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Aus der Reihe: aethera
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Verzweiflung

vom Zweifel zur Verzweiflung

Der Zweifel tritt natürlich schon vor dem 35. Lebensjahr auf, auch der Mut kann bei bestimmten Menschen wie durch die Geburt hindurch in das Leben hineingetragen werden. Doch geht es hier nicht so sehr um die grundsätzlichen Seelenkräfte, die überindividuell sind, sondern um das dann individuelle Ausbilden, Handhaben und schließlich Beherrschen dieser Seelenkräfte vom Ich aus. Ist zum Beispiel die volle, persönliche Kraft des Zweifels ausgebildet und wird in unveränderter Form über das 42. Lebensjahr hinausgetragen, ohne dass sie nun durchstrahlt, durchwärmt und damit metamorphosiert wird von der Kraft des Muts, wird mehr und mehr die Gefahr entstehen, dass das ganze menschliche Sein erfasst und beherrscht wird von dem Zweifel und damit eine Verwandlung desselben hin zur Verzweiflung geschieht. Und damit sind wir bei dem kardinalen Punkt einer modernen Problematik des Alters: der zunehmend beherrschenden Kraft der Verzweiflung im 5. Lebensjahrzehnt. In der heutigen Sprachform wird diese existenzielle Verzweiflung auch Frustration genannt. Der Mensch kann nur noch sich selbst in Zweifel ziehen, wenn er nach diesem notwendigen Schritt der zeitgemäßen Entwicklung zum Selbst, zum Ego, nicht die innere Wende findet zu allem, was außer ihm existiert, ohne das er selber gar nicht der sein könnte, der er geworden ist.

zukunftsbestimmender Lebensabschnitt

Wir werden in späteren Kapiteln diese zentrale Frage des rechten Übergangs in das, was wir hier bereits Alter nennen – also diesen Zeitabschnitt jenseits des 42. Lebensjahres –, noch ausführlicher darzustellen haben (siehe Seite 207 ff.). Hier sei zunächst einmal der Blick darauf geworfen, wie dieser nun mehrfach für die moderne Entwicklung als ganz grundlegender Wendepunkt bezeichnete Lebensabschnitt die Zukunft des Menschen bestimmt, im Hinblick auf die folgenden Lebenszeiten bis zum Tod, aber – wie wir noch sehen werden – auch über diesen hinaus.

Von der Ich- zur Wir-Erfahrung

Zusammenhang mit geistigen Gesetzmäßigkeiten der Planeten

Es wurde ja schon dargestellt, dass das menschliche Ich in seiner Arbeit am Leib, an der Seele und schließlich in der eigenen geistigen Ausgestaltung gestützt wird durch Kräfte, die mit den geistigen Gesetzmäßigkeiten der Planeten oder Wandelsterne im Zusammenhang stehen (siehe Seite 54 f.). Rudolf Steiner beschreibt in seiner Geheimwissenschaft im Umriss, dass sich mit diesen Gestirnen ganz bestimmte schaffende, schöpferische Geistkräfte verbinden und sie also mehr sind als nur dieser materielle Aspekt, den zum Beispiel eine moderne Raumfahrtforschung von ihnen hat. Keine technisch noch so raffinierte Sonde, die uns in Fotografien äußere Ansichten der Venus oder des Mars sendet, die vielleicht etwas von der Chemie und Physik dieser Planeten erforscht, kann etwas von dem Schöpfungsgehalt, der geistigen Realität, erzählen.

