Estrichgeschichte

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2. Gipsestrich

2.1 Älteste Funde

Der wohl älteste archäologische Fund eines Gipsestrichs [12] findet sich in Catal Hüyük. Catal Hüjük (auch Çatalhöyük oder Chatal-Hayouk) ist eine in der heutigen Türkei ausgegrabene Siedlung aus der Jungsteinzeit. Sie wird auf den Zeitraum zwischen 7500 und 5700 v. Chr. geschätzt. Ihre Blütezeit war um 7000 v. Chr. Die Ansiedlung lag auf der Hochebene Anatoliens und hatte mehrere Tausend Einwohner. Man rechnet sie dem Zentralanatolischen Neolithikum (CAN) zu. Seit 2012 ist Catal Hüyük Teil des UNESCO-Welterbes. [13]


Fundstätte Catal Hüyük. Es handelt sich um Lehmbauten, die innen sowohl einen Gipsputz als auch einen Gipsestrich auf Vorlagesteinen aufweisen (Bild: GNU Ziggurat).


Eine Archäologin legt den Unterbau aus Vorlagesteinen des Gipsestrichs von Catal Hüyük frei (Bild: Alamy).

2.2 Baustoff Gips, historisch

Gips, geologisch auch Gipsspat genannt, ist ein sehr häufig vorkommendes Mineral aus der Mineralklasse der Sulfate mit der chemischen Formel Ca[SO4]·2H2O. Wird Gipsstein erhitzt, geht das Kristallwasser verloren. Es entsteht zuerst ein Hemihydrat (auch Halbhydrat, gebrannter Gips bzw. Bassanit genannt) mit der chemischen Formel Ca[SO4]·½ H2O. Bei weiterem Wasserverlust entsteht schließlich Anhydrit CaSO4. Durch Zugabe von Wasser läuft der Vorgang rückwärts, und es bildet sich wieder Gips Ca[SO4]·2H2O.

Die damaligen Menschen haben das durch Erfahrung gelernt. Sie könnten Gipssteine um ein Feuer gelegt haben. Am Tag darauf haben sie dann festgestellt, dass sich die Steine leicht zu einem Pulver zerschlagen lassen. Wenn es dann geregnet hat, ist dieses Pulver wieder zu einem Stein erhärtet. Sie haben auch erkannt, dass das Pulver von Steinen, die näher am Feuer lagen und dadurch stark erhitzt wurden, sehr langsam, oft erst nach Tagen, wieder erhärtete. Der Stein wurde dadurch aber sehr hart. Das Pulver von Steinen, die weiter weg vom Feuer lagen, erhärtete sehr schnell, blieb dafür aber ziemlich weich. [7]

Im Laufe der Zeit beherrschte man diese Vorgänge immer besser. Man unterschied entsprechend der Brenntemperatur Produkte mit stark unterschiedlichen Eigenschaften.

Der Hochbrandgips, gebrannt bei Temperaturen bis 900 °C, eignet sich besonders für stark beanspruchte Bauteile, also auch für Estriche, da er sehr hart wird. Er hat aber den Nachteil, dass er Tage braucht, um zu erhärten. Hochbrandgips, grob gemahlen und mit wenig Wasser angemacht, wurde nicht nur für Estriche, sondern auch als Mauermörtel verwendet.

Zum Verputzen von Wänden kann man den schnell erhärtenden Stuckgips verwenden, der eher weich ist.

Auch Außenputze sind noch bis ins 19. Jahrhundert (Frankreich) damit hergestellt worden.

Diese Verfahren haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Mit unterschiedlichen Brennverfahren lässt sich Gips, bzw. die einzelnen Phasen des Gipses, mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften mittlerweile gezielt herstellen.

2.3 Estrichherstellung mit Gips, historisch

In der Regel wurde der Estrich ca. 4 cm dick auf einer Sandschüttung oder einer Steinvorlage verlegt. Das Problem war, dass die Erhärtung von Estrichgips Tage dauerte, da Anreger noch nicht bekannt waren. Durch Trocknung (während der Abbindung) schwindet der Estrich und bekommt Risse. Nach ca. einem Tag (oder länger) wurde er mit einem Stampfer oder Schlegel so lange geschlagen, bis die Risse geschlossen waren und die Oberfläche wieder feucht wurde. [7] Danach wurde die Oberfläche mit Stahlkellen, Stahlklingen, Messern, Ziehklingen oder Hobeln abgezogen, gehobelt und geschliffen.


