Bookwire #7

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Wenn man den Nachrichten Glauben schenken wollte, war dies das Werk der Sonnenflares. Jasmin allerdings war den wissenschaftlichen Aussagen gegenüber kritisch gestimmt. Sie war der Überzeugung, Sonnenflares könnten elektronische Geräte außer Gefecht setzen und wären schädlich für die Haut – aber den Himmel erhellen, das war ihr neu. Dazu kam, dass es ja nun auch während der Nachtstunden hell war, obwohl die Sonnenflares zur Nachtzeit gleich wie die Sonnenstrahlen hinter der Erdkugel versteckt sein müssten. An der Geschichte war eindeutig etwas faul.

Rechts neben ihr gab es nun aber doch Bewegung. Ein etwas älter wirkender Mann in blauem Anzug und weinroter Kommandantenmütze auf dem kahl rasierten Schädel kam durch das Abteil geeilt. Er blieb vor dem Mann stehen, der neben Jasmin saß. Seine Augen schweiften nur flüchtig über Jasmins Profil, dann sagte er in scharfem Flüsterton: »Stabsoffizier Kanda, die Lage hat sich geändert. Wir steigen in Tokio in die Maboroshi-Line um. Im Untergrundsitz wartet Mr. Cadec mit der amerikanischen Delegation auf uns.« Er schielte nochmals kurz zu Jasmin herüber, als ob er prüfen wollte, ob sie etwas aufgeschnappt hatte. Doch wie so viele Japaner glaubte er offensichtlich, dass eine blonde Ausländerin der japanischen Sprache kaum mächtig sein konnte. Damit hatte er unrecht, doch das war Jasmin mittlerweile egal. Sie hatte es aufgegeben, den Japanern klar zu machen, dass ihre Sprache grammatikalisch gesehen eine der einfachsten der Welt war und jeder sie lernen konnte.

»Den Rest wissen Sie. Erstatten Sie den Unteroffizieren unverzüglich Bericht«, fügte der Mann schließlich hinzu.

»Jawohl, Herr Kommandant«, antwortete Stabsoffizier Kanda, und beide tauschten eine salutierende Geste aus. Der Kommandant drehte sich auf dem Absatz um und hastete zurück in das Abteil, aus dem er gekommen war. Stabsoffizier Kanda erhob sich und schritt in das gegenüberliegende Abteil.

Jasmin hatte noch nie von einer Maboroshi-Line gehört, geschweige denn von einer solchen in Tokio. Maboroshi bedeutete Phantom oder Illusion in der japanischen Sprache. Sie hatte schon von geheimen Untergrundlinien gelesen, die nur dem Staatswesen vorbehalten sein sollen. Wenigstens hieß dies, dass es sich vermutlich nicht um einen fatalen Ausbruch des Fuji-san handelte, wenn die Soldaten alle nach Tokio fuhren. Jasmin zückte ihr Smartphone ein weiteres Mal aus ihrer Tasche und schrieb Masayuki eine kurze Nachricht: »In zehn Minuten bin ich da.« Wenige Augenblicke später kam ein: »Cool! Ich warte bei der Bushaltestelle auf dich«, und ein grinsender Smiley zurück.

Als der Schnellzug am Bahnhof Shizuoka ankam, war Jasmin froh, dass sie der sich in Tristesse suhlenden Männerhorde endlich entfliehen konnte. Stabsoffizier Kanda war noch immer nicht zurückgekehrt, doch das interessierte sie jetzt nicht mehr. Durch die Barrieren rennend und mit einem etwas steifen Rücken entdeckte sie an einer Zeittafel der Busstation lehnend den hochgewachsenen und sonnengebräunten Masayuki mit seinen zum Kamm aufgestellten blondgefärbten Haaren schon von weitem. Sie fielen einander mit einem herzlichen Aufprall in die Arme. Masayuki streichelte sanft über ihr leicht welliges, heute luftgetrocknetes Haar.

»Ich habe dich vermisst«, schnurrte Jasmin zärtlich.

»Ich dich auch – das kannst du mir glauben. Und, bereit für ein Abenteuer nur für uns zwei?«

Im Bus setzten sie sich in die hinterste Reihe. Eine Gruppe junger Leute, die vor allem aus Pärchen nicht japanischer Abstammung zu bestehen schien, stieg nach und nach in das Fahrzeug ein. Ein Zweiergespann, das sich eine Reihe vor ihnen niedergelassen hatte, war dem englischen Akzent zufolge amerikanischer Herkunft: der Mann hatte kurzes, blondes Haar und einen dichten Dreitagebart, die Frau dagegen dunkle Haut und seidige, kastanienrote Locken. Ein weiteres Pärchen sprach Deutsch, soweit Jasmin ihren Sprachkenntnissen trauen konnte. Der Mann jenes Paares schien arabische Wurzeln zu haben, und seine Partnerin hatte südostasiatische Gesichtszüge. Der Bus holperte mittlerweile eine steile Waldstraße entlang.