Schaffensdrang und Zerstörungskraft

Schaut man nun auf die in den Mythologien charakterisierten besonderen Kräfte des Mars, so findet man in ihm die Polarität von Schaffensdrang und Zerstörungskraft. Menschenkundlich gesehen, konzentrieren sich diese Marskräfte organisch ganz besonders in der Gallebildung und -ausscheidung, in dem ganzen Chemismus unserer Leber, der Stoffbildung und -entbildung im engeren Sinne dessen, was mit einem exakten Begriff Stoffwechsel genannt wird. In das Seelische hinein spiegeln sich diese Kräfte im Menschen in seiner Sprache und dem diese vermittelnden Organ Kehlkopf. Der stoffliche Repräsentant der Marskräfte in der Erde ist das Eisen, das wiederum in der Form des Schwertes ein sowohl kriegerisch-zerstörendes, aber auch ritterlich-hehres und schützendes Symbol aller Zeiten war.

Aufbau und Abbau

Es gehört zu den merkwürdigen inneren Bedingungen des Stoffwechsels, dass Aufbau und Abbau, Bilden und Entbilden, Schaffen und Zerstören unabdingbar miteinander verbunden sind. Ohne diese Voraussetzungen würde ein menschlicher Organismus nie in dieser Beweglichkeit und Kraft über so viele Jahrzehnte existieren können.

Polarität der Möglichkeiten

Marskräfte bedeuten aber auch Entscheidungsmut, Zielgerichtetheit. So ist dieser Lebensabschnitt vom 42. bis 49. Lebensjahr in der Polarität der Möglichkeiten auch als paradox zu erleben. In vielen Menschen bricht so etwas wie eine ganz neue Möglichkeit, ein unendlicher Schaffensdrang, das Erfassen ganz neuer Ziele auf, andere geraten in den Niedergang selbstzerstörerischer Verzweiflungen und Frustrationen. Die ganze interessante Frage der Aussteiger findet hier ihre Antwort. Dabei kann diesem Problem die positive Erkenntnis zugrunde liegen, mit den bisher gewonnenen Kräften nun eine ganz neue Zielsetzung zu verfolgen, die eine zentrale Erfahrung in diesen Lebensabschnitt trägt.

Das ist der Übergang von der Ich-Erfahrung zur Wir-Erfahrung. Nicht meine Bedürfnisse, die das bisherige Leben oft ganz beherrschten, sondern die Bedürfnisse anderer oder der Welt, der Erde, der Natur werden zum persönlichen Anliegen. Nicht mehr »Was kann ich für mich tun«, sondern »Was kann ich für andere oder die Welt tun« wird zum richtungsweisenden Thema. Diese Wendung vom Egoismus zum Altruismus entspricht in starkem Maße der Marszeit des Lebens.

Vielleicht entdeckt der Leser hier eine ganz neue Bedeutung des Wortes »Alter«. Im Lateinischen bedeutet alter »der andere«. Kommt daher der Ursprung unseres Begriffs »Alter«, weil es die Zeit im Leben benennt, wo der / die / das andere bedeutsamer wird als man selbst?

Verantwortung übernehmen

Im Negativen kann es aber auch ein Sich-noch-mehr-von-der-Welt- und damit dann auch ein Von-sich-selbst-Abwenden sein, das keine Ziele mehr in sich trägt außer zu existieren, natürlich in möglichst großer Bequemlichkeit, was dann oft zielgerichtet Niedergang oder Krankheit bedeutet. Auch davon wird später noch zu sprechen sein. Jeder Mensch sollte im sozialen Bereich des Miteinanderlebens in dieser Zeit Verantwortung übernehmen können, was erkennen lässt, dass in einer modernen Gesellschaft alte »monolithische« Strukturen völlig fehl am Platz sind und immer mehr durch gemeinschaftliche Strukturen, zum Beispiel wechselnde Führung, abgelöst werden müssten.