Schlegel zum Schlagen des Gipsestrichs (Bild: Böhl nach einer Darstellung von Rolf Wihr). [7]

Trotz der schweren Verarbeitung entstanden Kunstwerke. Man unterschied bei der Herstellung von dekorativem Gipsestrich, abgesehen von der Bemalung, die schon bei den Ägyptern bekannt war, zwei Verfahren: die Inkrustationstechnik und die Skagliolatechnik.

Inkrustationstechnik

Bei der Inkrustationstechnik werden im noch nicht ganz oder im bereits erhärteten Estrich Muster ausgekratzt. Diese werden später mit anders eingefärbtem Gips wieder ausgefüllt. Die Einfärbung konnte man mit Ziegelmehl oder Holzkohle herstellen. Später wurden auch andere Pigmente verwendet. Noch erhaltene Schmuckböden dieser Art aus dem 12. bis 13. Jahrhundert finden sich z. B. in Hildesheim, Helmstedt, Erfurt, Isenburg und Quedlinburg. [7]


Gipsestrich aus Hochbrandgips in Inkrustationstechnik, Stiftskirche Bassum 13. Jahrhundert (Bild: Evangelische Kirchengemeinde Bassum).

Die Böden wurden meist auf eine kapillarbrechende Steinvorlage auf dem Baugrund verlegt. Es gibt aber auch Funde mit einer Sandbettung.


Inkrustationstechnik, Klosterkirche Isenburg; 12. Jahrhundert (Bild: Denkmalpflege Mühlhausen Huschenbeth GmbH & Co. KG).


Gipsestrich von unten. Man erkennt die Verlegung auf eine Steinvorlage. Es finden sich aber auch ein Nagel sowie Getreide und Holzstücke (Bild: Denkmalpflege Mühlhausen Huschenbeth GmbH & Co. KG).

Skagliolatechnik

Die Skagliolatechnik entstand im Zeitalter des Barock (1575 – 1770). In Italien werden diese Böden auch Marmorino genannt. Der Begriff Kunstmarmor ist zwar zutreffend, da man früher Marmor damit preisgünstig imitieren konnte. Heute ist das allerdings nicht mehr so. Gipsböden in Scagliolatechnik sind so ziemlich das Teuerste, was man heute finden kann. Die Herstellung ist auch eine ganz besondere Kunst. Der Scagliola-Boden kann es sicher nicht mit der Verschleißfestigkeit und Beständigkeit von Marmor aufnehmen. Er hat jedoch eine ganz besondere, schmeichelnde und warme Haptik.


Kombination von Inkrustationstechnik und Skagliolatechnik. Fußboden im Spielzimmer des Faforite Schlosses in Rastatt. Kunstgeschichtlich werden solche Darstellungen von scheinbar zufällig herumliegenden Dingen wie dem Schachbrett und den Spielkarten als „ungekehrter Boden“ bezeichnet. Man beachte auch die Kakerlake (unten rechts) und den Schmetterling (rechter Rand) (Bild: Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg).

Diese Böden werden mit einem hohen Anteil von Pigmenten eingefärbt. Aus der Mischung aus Gips und Pigmenten formt man Knödel oder kleinere Riebeln, indem man die Masse durch ein grobes Sieb drückt. Die Knödel und Riebeln von unterschiedlicher Einfärbung werden so miteinander gemischt, wie die spätere Farbwirkung gewünscht wird. Einzelne Knödel können auch mit einer Mischung aus Gips und Pigmenten gewälzt (paniert) werden. Dadurch entstehen dünne Adern, wie sie auch beim Naturstein vorkommen.

Die Masse wird dann zu einer Art länglichem „Brotlaib“ zusammengeschoben und fest zusammengedrückt. Dabei kann man den Laib auch flach drücken oder verdrehen. Von diesem Laib schneidet man dann mit einem Messer, Draht oder Blech Scheiben in der gewünschten Estrichdicke ab. Diese Scheiben werden nebeneinander auf die Sandschüttung oder eine Unterschicht verlegt. Dabei verschmiert das beim Abschneiden zunächst noch sichtbare Muster.