»Echt schön, dich zu sehen«, erfreute sich Masayuki und tätschelte Jasmin den Kopf. »Wie schlägst du dich mit deiner neuen Knochenarbeit in Kobe?«

»Naja, Knochenarbeit kann man es noch nicht nennen. Wie du ja weißt, bin ich noch immer im Training. Aber Kobe ist eine schöne Stadt. Ich mag die Balance zwischen Meer und Bergen«, erklärte Jasmin und packte Masas neckende Hand. Sie musste unwillkürlich an die letzte Nacht denken.

»Dann hast du dich also schon gut eingelebt? Freut mich zu hören«, gab sich Masayuki etwas steif.

Jasmin wusste, dass Masayuki mit der Situation nicht glücklich war. Er war eigentlich dafür gewesen, dass sie sich eine Stelle in Tokio suchte, was sie auch versucht hatte. Doch wie das Schicksal es nun mal wollte, fand sie ihr Glück in Kobe, dessen japanische Silben schicksalsgetreu »das Tor der Götter« hießen. Sie beide hatten Politikwissenschaft studiert und zwei Jahre lang – bis vor vier Wochen – gemeinsam in einem kleinen Apartment in Tokio gelebt. Masayuki ließ einen tiefen Seufzer hören.

»Ich weiß, es ist nicht einfach«, begann Jasmin zögernd und legte Masas Hand auf ihren Schoss, »aber wir werden eine Lösung finden. Ganz bestimmt«, schloss sie aufmunternd.

»Ja – ich weiß, ich weiß«, seufzte Masayuki und stierte dabei mit trüber Miene aus dem Panoramafenster.

Jasmin ärgerte sich ein wenig, dass sie sich bereits zu diesem Zeitpunkt mit diesem schwierigen Gesprächsthema auseinandersetzen mussten. Es gab momentan einige Dinge, die ihr im Kopf herumschwirrten und über die sie sich gerne mit Masayuki beraten wollte, wie zum Beispiel ihr verwegener Traum und die Soldaten im Shinkansen. »Offenbar hat die Regierung heute und morgen die ganze Shinkansen-Strecke von Fukuoka bis nach Tokio komplett für sich reserviert. Ich hatte Glück, dass ich überhaupt einen Platz ergattern konnte. Weißt du etwas darüber?«

Masayuki schien verdutzt. »Im Bahnhof Tokio war die Hölle los. Es war fast kein Durchkommen. Überall waren Militärtrucks und Leute der Selbstverteidigungsstreitkräfte mit Gewehren. Aber der Zug nach Shizuoka war praktisch leer«, erwiderte er.

»Das habe ich mir gedacht, denn im Shinkansen habe ich mitbekommen, dass sie alle nach Tokio fahren, um dort in die Maboroshi-Line umzusteigen. Keine Ahnung, was das bedeuten soll, aber es hat sich nicht nach einem positiven Anlass angehört.«

Masayuki zuckte mit den Schultern. »Uns geht es jedenfalls nichts an, sonst würde ja etwas in den Nachrichten stehen.«

Diese Art des Denkens ist typisch japanisch, dachte Jasmin verbissen, sagte aber nichts. Wenn eine Katastrophe bevorstand und die Bevölkerung nicht gewarnt wurde, ging es sie dennoch etwas an.

Der Bus stoppte abrupt – sie hatten ihr Ziel erreicht. Die Passagiere, die vor ihnen gesessen hatten, stiegen aus und traten voran. Jasmin, die noch nie hier gewesen war, hatte keine Ahnung, wo sie waren oder welchen Weg sie nun einschlagen mussten. Masayuki jedoch hatte den Berg Fuji schon zweimal bestiegen. Einmal mit seinem Vater und einmal mit seinen Kollegen aus der Uni.

»Sicherheitshalber habe ich einen unserer Atlanten eingepackt«, sagte Masayuki grinsend.

»Gott sei Dank. Ich hätte nämlich keine Ahnung, wo es langgeht«, gab Jasmin wahrheitsgemäß zu.