Einzelseele und Gemeinschaft

Die heutige soziale Frage ist im Grunde ein Spiegel dieser Frage eines Lebensabschnittes, die jedem Menschen ganz persönlich gestellt wird. Oder: Die soziale Frage spiegelt eigentlich eine zentrale persönliche Frage, und die Lösung der einen wie der anderen kann nur gemeinsam angestrebt werden. Von Rudolf Steiner stammt folgende Formulierung, die ein Meditationsinhalt sein kann und auch als Motto der Sozialethik bezeichnet wurde: »Heilsam ist nur, wenn im Spiegel der Menschenseele sich bildet die ganze Gemeinschaft und in der Gemeinschaft lebet der Einzelseele Kraft.«35

Die Seele des einzelnen, auf sich gestellten Menschen muss eine ganz persönliche Kraft entwickelt haben, die sie für eine Gemeinschaft einbringen kann. Dieses ganz Individuelle muss dort Platz haben können. Es muss sich jedoch ebenso stark in jedem Einzelnen das Bewusstsein bilden, was eine Gemeinschaft braucht und was er davon »selbstlos« in sie einbringen kann. Aus dieser gelebten Wechselwirkung könnte das moderne Gesellschaftsleben viel gewinnen und daran gesunden.

So sehen wir also, dass für das Thema dieses Buches, ja, im Weiteren für die menschliche Entwicklung überhaupt dieser Lebensabschnitt, den wir die Marszeit des Menschen genannt haben, von ausschlaggebender Bedeutung ist. In den späteren Kapiteln über eine sinnvolle Art des Alterns und die in dieser Zeit auftretenden typischen Krankheiten werden wir auf viele der jetzt angeschnittenen Fragen zurückkommen.

Das 49. bis 56. Lebensjahr – Jupiterzeit

ruhige und beschauliche Zeit

Dieser nun folgende Lebensabschnitt kann, wenn die vorausgehende Phase in der richtigen oder notwendigen Weise gelebt und eine entsprechend zielgerichtete Entwicklung veranlagt wurde, zu einer besonders ruhigen oder beschaulichen Zeit werden. Das setzt jedoch voraus, dass die Marszeit in ihren ganzen Stürmen, Unsicherheiten und Aufregungen bestanden wurde. Hat man währenddessen noch einmal die grundsätzliche Frage nach dem Sinn und Inhalt alles bisher Getanen oder Erreichten gestellt, eventuell neue Ziele formuliert und angestrebt, beginnt nun das Ich vermittels der Seele auf das bisherige Leben zurückzuschauen und zu prüfen, was wirklich abgeschlossen wurde, mehr noch was nur teilweise oder gar nicht zu Ende geführt wurde. Der rückwärts und nach vorne gerichtete Blick versucht zu erahnen, was von dem vorgeburtlich entwickelten Lebensplan bewusst wurde und Beantwortung fand. Das fragt nach den Begegnungen mit Menschen, vielleicht einer Familie und Kindern, Freundschaften. Der Blick gilt auch dem eigenen Berufsleben und seinem Erfülltsein und ob eine Weiterführung im bisherigen Tun sinnvoll ist, nach Metamorphose ruft oder gar nach einem Neuanfang, der dann im vorigen Jahrsiebt schon veranlagt wurde.

Weisheitskräfte

 

Mit Jupiter verbanden die Menschen früherer Zeiten immer Weisheitskräfte, auch das Herrschen, den Göttervater. Herrschen muss hier als königliche Würde, nicht als Machttrieb verstanden werden. Im ursprünglichen Sinne war der Herrscher der für das Gemeinwohl aller Verantwortliche, derjenige, der innerlich und äußerlich nie ruhte, solange in seinem Bereich (Reich, Staat) noch bei den einzelnen Menschen Bedürfnisse existierten, Not vorzufinden war, Entwicklungen gefördert werden konnten. Das heißt, einen Überblick über das Ganze zu haben, nun im Seelischen »weitsichtig« zu werden.