Das Muster kommt wieder zum Vorschein, wenn die Oberfläche abgehobelt, geschliffen und poliert wird. Die Oberfläche wird dann in mehreren Arbeitsgängen mit Leinöl eingelassen und schließlich gewachst. [7]


Mischen von Gips und Wasser (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Pigmente (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Der Gips wird mit Pigmenten vermischt (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Anschließend werden aus der Gipsmasse „Knödel“ geformt (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Die „Knödel“ werden zum gewünschten Muster zusammengesetzt. Dann wird daraus ein länglicher Klumpen in der Form eines Brotlaibs geformt und fest zusammengedrückt (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).

 

Von dem Klumpen werden Scheiben in der gewünschten Estrichdicke abgeschnitten (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Die Scheiben werden nebeneinander auf den Untergrund aufgelegt. Das Muster wird dabei verschmiert (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Die Oberfläche wird nach der Erstarrung mit Hobeln, Ziehklingen usw. abgezogen. Dabei erscheint das Muster wieder. Anschließend wird geschliffen und der Boden in mehren Arbeitsgängen mit Leinöl und Wachs eingelassen (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Bei alten Gipsestrichen sieht man häufig eine Streifenausbildung am Rand. Das erfolgte ursprünglich nicht aus Gründen der Dekoration, sondern hatte technische Gründe. Da das Quellen des Gipses bei den früheren Brennmethoden nicht voraussehbar war, hat man Streifen ausgespart und später ausgefüllt (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Das fertige Werk im Palazzo Quirinale, Rom (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).


Skagliolaestrich (Detail) (Bild: Maurizio Feliziani Skagliola).

2.4 Schmuckfußböden aus Hochbrandgips im 19. Jahrhundert

Mit dem Barock und Rokoko war die Ära der Schmuckfußböden aus Gips nicht zu Ende. Auch im Klassizismus wurden solche Böden ausgeführt. Teilweise in Kombination mit Natursteinplatten, Mosaik und als Terrazzo. Ein gutes Beispiel dafür ist das Neue Museum in Berlin. Das zwischen 1843 und 1855 errichtete Gebäude gilt als Hauptwerk des Architekten und Schinkel-Schülers Friedrich August Stüler.


Gipsboden im Neuen Museum in Berlin nach der Restaurierung. Auch die berühmte Büste der Nofretete in der Bildmitte ist aus Gips (Bild: bpk/Achim Kleuker).

2.5 Gipsestrich im Wohnungsbau bis in die 60er-Jahre

Estrichgips wird bis zur völligen Entwässerung gebrannt (Hochbrandgips) und mit Halbhydrat gemischt. In den 50er- und 60er-Jahren gab es einige Gipswerke, die Estrichgips durch Brennen produzierten. Es waren sicher unter anderem folgende Gipswerke: Gebrüder Knauf, Perllit und Glättperllit als Gehschicht. Walkenrieder Gipsestrichfabrik, Albrecht Meier & Co. (Harz). Anmerkung: Diese Gipswerke konnten vom Autor während seiner Manuskripterstellung leider nicht weiter überprüft werden.

Im Gipswerk Entringen wurde bis 1979 noch DIARA-Estrich-Gips hergestellt.


Werbung für DIARA-Estrich-Gips im Jahre 1965. Produziert wurde im Gipswerk Entringen bis 1979.

2.6 Verlegung von Gipsestrich in den 30er- bis 60er-Jahren

Nachstehende Beschreibung ist auszugsweise einer Arbeit des Instituts für Bauforschung e. V. Hannover entnommen („Der Fußboden“, bearbeitet von Gerhard Braun, Bauverlag GmbH, Wiesbaden, 1960). [13] Dieses Werk ist eine umfassende Zusammenstellung der damaligen Fußbodentechnik.

Im allgemeinen wird auf die vorhandene Bodenkonstruktion zunächst eine Lage Sand in 2 bis 3 cm Dicke aufgebracht. Zweckmäßigerweise ist der Sand anzufeuchten, um zu verhindern, dass allzu trockener Sand dem Estrichgips das Wasser zu schnell entzieht. Bei Deckenkonstruktionen, bei denen ein Abrieseln des Sandes zu erwarten ist, z. B. Holzkonstruktionen, muss eine gut überlappende Pappe ausgelegt werden.

Die nachfolgenden Abbildungen stammen ebenfalls aus diesem Buch.