Masayuki arbeitete zurzeit in einer Firma, die moderne Karten für GPS-Geräte und klassische Weltatlanten traditionsgemäß aus Papier herstellte. Er war ein ausgesprochener Kartenfreak und hatte demnach oft dicke Wälzer dabei, die mit Koordinaten und unzähligen Symbolen vollgedruckt und für den einfachen Bürger praktisch ungebräuchlich waren. Jasmin hatte sich inzwischen damit abgefunden, auf das GPS in ihrem Smartphone zu verzichten, wenn sie mit Masa unterwegs war, denn er bestand stets darauf, ihr gemeinsames Ziel nur mit seinen Karten zu finden.

Zuerst folgte das Wanderduo einer geteerten Straße, die quer durch eine Wiese mit Sträuchern führte. Der Weg war bereits ziemlich steil und mit einem Rucksack auf dem Rücken und schwülen dreißig Grad war der Aufstieg von Anfang an eine Reise, die in Erinnerung bleiben würde.

»Ich dachte, wir wären auf einem Berg. Wie kann es denn so heiß sein auf dieser Höhe?«, beklagte sich Jasmin schon nach wenigen Minuten außer Atem.

Obwohl Masas Gepäckstück verglichen mit ihrem etwa den dreifachen Durchmesser aufwies, ihr Mittagessen, vier Dosen Bier und einen riesigen Wälzer beinhaltete, schienen ihm weder die Hitze noch die Steigung etwas anzuhaben. Er lachte hämisch. »Das ist erst der Anfang. Warte nur, bis wir über die Strauchgrenze kommen, dann gibt es nicht mal mehr einen richtigen Weg, und Schatten kannst du auch vergessen. Das nennt man wandern.«

Jasmin zog eine gequälte Grimasse, und Masayuki lachte nur noch lauter. Sie mochte es, wenn Masa lachte. Es hatte etwas Herzhaftes und Aufrichtiges an sich.

»Was hast du eigentlich in deinen überdimensionalen Rucksack gepackt?«, fragte sie keuchend.

»Ach, nichts Besonderes. Nur ein paar Notfallrationen, zwei Regenmäntel, ein Messer und eine Taschenlampe. Man weiß ja nie, wann man was braucht.«

»Notfallrationen! Das klingt nach etwas Essbarem.«

Masayuki warf ihr einen vielversprechenden Blick über die Schulter zu. »Naja, ich hatte am Morgen etwas Zeit, wie du ja weißt.« Jasmin schnitt erneut eine Grimasse.

»Ich dachte mir, wir könnten die Sandwiches, wenn wir oben sind, unter den Sternen genießen. Ein paar Bierchen und Snacks habe ich auch noch im Angebot.«

»Genial – kann es kaum erwarten. Aber glaubst du, die Sterne werden sich heute Abend zeigen?«, argwöhnte Jasmin heftig atmend.

»Da bin ich mir auch noch nicht so sicher. Dann sehen wir eben Sonnenflares – klingt fast genauso romantisch, nicht?«, witzelte Masayuki und grinste dabei breit.

 

Jasmin erwiderte seinen Scherz, indem sie ihm einen Klaps auf den Hintern verabreichte. »Übrigens, nochmals sorry für die Verspätung. Ich hatte einen üblen Traum und konnte lange nicht schlafen.«

»Mach dir nichts draus. Ehrlich gesagt habe ich auch schlecht geschlafen und hätte beinahe verpennt.«

»Du auch?«, fragte Jasmin aufmerksam.

»Ja, ich habe schlecht geträumt. Um was ging es denn in deinem Traum?«

»Ich muss dir etwas gestehen«, begann Jasmin mit ernster Stimme.

»Was – hast du geträumt, dass dir deine Arbeit gekündigt wurde?«, warf Masayuki zynisch ein.

»Nein – natürlich nicht. Es war – eine Art Albtraum, oder sowas Ähnliches.«

Masayuki schwieg, also fuhr sie fort: »Ich stand in der Dunkelheit und wusste nicht, wo ich war. Ich fühlte mich nicht fremd oder so. Ich war einfach nur da – und, da gab es ein Licht in der Ferne; ein blaues Licht. Also bin ich darauf zugegangen.« Eine Pause trat ein. Jasmin brauchte Luft. »Warte bitte kurz. Ich muss mal verschnaufen«, röchelte sie. Masayuki blieb stehen, war aber immer noch dem Berg zugewandt.