Den Jüngeren Raum schaffen

das im Menschen Veranlagte bestmöglich fördern

So wäre im idealen Sinne dieser Lebensabschnitt die Möglichkeit, jetzt mit der ganzen, durch fünf Jahrzehnte gewonnenen Lebenserfahrung und Lebenskraft den Raum zu schaffen, in dem nun jüngere Menschen ihre eigenen Entwicklungsschritte vollziehen können. Dann ist dieser Lebensabschnitt nicht nur der des Königs oder Herrschers, sondern auch der des Lehrers. Dazu muss aber eine pädagogische Auffassung zugrunde gelegt werden, die es sich zum Anliegen macht, das in jedem einzelnen Menschen Veranlagte bestmöglich zu fördern, die in ihm schlummernden Fähigkeiten zu wecken und seine Möglichkeiten zu entwickeln, damit er die sich selbst gesetzten Ziele und Inhalte des Lebens so vollkommen wie möglich verwirklichen kann. Dasjenige im anderen zu entwickeln und zu fördern, was in ihm veranlagt ist, was er selbst will – auch wenn dieser Wille zunächst ganz unbewusst erscheint –, das ist die wirklich menschengerechte Pädagogik oder – für den Erwachsenen formuliert – »Homagogik«. Wie sehr dagegen tendieren wir heute dazu, das in andere hineinerziehen oder hineinlegen zu wollen, was wir als für uns richtig erkannt und vielleicht bereits vollzogen haben. Anstatt die Welt in die größtmögliche, jedes Individuum widerspiegelnde Vielfalt zu entwickeln, strebt der heutige Zeit-Ungeist immer wieder und wieder zur Uniformität.

Gelassenheit

»Fels in der Brandung«

Die prägende Eigenschaft dieser Zeit ist die Gelassenheit. Man kennt die Stürme des Lebens, man weiß, dass sie auch wieder ruhigem Wetter weichen. Man durchschreitet diese Zeit voller Ruhe in einem immer sichereren Wissen, dass sich das Leben in allen Dingen und Vorgängen stets wieder ausgleicht, in ein Gleichgewicht bringt. Das geschieht oft in großen zeitlichen Abständen, weshalb der moderne, im Augenblick lebende Mensch es häufig nicht bemerkt oder erst im weiten Abstand eines Lebensrückblicks darauf aufmerksam wird. Das Bild für solche Menschen und wie sie von Jüngeren erlebt werden ist der »Fels in der Brandung«. Auch die majestätische Welt der hohen Berge, die über der Unrast aller Zeiten in ihrem Sein ruhen, kann uns hier Anregung und Vorbild sein. Man schaut von ihnen in ganz andere Tiefen und Weiten, erlebt intensiv die Verbundenheit von Erde und Himmel, gewinnt eine viel größere Übersicht, als wenn man nur im Tal lebte.

Entschleunigung

Der schon zitierte Johannes Hemleben (siehe Seite 60) lässt die Jupiterkräfte, wie sie sich auch durch den Ahorn vermitteln, zu uns sprechen: »Oh Mensch, überwinde die Hast und Hetze in dir, suche Stunden der Ruhe, in denen Güte und Weisheit geboren werden können.« Er schrieb diese Sätze 1931 in seinem Werk Symbole der Schöpfung, das sich als zeitübergreifend erweist und heute so gültig wie damals ist.36 Das Problem ist uns modernen Menschen durchaus bewusst, es hat in dem Begriff »Entschleunigung« einen Ausdruck gefunden. Doch ist es ein Wort geblieben, wurde nicht zur Arznei für die ganze Menschheit. Denn unverändert dominieren Hast und Hetze auch in diesem Lebensabschnitt; die Stunden der Ruhe müssen warten, vielleicht bis zur Rentenzeit – oder kommen sie auch dann nicht?

