei sofort still!“ Ich erschrak sehr! Pater Prinz marschierte in die Mitte des Speisesaales und begann mit seiner Rede, bei der er jeden Tag Verschiedenes bekannt gab. Seine Anrede mir gegenüber mit „Weinbergmair“ beschäftigte mich etwas. Noch nie zuvor wurde ich mit meinem Nachnamen angesprochen. Nach seiner Rede folgte das Dankgebet, das wie alle anderen Gebete mit dem Satz beendet wurde: „Heiliger Franz von Sales, bitte für uns!“ Am nächsten Tag beim Mittagessen war Pater Prinz witzig angezogen. Er hatte ein sehr altmodisches Hemd mit einem übergroßen Kragen und orange-blauen Streifen an. Dazu trug er eine Hose, die mit Farbe bekleckert war. Beim Mittagessen sagte mir Pater Prinz, dass es in einer höheren Klasse noch einen „Weinbergmair“ gibt. Ich kannte keinen und dachte nicht, dass er zu mir verwandt war.

Pater Prinz gab bekannt, dass an diesem Nachmittag alle Internatsschüler bei der Kartoffelernte arbeiten müssen. Dachsberg hatte einen enormen Bedarf an Kartoffeln. Das Kloster wurde von zehn Patres, neun Mönchen, zwei Klosterschwestern und 96 Internatsschülern bewohnt. Viele auswärtige Schüler, wie auch die meisten Lehrer speisten täglich in Dachsberg. Die Ernte wurde jedes Jahr den Internatsschülern aufgezwungen. Wir schwitzten ganz schön in der Spätsommerhitze. Die Zeit schien endlos, da es sehr eintönig war, ständig nur Kartoffel in die Kübel zu werfen, und das Feld war riesig. Nach der Schinderei gab es wenigstens ein besseres Abendessen als sonst.

Mit der Zeit lernten wir die Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung im Internat kennen. Wir spielten im Freizeitraum Gesellschaftsspiele oder spielten auf den langen Gängen fangen, was verboten war. Im Keller gab es zwei Räume, wo wir Tischfußball spielten. Mich faszinierte, dass dort an der Wand ein riesiger Batman aufgemalt war. Den anderen Raum zierten Mini- und Micky-Maus.

Als Guido und ich nachmittags auf den Weg ins Zimmer waren, kamen uns zwei Zimmerkollegen entgegen, um Pater Angleitner zu holen. Mit ihm kamen noch andere Schüler in unser Zimmer. Der „starke“ Bub Thomas weinte laut und bitterlich in seinem Bett. Er hatte Heimweh und war nicht zu beruhigen. Ihn so zu sehen tat mir sehr leid. Ich hatte mein Heimweh schon etwas überwunden. In der Schule am nächsten Tag begann ich ein Gespräch mit Thomas. Er war sehr nett und lachte sogar, als wir von zu Hause sprachen. Guido verteilte in der Pause „Heimweh-Tabletten“. Die sahen nicht nur aus, sondern schmeckten auch wie „Dixi“ Traubenzucker. Natürlich hatte niemand etwas gegen Medizin, die gut schmeckt, und der Placebo-Effekt zeigte Wirkung.