»Jasmin«, sagte er nach einer Weile. »War das Licht … war es ein Fluss?«

Jasmins Keuchen beruhigte sich langsam und ging wieder in ein unregelmäßiges Atmen über. Sie war in die Hocke gegangen und hob nun langsam den Kopf. Sie konnte nicht fassen, was ihr Freund da eben von sich gegeben hatte. Konnte es denn sein? Hatte er womöglich denselben Traum gehabt wie sie? Masayuki zitterte ein wenig. Er schob seine linke Hand vor sein Gesicht, mit der anderen setzte er seinen Rucksack ab. Jasmin konnte nicht erkennen, was er tat, aber sie verspürte plötzlich eine unbeschreibliche Nähe zu ihm, wie sie es noch nie für einen Menschen empfunden hatte. Sie trat auf ihn zu, umarmte ihn von hinten und legte behutsam den Kopf auf seinen Nacken.

»Da waren meine kleine Schwester und meine Eltern. Ich dachte, es wäre bloß ein blöder Traum«, stammelte Masayuki mit völlig aufgelöster Stimme. Jasmin streichelte ihm zärtlich über den Rücken. »Dann bin ich schweißgebadet aufgewacht und konnte die ganze Nacht kein Auge mehr zu tun. Naja«, Masayuki schnäuzte sich die Nase, »wenigstens sind wir jetzt zusammen. Ich will dich nie mehr gehenlassen – ich möchte, dass du bei mir bleibst – für immer.«

»Das möchte ich auch, Masa, ich auch.«

Tief in ihrem Inneren spürten beide das Ausmaß an Bedeutung ihrer Träume, und dass diese gravierende Folgen für ihre Schicksale haben würden, auch wenn sie das Ganze zum gegebenen Zeitpunkt noch nicht richtig einordnen konnten. Für eine Weile schwiegen sie in tiefer Verbundenheit, dann nahm Jasmin Masayukis Hand in ihre und gestärkt durch ihren verbindenden Händedruck stapften sie gemächlich auf dem Geröllpfad weiter. Jasmins Uhr zufolge war es fast halb sechs Uhr nachmittags. Der Himmel strahlte heller denn je. Die kleine Unterkunft, in der Masayuki ein Zimmer gebucht hatte, erreichten sie nach weiteren anstrengenden zwanzig Minuten, in denen sie sich durch ausgedehnte Geröllfelder und steile Abhänge gearbeitet hatten. Die Herberge stellte sich als eine hölzerne Hütte heraus, mit einer kleinen Terrasse, auf der drei Kunststofftischchen mit Stühlen standen. Eines der Pärchen, das mit ihnen im selben Bus angereist war, hatte sich auf den Stühlen niedergelassen. Sie trugen Sonnenbrillen und deuteten auf den Himmel, wobei sie sich auf Spanisch oder Portugiesisch verständigten.

Ob sie mit den Brillen wohl sehen können, was da oben vor sich geht?, fragte sich Jasmin, die sich etwas ärgerte, dass sie ihre eigene zuhause liegen gelassen hatte. Zwei weitere hochgewachsene Personen, die beide Kleider im Camouflage-Look trugen, standen im Türrahmen der Herberge und unterhielten sich mit jemandem, den Jasmin nicht sehen konnte.

»Mikael McLane haben Sie gesagt? Sind sie Amerikaner?«, krächzte eine raue Frauenstimme jenseits der Eingangstür. »Bitte hier entlang.«

Masayuki trat nun voraus in den Eingangsbereich des Gasthauses, in dem das englischsprechende Paar verschwunden war. Die Herberge war das einzige Gebäude weit und breit und von spitzen Felsen und schütteren Wiesenflächen umgeben. Nach gut zwei Minuten kündigte das Geräusch von Schritten auf ächzendem Holz an, dass jemand die alte Wendeltreppe, die in die Diele mündete, herunterkam. Eine uralte Frau in Pantoffeln und mit grau verfilztem Haarknoten tauchte vor ihnen auf. Auch sie hatte eine Sonnenbrille aufgesetzt, die ihr halbes Gesicht verdeckte und sie wie ein Wesen von einem anderen Stern aussehen ließ. Sie lächelte ihnen zu und sagte mit knorriger Stimme: »Das ist aber ein hübsches Mädchen.«

Masayuki erwiderte ihr Lächeln. An derartige Bemerkungen über Jasmins westliches Aussehen waren die beiden gewöhnt. »Wir haben für heute Nacht ein Zimmer gebucht.«

Die alte Frau verbeugte sich, soweit es ihr krummer Rücken billigte und wies sie mit einer Geste in den schmalen, hölzernen Korridor ein. Sie zogen die Schuhe aus, verstauten diese in einem Schuhregal an der Wand und folgten der Greisin die unter der Last knarzende Holztreppe hinauf. Jasmin blickte sich um und bemerkte mehrere alte Zimmertüren aus Holz, von denen eine einen Spaltbreit offenstand. Plötzlich hörte sie eine leise, knurrende Stimme sagen: »Lailac, sei still! Nein, das sind sie nicht.«

Ein braunes Auge starrte Jasmin an, welches umsäumt war von dunklem Fell. Jasmin erschrak, wich zurück und wäre schier in Masa geprallt.