Man darf eine solche Zeit der Beschaulichkeit, der Übersicht nicht als eine Phase der Tatenlosigkeit ansehen. Äußerlich angeschaut, ist sie vielleicht noch durchdrungener von Taten als der Mars-Abschnitt unseres Lebens. Doch im gesunden Sinne einer Entwicklung wird man jeder dieser Taten entnehmen können, dass sie für das Wohl der Allgemeinheit geschehen und nicht mehr zum persönlichen Nutzen.

leiblich oft sehr gesunde Zeit

Wenn demgegenüber eingewendet wird, das sei heute aber überhaupt nicht der Fall, so bezeichnet dieser Einwand nur eine traurige, ja, tragische Zeit-Tatsache, ist aber kein Gegenbeweis dieser hier als notwendig erachteten Entwicklungstendenz, und man wird auch immer wieder einzelne Persönlichkeiten finden, an denen diese nun ideal gezeichnete Fähigkeit sichtbar werden kann. Geschieht die Entwicklung im einzelnen Menschen in richtiger Weise, so ist es oft eine – parallel zum 2. Lebensjahrsiebt – leiblich sehr gesunde Zeit, die somit auch die Voraussetzung schafft, im richtigen Sinne viel für andere zu tun.

Ein dann noch einmal ganz wesentlicher Abschnitt folgt dieser beschaulichsten, äußerlich wie innerlich ruhigsten Phase des menschlichen Lebens, die dann von den Saturnkräften beherrschte Zeit nach dem 56. Lebensjahr.

Das 56. bis 63. Lebensjahr – Saturnzeit

Dieser Zeitpunkt um das 56. Lebensjahr, wenn der einzelne Mensch aus der Jupiter- in seine Saturnzeit eintritt, wurde von Bernard Lievegoed in Vorträgen vor Heilpädagogen einmal folgendermaßen charakterisiert:

Krisenjahr Scheitern dessen, was man gewollt hat

»Alle kommen darauf: Zwei Jahre sind wichtig, das achtundzwanzigste und das sechsundfünfzigste. Und das sechsundfünfzigste wird immer beschrieben als ein Krisenjahr im Leben. Wenn man das biografisch bei großen, bedeutenden Menschen verfolgt, dann sieht man im Leben dort einen jähen Abbruch. – Es war das Jahr, in dem Julius Cäsar ermordet wurde von seinen Freunden. Er ging hinein in den Gipfel seiner ausgedehnten Macht – und dann plötzlich wurde er erstochen. Nun – ich führe nur eines an, aber so erlebt man das manchmal. Das sechsundfünfzigste Jahr bedeutet etwas, was in die Saturnzeit hineingeht. Und in die Saturnzeit hineingehen bedeutet, dass alles, was man sich je im Leben erobert hat, noch einmal durch Tod und Auferstehung gehen muss. Noch einmal. Das Leben wird ungeheuer schwer, die Dinge kommen alle wieder zurück, die muss man alle wieder neu erleben. Man erlebt innerlich – nicht äußerlich, aber innerlich – ein Scheitern alles dessen, was man gewollt hat. Man erlebt: Ja, wenn ich ehrlich bin, dann muss ich sagen, es ist eigentlich nichts geworden von dem, was ich gewollt habe. Man ist natürlich so vernünftig, das nicht hinauszuposaunen und das für sich zu behalten – denn manchmal, wenn man das vorsichtig andeutet, bejahen die Leute das auch gerne. Also das ist etwas, das plötzlich eingreift ins Leben.«37

Hatte man gerade eine im bisherigen Leben kontinuitätbildende, von Beschaulichkeit beherrschte Zeit durchlebt, kommt nun noch einmal Aufbruchstimmung in das Leben. Je nach der inneren Gestalt einer Biografie kann das in neue Aufgabenstellungen auch äußerer Art münden oder innere Begegnungen erzeugen, die neue Inhalte des Lebens begründen.

Häufigkeit von Herzinfarkten

Im Extrem kann es aber auch den radikalen Aufbruch zu einer ganz neuen Daseinsform bedeuten, nämlich dem Tod. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass die Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken für den Herzinfarkt um das 56. Lebensjahr eine plötzliche Spitze in der Häufigkeit zeigen, die dann wieder zurückgeht zu dem langsam steigenden Trend, der schon vor diesem Zeitabschnitt existierte.