Das Mischen des Gipsestrichs erfolgte meist direkt an der Einbaustelle durch Durchschaufeln (Bild aus „Der Fußboden“, bearbeitet von Gerhard Braun, 1960).


Abziehen des Gipsestrichs auf einer Sandschicht (Bild aus „Der Fußboden“, bearbeitet von Gerhard Braun, 1960).


Verdichten des Gipsestrichs (Bild aus „Der Fußboden“, bearbeitet von Gerhard Braun, 1960).


Anfeuchten der Unterschicht (Bild aus „Der Fußboden“, bearbeitet von Gerhard Braun, 1960).


Zweischichtiger Gipsestrich (Bild aus „Der Fußboden“, bearbeitet von Gerhard Braun, 1960).


Aufbringen und glätten der Gehschicht (Bild aus „Der Fußboden“, bearbeitet von Gerhard Braun, 1960).

Um eine wohnfertige Oberfläche zu erhalten, wurde eine zweite Schicht, eine sogenannte Gehschicht, von 5 bis 10 mm Dicke aufgebracht, die häufig mit Eisenoxidpigmenten eingefärbt wurde. Diese Schicht wurde meist frei Hand ohne die Verwendung von Lehren aufgetragen. Nach kurzem Ansteifen wird die Fläche geglättet. Nach der Trocknung wurden direkt begehbare Gipsestriche mit Leinölfirnis getränkt und danach gewachst.

2.7 Steinbrückboden

Eine Variante der Gipsestrichverlegung stellte der „Steinbrückboden“ dar, der in den 30er-Jahren patentiert wurde. Dabei wurden in den feuchten Sand kasettenartig Rillen eingedrückt. Dadurch entstanden beim darauf verlegten Estrich Verstärkungsrippen, die einerseits die Bruchsicherheit des Estrichs erhöhen und andererseits die Sandbettung einfassen sollten, um ein Verrieseln zu verhindern.


„Steinbrückboden“ – Rippensystem (Systemskizze) (Bild aus „Der Fußboden“, bearbeitet von Gerhard Braun, 1960).

2.8 Gipsestrich, Anhydritestrich

Gipsestrich aus gebranntem Gips und Hochbrandgips, gemischt mit Halbhydrat, gab es noch vereinzelt bis in die 70er-Jahre (z. B. DIARA von den Stuttgarter Gipswerken bis 1979). Estrichgips, der durch das Brennen sein Wasser verloren hat, ist eigentlich nichts anderes als natürlicher Anhydrit. Sulfatisch angeregter Anhydritbinder (Leukolith) wurde bereits ab 1922 in der Umgebung von Berlin als Baustoff eingesetzt. [14]

Mit natürlichem Anhydrit als Estrichbindemittel konnte man Anfang der 50er-Jahre noch nicht richtig umgehen. [15] In der ehemaligen DDR schreibt Eichler 1952 in der „Schriftenreihe des VEB Verlags Technik Band 68“ nur ganz kurz:

Soll Anhydrit verlegt werden, so gelten die gleichen Ausführungsregeln wie für Gipsestrich. Empfohlen wird jedoch eine Gesamtstärke nicht unter 50 mm. Die Erfahrungen, die der Verfasser mit basisch und sulfatisch angeregten Anhydrit-Estrichen bei zahlreichen Versuchen gemacht hat, berechtigen leider nicht dazu, diese Ausführung zu empfehlen.

Das muss sich in der ehemaligen DDR schnell und radikal verändert haben. Schon 1955 beschreibt Eichler die Anhydritbinder Rowid und Pyramid als zwar mit eher nachteiligen Eigenschaften behaftet, aber durchaus brauchbar. Der damals neu entwickelte, kombiniert angeregte Leunit von den Leunawerken wird aber sehr gelobt:

Der neue Leunafußboden ist in letzter Zeit immer mehr verbessert worden. Seine Unterschicht kann stark mit Sägespänen und Hobelspänen versetzt werden. Auch als schwimmender Estrich ist der Leunaboden mit Erfolg eingesetzt worden.

Fortan entwickelte sich Anhydritestrich in der ehemaligen DDR zum dominierenden Estrichmaterial.