»Was ist los?«, wollte dieser sofort wissen.

»Ich – ach nichts. Vergiss es«, gab sie zurück und machte eine nachdenkliche Miene. Sie war sich ziemlich sicher, was sie gesehen hatte, war ein Hundewesen gewesen – aber diese waren sehr selten und die Wahrscheinlichkeit ausgerechnet auf dem Fuji-san einem über den Weg zu laufen, war äußerst klein. Doch es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon öffnete die alte Gastwirtin eine Holztür zu ihrer Rechten und verkündete: »Das ist Ihr Zimmer für heute Nacht. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin im Erdgeschoß, erstes Zimmer links. Frühstück wird von sechs bis halb neun serviert. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Nachdem die alte Frau die Tür hinter sich ins Schloss hatte fallen lassen und die beiden Reisegäste sich versichert hatten, dass die Wirtin, den die Wände durchdringenden Lauten zufolge wieder im Erdgeschoß angekommen war, ließen sich Jasmin und Masayuki auf das hölzerne Bett plumpsen, das mitleiderregend aufquietschte. Masayuki schob sich über Jasmins Brust und fixierte ihre Hände fest über ihrem flauschigen Haar. Er küsste sie mit lang gehegter Leidenschaft. Dann legte er ein Ohr auf ihre Brust und lauschte für eine Weile ihrem Herzschlag.

»Komm, lass uns auf den Berggipfel hochsteigen. Vielleicht wird es heute Abend wieder einmal richtig dunkel und wir können die Sterne bewundern«, schlug Masayuki auf einmal vor und begann, Jasmin ohne Vorwarnung am Bauch zu kitzeln.

Jasmin lachte auf und versuchte, Masayukis hinterhältige Kitzelattacke abzuwehren. Eigentlich fühlte sie sich nicht danach, gleich wieder aufzubrechen, aber als Masayuki ihr die Hand hinstreckte, packte sie diese und ließ sich von ihm hochziehen.

»Ich will wissen, was uns da oben erwartet«, unterstrich er sein Vorhaben und machte Anstalten, Jasmin zu küssen.

Diese ließ sich in seine kräftigen Arme gleiten, doch wich sie seinen zum Kuss geformten Lippen flink aus und gab ihm als Rache für die Kitzelattacke nur einen flüchtigen Schmatzer auf die Wange. Als die beiden wieder nach draußen traten, war das Pärchen auf der Terrasse verschwunden. Sie beschritten den steinernen Wanderpfad, der sich schlängelnd zum Gipfel emporwand. Es war nach wie vor ungewöhnlich hell und warm. Masayuki interpretierte die auffällige Wärme als Zeichen, dass sie bald am Krater des Vulkans ankommen mussten.

Das kann doch nicht sein, dachte Jasmin mit einem unbehaglichen Gefühl in der Magengrube. Der Berg Fuji war ein inaktiver Vulkan und konnte daher keinen Einfluss auf die Temperatur in der Umgebung ausüben. Das goldene Licht, welches das Himmelszelt über die Landschaft um das Bergmassiv herum verschüttete, war unterdessen so stechend hell geworden, dass keine Schatten mehr zu erkennen waren. Auch von der genialen Aussicht, von der Masayuki monatelang geschwärmt hatte, konnten sie so gut wie gar nichts ausmachen. Von weiter Ferne schallte das unverkennbare Geräusch von Sirenen zu ihnen hoch – und diesmal waren es keine Warnlaute von Fahrzeugen. Es waren Katastrophensirenen aus den Städten der Umgebung, die normalerweise dann zu hören waren, wenn ein Tsunami bevorstand.

»Hörst du die Lautsprecher?«, bemerkte Masayuki beunruhigt. »Ich glaube, sie sagen, dass man im Haus bleiben soll.«

»Ja, das höre ich auch. Aber es hat doch gar kein Erdbeben gegeben«, stellte Jasmin verwirrt fest.

»Wahrscheinlich ist es wegen der Sonnenflares, oder was auch immer das da oben für goldene Wolken sind.«

»Masa – das sind doch keine Sonnenflares. Die Sonne ist eben untergegangen, also kann es nichts sein, das von der Sonne her kommt.«

Jasmin kramte aufgewühlt in ihrer Tasche und zog ihr vibrierendes Handy heraus. Sie nahm sofort ab.