Geistige Schaffenskraft

Widerstände des Leibes werden deutlicher

In Bezug auf das Körperliche ist in dieser Zeit stark erlebbar, dass die Widerstände, die der Leib dem seelischen und geistigen Leben entgegenträgt, immer deutlicher werden. Die Bewegungen werden eckiger, Sehkraft und Gedächtnis lassen nach, Ernährungsgewohnheiten, Schlafbedürfnis, Anteilnahme am öffentlichen Leben wandeln sich, wobei hier natürlich auch wieder ganz große individuelle Unterschiede bestehen und diese Phänomene heute in vielen Verzerrungen in Erscheinung treten. Die Thematik dieses 9. Lebensabschnitts, in Jahrsiebten gerechnet, wird eigentlich von dem Bild von Tod und Auferstehung geprägt oder von dem mythischen Bild des sich aus der Asche erhebenden Phönix. Spätestens in dieser Zeit wird eine immer stärkere Beschäftigung mit den Lebenstatsachen des Sterbens und des Todes in der menschlichen Seele stattfinden und darf nun nicht mehr betäubt oder verdrängt, sondern muss immer bewusster durchlebt werden.

der Tod als Tor zu neuen Welten

Natürlich ist diese innere Auseinandersetzung und damit zugleich Vorbereitung auf das Lebensende, das ja für den Einzelnen noch weit in der Zukunft liegen kann, nicht auf diesen besonderen Zeitabschnitt beschränkt, ja, muss eigentlich bereits viel früher, zum Beispiel um das 42. Lebensjahr herum, begonnen werden. Doch ist der Mensch in keinem Lebensabschnitt diesen Fragen auch aus seinem Leiblichen heraus so nahe wie im 9. Lebensjahrsiebt. Damit aber begegnet er im höchsten Maße der geistigen Wirklichkeit, vor allem, wenn er die Erfahrung machen kann, dass Tod nicht Ende, sondern Durchgang, Tor zu neuen Welten, zu einem neuen Leben bedeutet, das in der christlichen Terminologie auch ewiges Leben genannt wird. Das gibt den geistigen Flügeln der Seele und des sie ganz durchdringenden Ichs noch einmal ungeheure Schwungkraft.

vom Geistigen durchdrungene Schaffenskraft

War die vorausgegangene Zeit eine Phase der Besinnlichkeit oder Beschaulichkeit, die davorliegende erfüllt von großem, überwiegend auch äußerem Schaffensdrang, so tritt jetzt eine Schaffenskraft in Erscheinung, die ganz vom Geistigen durchdrungen ist. Jetzt erst erwachen wirkliche Weisheitskräfte im Menschen, die zwar in der Jupiterzeit des Lebens veranlagt wurden, sich dort vielleicht auch schon andeutungsweise zeigten, nun aber in ganzer Fülle hervorbrechen können, wenn der Mensch sein Leben entsprechend der ihm innewohnenden Gesetzmäßigkeiten leben konnte.

Weisheit

»gesättigtes Wissen«

Versteht der moderne Mensch eigentlich noch die Bedeutung dessen, was das Wort »Weisheit« beinhaltet? Oder erlebt er damit verbunden etwas aus grauen Vorzeiten, was für einen Menschen unserer Zeit gar nicht erstrebenswert ist? Mit 60 Jahren schrieb der deutsche Schauspieler Curd Jürgens (1915–1982) seine Biografie und nannte sie 60 Jahre und kein bisschen weise. Sieben Jahre später verstarb er. In lange vergangenen Zeiten war Weisheit Ziel eines Menschenlebens, es war nicht sicher, ob der Einzelne es erreichte. »Weisheit« kommt von »Wissen«, sie ist ein gesättigtes Wissen, geprägt von der gesammelten Erfahrung eines langen Lebens mit allen seinen Höhen und Tiefen. Mit ihr verbindet sich auch der Ernst, die Ernsthaftigkeit. Das findet sich wieder in den Worten, die nach den auf Rudolf Steiner zurückgehenden »Baumsprüchen« Saturn durch die Bäume des dunklen Waldes zum Menschen spricht, durch Buchen, Tannen und Zypressen (oder Wacholder): »O Mensch, fühle die Verantwortung für die Not deiner Zeit und der ganzen Menschheit. Ergreife mit Innigkeit und Ernst die Aufgabe, die dir das Leben stellt.«38