In der Bundesrepublik wurde für schwimmende Estriche ab 1958 synthetischer Anhydrit als Sekundärprodukt der Flusssäureherstellung verwendet. Anbieter sind die Farbenwerke Bayer AG, Leverkusen. Die Firma Bayer richtete dazu den Geschäftsbereich Anhydit-Bayer ein, der 2004 zu Lanxess wurde. Ein weiterer Anbieter zum Beginn der Entwicklung ist die Firma Reimers. Synthetischer Anhydrit bewährte sich für Estriche von Anfang an.

Natürlicher Anhydrit kam in der Bundesrepublik bis in die 80er-Jahre als Estrichbindemittel kaum zum Einsatz. Die Firmenchronik der Firma Knauf [17] berichtet, dass Karl Knauf und Bruno Wandser schon Anfang der 50er-Jahre an einen Anhydrit-Sand-Estrich dachten. Von 1957 an wurde von Knauf auch ein Anhydritestrich aus Naturanhydrit, der in Hüttenheim unter Tage abgebaut wurde, unter dem Namen ISOVAG vertrieben. Dieser erlangte aber nur regionale Bedeutung. Der Martktanteil des Anhydritestrichs aus Naturanhydrit blieb in der Bundesrepublik eher sehr gering. Der Durchbruch kam erst mit dem Fließestrich Mitte der 80er-Jahre und vor allem nachdem nach der Wiedervereinigung die Erfahrungen der ehemaligen DDR einflossen.


Werbung für synthetischen Anhydrit von Bayer 1965. Manche der Werbeaussagen sollte man heute besser nicht ganz so wörtlich nehmen. (Bild: aus Schütze, „Der schwimmende Estrich“, Bauverlag, 1965)

2.9 Anreger

Der wesentlichste Fortschritt ist der Einsatz von Anregern. Ohne dieses Hilfsmittel wäre die bautechnische Anwendung nicht denkbar. Man errinnere sich an die beschriebene Verarbeitung von Hochbrandgips, der mehrere Tage bis zur Erhärtung brauchte, zwischenzeitlich trocknete und Risse bekam, die durch Stampfen oder Schlagen wieder geschlossen werden mussten.

Als Anreger dienen Sulfate der Alkali- und Schwermetalle, Hydrogensulfate, Weißkalkhydrat, CEM I, CEM III und Hüttensand. [18]

Da der Abbindechemismus über das Löslichkeitsprodukt läuft, wird die Lage des Gleichgewichts durch jeden löslichen Zusatz im Mörtel verschoben. Die Folge ist, dass keine geschlossene Theorie möglich ist. Bei der Produktentwicklung ist deshalb ein hoher experimenteller Aufwand erforderlich.

2.10 Kuriosum: Gipser verarbeiten Gips, Estrichleger verarbeiten Calciumsulfat

Bereits Ende der 50er-Jahre hat sich der Begriff „Anhydritestrich“ durch den in dieser Zeit auf den Markt kommenden synthetischen Anhydrit etabliert. Im Zuge der Normungsarbeit an der DIN 18560 in den 70er-Jahren hat man schließlich den Begriff „Calciumsulfatestrich“ gewählt. Chemisch ist Anhydrit und Hochbrandgips ja eigentlich dasselbe. Das hat auch nicht wirklich technische Gründe, sondern eher verbandspolitische. Damals wurde das Phänomen hochemotional diskutiert. Stuckateure durften nach der Handwerksordnung Gipsestrich verlegen. Dann konnten Estrichleger natürlich Gipsestrich (Anhydritestrich) nicht Gipsestrich nennen, sondern mussten eine andere Bezeichnung finden.

Handwerksrechtlich hat sich diese Diskussion mittlerweile erübrigt. Das Kuriosum ist geblieben. Stuckateure verarbeiten Gips. Estrichleger verarbeiten Calciumsulfat. Man hat sich daran gewöhnt. Manche Estrichleger muss man allerdings gelegentlich daran erinnern, dass Calciumsulfat eben nun mal Gips ist und nur in trockener Umgebung verlegt werden darf.

 

Eventuell dient es dem beseren Verständnis, wenn man genauer betrachtet, welche Formen Gips annehmen kann. [19] In Abhängigkeit von den Rohstoffen und vor allem den Brennbedingungen entstehen im Herstellungsprozess verschiedene Modifikationen des Gipses und des Anhydrits, die auch als Phasen bezeichnet werden. Leistung und Know-how der Gips herstellenden Unternehmen bestehen u. a. darin, die verschiedenen Phasen zielgenau in optimaler Art und Menge zu erzeugen und zu Bindemitteln mit exakt definierten Eigenschaften zu mischen. Das war früher noch nicht so genau möglich, da meistens undefinierte Mischformen vorlagen, die die Verarbeitung erschwerten.