»Hallo, Jasmin?«, erklang die besorgte Stimme ihrer Mutter. Jasmin berührte kurz Masas Rücken, um ihm zu bedeuten, dass er anhalten sollte.

»Hallo, Mama – was ist denn los?«, fragte Jasmin verängstigt.

»Ich habe versucht, dich zu erreichen. Hast du die Nachrichten gesehen? Leute auf der ganzen Welt sind auf den Straßen und spielen verrückt. Niemand weiß, was es mit den goldenen Wolken auf sich hat – a-aber man munkelt, die Regierung würde etwas geheim halten. Manche behaupten sogar, die Welt würde – untergehen

Ein lauter Schluchzer war zu hören. Jasmin wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. In diesem Augenblick wünschte sie sich verzweifelt, bei ihrer Familie zu sein, und doch klaffte eine Distanz von zehntausend Kilometern zwischen ihnen.

»Mama, soweit ich weiß, sind es nur Sonnenflares, und die sind nicht gefährlich«, versuchte Jasmin ihre Mutter zu beruhigen, obwohl sie genau wusste, dass dem nicht so sein konnte.

»Jasmin, ich habe Angst. Papa ist vor fünf Minuten nach Hause gekommen –«

Es gab eine kurze Unterbrechung, dann war die Stimme ihres Vaters zu vernehmen: »Jasmin! Bist du in Sicherheit? Bist du mit deinem Freund zusammen?«

Jasmin hatte einen Kloß im Hals, und der Schweiß tropfte ihr von der Stirn. »Wir sind auf dem Fuji-san. Du weißt doch, der große heilige Berg von Japan.«

»Ihr beide müsst euch unbedingt vor den Strahlen schützen!«, sagte ihr Vater atemlos. »An der Uni ist das Gerücht im Umlauf, dass die goldenen Wolken das Ergebnis zweier fusionierender schwarzer Löcher sind.«

Es gab wieder eine Pause. Jasmins jüngerer Bruder, Simon, hatte seinem Vater offenbar das Mobiltelefon aus der Hand gerissen.

»Simon?«, vermutete Jasmin.

»Jepp, hallo Jasmin. Papa und Mama sind ganz komisch. Alle quasseln vom Weltuntergang, aber niemand weiß, was wirklich los ist. Naja, uns geht es gut. Jedenfalls, wenn du das nächste Mal nach Hause kommst, bringst du mir ein cooles Game mit, ja?«

Jasmins Augen wurden feucht. Sie wollte etwas sagen, doch dann erklang wieder die Stimme ihrer Mutter: »Wir gehen jetzt … den Keller – und … weiß nicht wie lange die Verbindung noch hält«, kam es aus dem Lautsprecher. Ihre Stimme war nur noch schwach und stockend zu vernehmen. »Ihr müsst euch Schutz suchen! Versprich mir … wir uns wiedersehen. Jasmin, ich …«

Dann brach die Verbindung ab. Jasmin konnte nichts sehen, außer gleißendes, weißgoldenes Licht. Masayuki stand vor ihr und hielt ihre andere Hand fest umschlossen.

»Komm.«

Masayuki führte sie weiter den unsichtbaren Bergpfad hinauf. Jasmin wusste nicht weiter und ließ sich willenlos von ihm leiten. Ein seltsames, unirdisches Summen begann, die Atmosphäre zu schwängern und wurde immer lauter. Es übertönte Jasmins Schluchzen, die Lautsprecher und selbst die Sirenen in der Ferne. Furchtbare Trauer drückte Jasmin auf den Magen. Sie wollte zu ihrer Familie … Mama … Papa … Simon …

In ihrem Kummer blieb sie ruckartig stehen, wobei ihre Hand Masas Griff entglitt. Er drehte sich zu ihr um und schloss sie so innig in seine Arme, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Es fühlte sich an, als würden sie verschmelzen.

»Es ist alles gut, Jasmin. Ich bin bei dir. Ich liebe dich.«

 

Das Summen war zu einem ohrenbetäubenden Lärm angeschwollen. Der Boden begann unheilvoll zu beben. Man konnte weder etwas sehen noch etwas klar vernehmen. Jasmin schmiegte sich so fest es ging an Masayukis Körper an.