Lebensaufgaben ergreifen Wissen über den Tod hinaus

Die griechische Mythologie nennt den römischen Saturn Kronos, eine Urschöpfergestalt, Vater des Zeus und verbunden mit der Zeit. Die Erreichnisse der beiden vorausgegangenen Jahrsiebte kulminieren in dieser Saturnzeit und sammeln sich im Weisewerden. Es muss erstaunen, dass jetzt darauf hingewiesen wird, die Aufgaben – mit Innigkeit und Ernst – zu ergreifen, die einem das Leben stellt. Das war doch längst der Fall, auch die damit verbundene Verantwortlichkeit. Doch nun bekommt dies einen ganz neuen Aspekt: Jetzt wird bereits Zukunft begründet, jetzt weitet sich der Blick in Zeiten nach dem Tod und in ein künftiges Leben. Hier werden Willensimpulse gelegt, die uns aus dem nachtodlichen Leben wieder zu einem irdischen führen. Auch das beinhaltet Weisheit: ein Wissen über den Tod hinaus, unverlierbar, wesentlich auch für die geistigen Hierarchien, die uns immer – hier wie dort – eng verbunden begleiten. Vieles davon tritt gar nicht einmal in unser Wachbewusstsein, bleibt auch für uns im Verborgenen, entschleiert sich erst, wenn wir den Leib abgelegt haben und als Geistseele im Allbewusstsein erwachen.

 

In vielen Biografien werden wir heute nicht auf die geschilderte gesättigte Lebensweisheit stoßen, zu groß sind die Zeitwiderstände, die jeden einzelnen Menschen an einer gesunden Entwicklung seines Alters hindern, als dass viele unbeschadet durch diese Zeit gehen können. Aber immer wieder finden wir Biografien, in denen sich die diesem Lebensabschnitt innewohnenden Gesetzmäßigkeiten zeigen oder zumindest erahnen lassen. Diese zu erkennen, mag dazu beitragen, für sich selbst Wege zu suchen und sie sich auch ausleben zu lassen. Sich ein Ziel zu setzen heißt ja nicht, es immer und unbedingt erreichen zu müssen, wohl aber einen auf dieses Ziel gerichteten Weg einzuschlagen und zu beschreiten. Es ist nicht der Zielort, sondern die von ihm ausgehende Kraft, die für den Menschen von Bedeutung ist.

nie erlahmendes Streben

Es ist das immer sich bemühende, nie erlahmende Streben, das letztlich die Erlösung für Faust erwirkt, wie Goethe es uns vermittelt. So möge dieses Kapitel abschließen mit Worten Christian Morgensterns, der das zuletzt Gesagte so »ver-dichtete«:39

Wer vom Ziel nicht weiß,

kann den Weg nicht haben,

wird im selben Kreis

all sein Leben traben;

kommt am Ende hin,

wo er hergerückt,

hat der Menge Sinn

nur noch mehr zerstückt.

Wer vom Ziel nichts kennt,

kann’s doch heut erfahren;

wenn es ihn nur brennt,

nach dem Göttlich-Wahren;

wenn in Eitelkeit

er nicht ganz versunken

und vom Wein der Zeit

nicht bis oben trunken.

Denn zu fragen ist

nach den stillen Dingen,

und zu wagen ist,

will man Licht erringen;

wer nicht suchen kann,

wie nur je ein Freier,

bleibt im Trugesbann

siebenfacher Schleier.

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