Umwandlung des Gipses beim Brennen (Bild: In Anlehnung an eine Darstellung aus einem Vortrag von Dieter Altmann).

Gips und Anhydritphasen [19]

 Calciumsulfat-Dihydrat (CaSO4·2H2O) Natürliches Gipsgestein, auch Rohgips genannt, besteht als Ausgangsstoff der Gipsherstellung aus Calciumsulfat-Dihydrat; ebenso der in technischen Prozessen gewonnene Gips, z. B. REA-Gips. Gleichzeitig liegen alle abgebundenen Endprodukte als Dihydrat vor, also beispielsweise Gipsplatten, Gips-Wandbauplatten, Gipsputze und -spachtelmaterialien. Die Übereinstimmung von Ausgangsstoff und Endprodukt ist eine der Besonderheiten von Gipsbaustoffen.

 Calciumsulfat-Halbhydrat (CaSO4·½H2O)Calciumsulfat-Halbhydrat entsteht im Brennprozess des Gipses, der auch „Kalzinieren“ genannt wird. Technisch relevant sind zwei unterschiedliche kristalline Formen: α- und β-Halbhydrat, die unterschiedliche physikalische Eigenschaften bei gleicher chemischer Zusammensetzung haben. α-Halbhydrat-Gips wird unter Druck in Autoklaven bei Temperaturen im Bereich von 100 °C bis 150 °C hergestellt. α-Halbhydrat bildet einen sehr harten Gips und dient zur Herstellung von Estrichgips. Vor allem in Großkochern und kontinuierlich zu beschickenden Drehrohröfen wird β-Halbhydrat bei Temperaturen von etwa 120 °C bis 180 °C gewonnen

 Anhydrit III (CaSO4)Anhydrit III wird auch als löslicher Anhydrit bezeichnet. Er existiert ebenfalls in zwei Formen, die als α- und β-Anhydrit III bezeichnet werden. Er entsteht im Brennprozess durch weitere Entwässerung des Halbhydrats bereits bei Temperaturen ab 100 °C.

 Anhydrit II (CaSO4)Anhydrit II entspricht in seiner chemischen Zusammensetzung dem natürlich vorkommenden Anhydrit. In der industriellen Produktion entsteht das Material bei der vollständigen Entwässerung von natürlichem oder technisch entstandenem Dihydrat, Halbhydrat oder Anhydrit III. Die Umwandlung zu Anhydrit II beginnt unter Laborbedingungen bei 200 °C, die Bildungstemperatur im technischen Prozess liegt bei 300 °C bis 900 °C. Es wird deshalb auch von Hochbrand-Gips gesprochen, der sich nach der Brenntemperatur und Reaktionsfreudigkeit mit Wasser in drei Varianten unterscheiden lässt: Anhydrit IIs ist schwerlöslich und entsteht unterhalb von 500 °C, das unlösliche Anhydrit IIu bildet sich zwischen 500 °C und 700 °C. Darüber entsteht Anhydrit IIE Estrichgips.

 Anhydrit I (CaSO4) Werden die Brenntemperaturen noch weiter erhöht, bildet sich ab etwa 1180 °C Anhydrit I, das historisch auch als „totgebrannter Gips“ bezeichnet wurde.

 Mehrphasengips Moderne Brenntechnik und die genaue Kenntnis der ablaufenden Prozesse erlauben heute in Rostbrandöfen oder Trägergas-Brennanlagen die Herstellung von Mehrphasengips, bei dem die verschiedenen Phasen in den jeweils gewünschten Anteilen schon beim Kalzinieren entstehen.

2.11 Bindemittel für Calciumsulfatestriche heute

[19] Heute besteht das Bindemittel für Calciumsulfatestriche überwiegend aus reaktiven CaSO4 -Phasen in Form von Anhydrit aus natürlichen Vorkommen oder aus technischen Prozessen wie der Rauchgasentschwefelung (thermischer Anhydrit) und Flusssäureherstellung (synthetischer Anhydrit). Es liegt aber auch in Form von CaSO4·½H20 bzw. Mischungen verschiedener Ca-SO4 -Phasen vor. Diesem Binder, der mindestens 85 % CaSO4 enthalten muss, können Zusatzmittel wie Anreger, Verzögerer oder Fließmittel zugesetzt sein.