Es gab einen gewaltigen Ruck, der die Erde heftig erbeben ließ. In diesem Moment durchdrang die weißgoldene Substanz, die sich vom Firmament her auf sie zubewegt hatte, den Leib der Welt. Zwei Universen verschmolzen zu einem. Ein Gefühl des unendlichen Glücks und der Vollkommenheit durchflutete die Körper aller Lebewesen auf der Erde. Mit einem weiteren heftigen Ruck waren das Licht und der Lärm urplötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ein Erdbeben, wie es die Welt nie zuvor erlebt hatte, erschütterte das Land. Über ihnen grollte der Vulkan bedrohlich. Masayuki und Jasmin versuchten, sich zu ducken, doch der Tremor war so stark, dass sie aneinandergeklammert auf den harten Felsen geschmettert wurden. Auf den weiten Flächen Japans öffneten sich nun große Risse, die sich in alle Richtungen ausbreiteten. Die Klüfte dehnten sich aus und verschluckten ganze Wälder, Berge und Städte.

Auch am Himmelsdach ereignete sich ein seltsames Schauspiel. Die Atmosphäre wurde ganz allmählich in rote, blaue und grüne Farbtöne getränkt. Neben den goldenen Strahlen war auch das Abendrot, das noch vor wenigen Minuten den Himmel über dem Terrain im Westen erfüllt hatte, spurlos verschwunden. Drei gigantische, bunt brillierende Sphären verfärbten das Himmelsgewölbe und verliehen der Umgebung ein düsteres und mysteriöses Ambiente.

Jasmin und Masayuki lagen am Fuße einer Felsklippe. Fest umschlungen und mit zusammengekniffenen Augen warteten sie, bis das Beben abgeklungen war.

»J-Jasmin – l-leben wir noch?«, stockte Masayuki von heilloser Ungläubigkeit gepackt.

Jasmin brauchte noch eine ganze Weile, bis sie wieder zu ihrer Stimme fand: »Ich weiß es nicht – was ist nur geschehen?«, stieß sie durch ihre klappernden Zähne hervor und sah langsam auf. Sie fürchtete sich vor dem, was sie als nächstes erblicken würde. Jasmin lockerte die Umarmung. Auch Masayuki hob vorsichtig den Kopf – beide erstarrten augenblicklich in einer paralysierenden Trance. Das Spektakel, das sich ihnen bot, war mit einem einzigen Blick wohl nicht zu erfassen. Beide Überlebenden starrten mit Entsetzen auf die drei gewaltigen Lichtscheiben am Himmel, die einen geheimnisvollen, buntschimmernden Mischmasch von Farbtönen auf ihre Gesichter zurückwarfen.

»Was sind … Sind das Planeten? W-was sind das für merkwürdige Farben überall?«, raunte Masayuki, ohne die Augen vom glühenden Firmament abzuwenden.

»Öhm – ich äh, habe echt keine Ahnung – träumen wir?«, stotterte Jasmin, die drei kreisrunden Scheiben, die zusammen fast den ganzen Himmel abdeckten, fixierend.

Masayuki senkte langsam seinen Kopf und stupste Jasmin mit dem Ellbogen an. »Sieh mal«, sagte er gleichermaßen erstaunt wie entsetzt. Er zeigte zum Horizont, der sich kaum merklich auf und ab zu bewegen schien.

Jasmin erkannte nicht auf Anhieb, was sich vor ihren Augen abspielte. »Was ist das? Ist das etwa – eine Welle? Ein – ein Tsunami?« Sie hatte eine böse Vorahnung.

Masayuki blinzelte. In der pulsierenden Atmosphäre, in der sich die Farben überschlugen, konnte man nicht allzu viel erkennen. »Rein geographisch gesehen müsste eine Flutwelle aus dieser Perspektive und Entfernung ungefähr drei bis vier Kilometer hoch sein«, erklärte er langsam und berechnend.

Sie sahen der sich ausbreitenden Linie zu, wie sie näherkam und alles um sie herum verschluckte. Als die Wand das Festland erreicht hatte, erkannten sie, dass es sich in der Tat um einen Tsunami handelte – und was für einen! Die gigantische Wassermauer kam aus dem Pazifischen Ozean auf den heiligen Berg zu gekrochen und begann, ihn resolut zu umringen. Der Wasserspiegel stieg über eine Zeitspanne von einer Viertelstunde bedrohlich an. Jasmin und Masayuki waren zu verstört, um noch irgendetwas zu tun, außer dem Treiben der Naturkräfte zuzusehen. Etwa einen halben Höhenkilometer unter ihnen verlangsamte sich der Anstieg der im bunten Farbenspiel schimmernden Wasseroberfläche. Alles um sie herum hatte sich in einen Regenbogenozean verwandelt. Es war ein schlichtweg unfassbarer Anblick. Wie es aussah, hatte die Welle ein paar hundert Meter unter ihnen ihren Höhepunkt erreicht.

»Das müssen mindestens drei Kilometer über dem Meeresspiegel sein«, bemerkte Masayuki tonlos.

Jasmin sah mit fassungsloser Miene den Horizont entlang, bis sie hinter sich plötzlich eine gewaltige Lichtröhre entdeckte, die sich über den Felsspitzen des Vulkankraters gegen den Himmel erhob. Sie spürte, wie Masayuki sie energisch am Arm antippte. Ihr Blick richtete sich deshalb wieder gegen Osten, wo mehrere gewaltige, goldene Lichtsäulen aus dem Ozean empor- und dem glimmenden Himmel entgegenragten. Der Wasserpegel nahm nun rasch wieder ab. Mehrere Strudel, groß wie ganze Städte, bildeten sich dort auf der Ozeanfläche, wo eben gerade die Lichtröhren aufgetaucht waren. Jasmin kam es vor, als ob jemand im Bad den Stöpsel gezogen hätte.

Eine Weile lang sah das entsetzte Paar auf die bunte Wasserfläche hinaus und beobachtete, wie der Wasserpegel nach und nach wieder sank. Dann, ohne Vorwarnung, stieg keine fünf Schritte von ihnen entfernt eine bekannte, bläulich flackernde Lichtsphäre empor, die gemächlich auf sie zu geglitten kam. Wie hypnotisiert legte Jasmin einladend ihre Handflächen aneinander, um darauf die raschelnde Kugel in Empfang zu nehmen. Einen Augenblick später erklang eine mächtige, durchdringende Stimme aus deren Innerem:

»ES IST VOLLBRACHT. DIE UNENDLICHKEIT IST HERBEIGEFÜHRT. MEINER HINTERLASSENSCHAFT SOLL ES NACH MEINEM WEGGANG NICHT AN LAND UND MITTELN FEHLEN. DENN DIEJENIGEN, DIE NUN DAS ZEITALTER DER UNENDLICHKEIT EINLÄUTEN WERDEN, SIND AB SOFORT IHRES EIGENEN LEBENS SCHMIED. DIE UNENDLICHKEIT, DIE ES ZU ERSCHAFFEN GILT, WENN EIN WESEN HÖHERER MÄCHTE SEINE IHR VERPFLICHTETE RAUMZEIT VERLÄSST, KENNT ZWEI RICHTUNGEN: DEN WEG DES LEBENSKOLLEKTIVS, WELCHER DIE HARMONIE ALLEN LEBENS VERKÖRPERT UND MIT DEM EIN EWIGES STREBEN NACH SYMPATHIE UND ZUSAMMENHALT EINHERGEHT – ODER ABER DEN WEG DER EWIGEN LEERE, WELCHE SICH IN TATEN UND BEGEHREN VERGÄNGLICHER NATUR ABZEICHNET. IHR HABT DIE WAHL. TRAGET DIESE BOTSCHAFT IN EURE MITTE. MEINE AUFGABE IN DIESER RAUMZEIT IST ERFÜLLT. ICH WERDE NUN IN DIE NÄCHSTHÖHERE BEWUSSTSEINSEBENE HINÜBERSCHREITEN, WIE ES MIR OBLIEGT. GEHABT EUCH WOHL UND GEDENKT MEINER WORTE: LIEBET EUREN NÄCHSTEN, DENN ZUSAMMEN SEID IHR EINS – SARABA.«

Jasmin und Masayuki erschraken nicht. Es war eine sympathische Stimme, die ihnen sehr vertraut schien. Obwohl Jasmin eben noch einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen war, nahm die Präsenz dieser größeren Macht ihr ihre Angst augenblicklich von der Seele. Sie wusste nun, dass der Traum über ihre Familie Wirklichkeit geworden war, und es war gut so. Es war vorbei. Tiefer Frieden überkam ihren Geist.

Nach unbestimmter Zeit des selbstversunkenen Daseins fühlte Jasmin plötzlich, wie Masayuki ihre linke Hand ergriff und sie behutsam zu sich hinzog. Zuerst erkannte sie nicht, was er tat, doch dann gab er ihren Fingern einen kurzen, zärtlichen Kuss und führte sie langsam vor Jasmins Augen. An ihrem Ringfinger brillierte ein Diamantring, der geheimnisvolle Lichtmuster in die felsige Umgebung zeichnete.

Einvernehmlich sahen sie sich in die Augen und nickten in einträchtiger Stille.