Daneben gibt es heute auch Mischungen mit anderen Bindemitteln, sogenannte Compositbinder (Compoundbinder). Diese bestehen aus dem CaSO4 -Binder und Zusatzstoffen wie Puzzolanen, Kunstharz oder Zement. Der CaSO4 -Anteil der Compoundbinder muss mindestens 50 % betragen.

2.12 Fließestrich

Der Calciumsulfatfließestrich wurde Ende der 60er-Jahre durch Emil Höllfritsch entwickelt. Höllfritsch meldete im Zusammenhang mit dieser Idee eine große Zahl von Patenten an. Diese betreffen auch Hohlraumböden, Nivellierlehren und andere Hilfsmittel im Zusammenhang mit Fließestrichen. Der richtige Durchbruch stellte sich ab 1970 durch die Entwicklung eines Melaminharzverflüssigers der Süddeutschen Kalkstickstoffwerke (SKW) in Trostberg ein. Hierüber finden sich mehrere Patente aus den Jahren 1970 bis 1971.


Werbung der Firma Bayrisches Duramentwerk, Vollmann & Höllfritsch (Bild: Anzeige aus Schütze „Der schwimmende Estrich”, 1965)

Man sollte meinen, dass die Estrichleger über diese Arbeitserleichterung glücklich gewesen wären und sie begeistert eingesetzt hätten. Der Markt nahm die Erfindung von Höllfritsch aber nicht gerade mit großer Begeisterung, sondern sehr zurückhaltend, eher skeptisch auf. Erst 1982 konnte man allmählich von einer breiteren Anwendung sprechen.


Fließestrichmaschine 1981 an einer Baustelle der Firma Walter E. Kramer Fußbodenwerk in München. Der Mischer ist ein Freifallmischer, der in eine Exzenterschneckenpumpe entleert wird (Bild: Innung Estrich und Belag Wüttemberg).

Erst 1981 machte die Estrichlegerinnung Württemberg eine Exkursion nach München, um sich über diesen neuartigen, selbstverlaufenden und selbstglättenden, aber noch weitgehend unbekannten Estrich zu informieren. Dort erklärte Roland Schmidtchen von der Firma Kramer die Geheimnisse des Fließestrichs. Die Verwendung eines Freifallmischers wurde dadurch erklärt, dass damit weniger Luft in die Mischung geschlagen wird. Auch dem Ausschütten in die Pumpe wurde eine Entlüftung zugesprochen.


Roland Schmidtchen (Bildmitte) von der Firma Kramer in München erklärt im Jahr 1981 Estrichlegern aus Baden Württemberg, wie Fließestrich funktioniert. Schmidtchen war langjähriger Obmann des Arbeitskreises Sachverständige im BEB und Begründer der Sachverständigentagung (Bild: Innung Estrich und Belag Wüttemberg).

2.13 Anhydrit-Fließestrich in der ehemaligen DDR

1972 erhielten das Institut für Baustoffe, Weimar, und die Bauakademie der Deutschen Demokratischen Republik den Auftrag, einen Fließestrich zu entwickeln.

In diese Entwicklungsarbeit waren eingebunden: die Leuna Werke „Walter Ulbricht“, das Gipswerk Niedersachswerfen, die Fluor-Werke Dohna und die Stickstoffwerke Piesteritz, die den Verflüssiger „Viskomin“, ein sulfitmodifiziertes Melaminharz, entwickelten.

Die Einführung des Calciumsulfatfließestrichs in der ehemaligen DDR geschah im Gegensatz zur Bundesrepublik außerordentlich heftig, wie man an nachstehender Statistik zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung erkennen kann. An der Intensität dieser „Überleitung“ genannten Markteinführung kann man auch den Unterschied der Wirtschaftssysteme erkennen.


Marktdurchdringung von Calciumsulfatfließestrich im Jahre 1989 (Bild: Walter Böhl, Daten: Heinz-Dieter Altmann)



Am 30. 11. 1975 berichtete „Neues Deutschland“ über einen Vortrag von Paul Straus (Mitglied des Zentralkomitees der SED) auf der 16. Tagung des Zentralkomitees, in dem er neben vielen anderen Punkten auch über die „Überleitung“ (wir würden heute Markteinführung sagen) eines freifließenden Anhydritestrichs referierte (Bild: Archiv Neues Deutschland).

Die Technologie des Einbaus von Fließestrich hinkte der Entwicklung etwas hinterher. [20] Zunächst griff man auf die Faßtechnologie zurück, die von anderen Materialien bekannt war. Dabei wurden Wasser, Plastifikator, Anhydritbinder und Sand zunächst in den zu belegenden Raum geschafft, in einem Faß gemischt und ausgegossen. Mit der Einführung des Verfahrens im Jahr 1975 wurden Membranpumpen (Steinacher Pumpe), kombiniert mit einem Freifallmischer, eingesetzt.


„Faßtechnologie“ (Bild: Heinz-Dieter Altmann).


Fließestrichmaschine in der ehemaligen DDR, Freifallmischer mit Steinacher Pumpe MMPH 3 (Membranpumpe, Förderleistung ca. 4 m3/h) (Bild: Heinz-Dieter Altmann).

Die großen Baukombinate nutzten später die polnische Pumpe AT 60, ebenfalls eine Membranpumpe, die mit einem 250 l- oder auch 500 l-Freifallmischer kombiniert wurde. Die Förderleistung lag bei 6 m3/h. Somit waren damit Tagesleistungen bis zu 700 m2 möglich.

In der ehemaligen DDR wurden nur Baustellenmischungen hergestellt. Wasser, Plastifikator, Anhydritbinder und Sand wurden an der Baustelle gemischt. Der Anhydritbinder wurde bis zu 80 % als Siloware geliefert. Ein Problem stellte die Dosierung dar. Die Betriebe mussten sich mit Volumen-Markierungen an den Maschinen behelfen.


Dipl.-Chem. Heinz-Dieter Altmann war an der Entwicklung des Fließestrichs in der ehemaligen DDR wesentlich beteiligt. Altmann war später als Sachverständiger tätig und leitete viele Jahre den Arbeitskreis Sachverständige im BEB (Bild: boden wand decke).

Der Mangel an verfügbarer Technik war so erheblich, dass die Bauakademie der ehemaligen DDR in der Broschüre „Einsatz von Fließanhydrit bei Instandsetzungs- und Modernisierungsmaßnahmen“ selbst im Jahr 1984 noch auf die Faßtechnologie verwies. Trotz der Mängel an technischen Möglichkeiten erreichte der Anhydritfließestrich in der ehemaligen DDR mit 85 % die absolute Marktdominanz. 75 Mio. Kubikmeter wurden auf diese Art und Weise hergestellt.

Der überwältigende Marktanteil der Calciumsulfatfließestriche in der ehemaligen DDR konnte sich im wiedervereinigten Deutschland nicht halten. Allerdings hatten die Erfahrungen aus der ehemaligen DDR wesentlichen Einfluss auf die ab der Wiedervereinigung rasante Verbreitung des Fließestrichs. Man muss sich noch einmal erinnern: Zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung lag der Marktanteil des Calciumsulfatfließestrichs in der Bundesrepublik gerade einmal bei 3 %.



Titelblatt der TGL 35826. TGL waren die Technischen Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen der ehemaligen DDR (Bild: Archiv Bauhausuniversität Weimar).

2.14 Misch- und Fördertechnologie von Calciumsulfatfließestrich heute

Zum Erfolg des Calciumsulfatfließestrichs hat neben der rationellen und ergonomischen Verlegung auch die Entwicklung der Misch- und Fördertechnologie an der Baustelle beigetragen. Man kann den Estrichmörtel als Trockenmörtel im Silo oder als Frischmörtel von Betonwerken an die Baustelle liefern lassen.

Im Jahr 1986 wurde von der Firma Spaansen in den Niederlanden das erste Mixmobil für Fließestrich entwickelt und eingesetzt. Damit wurde es möglich, den Estrich an der Baustelle vollautomatisch zu mischen.


Verlegen eines Calciumsulfatfließestrichs (Bild: Lanxess).


Fließestrichmaschine (Bild: Putzmeister).


Calciumsulfatfließestrich aus dem Fahrmischer (Bild: Lanxess).


Das erste Mixmobil für Calcumsulfatfließestrich 1986. Gebaut und eingesetzt von der Firma Spaansen, Niederlande (Bild: Heinz-Dieter Altmann).

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?