Rabengelächter

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Ich hatte mich so in Rage geredet, dass ich gar nicht gemerkt hatte, dass ich ihm im Laufe meines Monologes mit dem Zeigefinger in die Brust gepikt hatte. Genauso wenig hatte ich das Grüppchen Schaulustiger gesehen, das sich um uns herum angesiedelt hatte und uns nun angaffte. Jetzt, wo die Wut herausgebrüllt war, brachte ich es nicht fertig, ihm in die Augen zu schauen. Ich warf mir meine hüftlangen Haare über die Schulter und stapfte durch den Nieselregen davon.

Kapitel 4


Den Kopf gegen das kalte Busfensterglas gelehnt, versuchte ich mir einzureden, dass das Landei es nicht anders verdient hätte und selbst daran schuld wäre. Ich versuchte mein Gewissen zu beruhigen. Aber schon wieder kam eine Welle von Schuldgefühlen über mich. Ich hätte meinen Frust und meinen Ärger nicht an ihm auslassen sollen, und schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Klar, er hatte mich unheimlich genervt und früher oder später hätte ich es ihm sagen müssen. Irgendwie, aber nicht so. Resigniert schüttelte ich den Kopf. Ich hatte es schlicht und einfach verkackt, und das haushoch.

Der fast leere Bus (ich war wie immer der letzte Fahrgast) hielt mit einem kleinen Seufzer an. Draußen konzentrierte ich mich auf das Rauschen der Bäume im Wind und das Gefühl des leichten Nieselregens auf meinem Gesicht. Wir wohnten abgeschieden, mitten im Wald. Ich lauschte dem Geräusch meiner Schritte und wollte schon weiter Trübsal blasen, als ein Vogel dicht über meinen Kopf hinweg flog und sich zum Landen bereit machte. Erschrocken zuckte ich zusammen. Wie eine Schildkröte streckte ich meinen automatisch eingezogenen Kopf wieder zwischen meinen Schultern hervor und schaute erstaunt den Raben an, der vor mir auf dem Waldweg saß. Er legte den Kopf schief und blinzelte mich an. Ich machte einen Schritt auf ihn zu. Er blieb sitzen. Der war aber zutraulich. Ich ging in die Hocke und machte Kussgeräusche.

„Na hallo, wo kommst du denn her?“ Vielleicht war er ja ein zahmer Rabe? Ich betüterte ihn weiter: „Na, du bist ja ein Schöner, was machst du denn hier?“

Er blinzelte mich an und dann tat er etwas, das mich veranlasste, mich auf meine vier Buchstaben zu setzen. Er hüpfte auf mich zu und öffnete den Schnabel und krächzte: „Anouk!“ Dann schwang er sich in die Lüfte und verschwand zwischen den Baumkronen. Perplex schaute ich ihm nach. Hatte der Rabe gerade meinen NAMEN GEKRÄCHTZT?!

Als mein Hintern mir anfing wehzutun und mir bewusst wurde, dass ich in einer Pfütze saß, stand ich auf und klopfte meinen Mantel ab. Papperlapapp! Das Einzige, was gesprochen hatte, war mein Unterbewusstsein, und das war ganz klar eine Holt-mich-hier-raus-Reaktion gewesen.

Entschlossen marschierte ich den Rest des Weges, der zwar mehr mit platt gefahrenem Gras gemeinsam hatte, aber was sollte man auch von einem Waldweg erwarten? Zu Hause schleuderte ich mir die Schuhe von den Füßen und ging, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch. Ich rümpfte die Nase, als ich in meinem Hamstervorrat für schlechte Zeiten, wie zum Beispiel jetzt, eine Packung Joghurtgummibärchen entdeckte. Jesus, wie ich diese Dinger hasste! Ich zog zwei Packungen Milka-Schokolade aus der Kommodenschublade heraus. Oreo oder Smarties? Oreo gewann schließlich und ich hockte mich, nachdem ich die nassen Sachen gegen bequeme Hausklamotten eingetauscht hatte, auf mein weißes Vintage-Bett. Ach, wenn das Leben doch nur aus so Schokoladenmomenten bestehen könnte, dann wäre ich jetzt zwar kugelrund, aber immerhin glücklich.

Ich versuchte nicht daran zu denken, was in den nächsten Tagen auf mich zukommen würde. Nämlich eine ganze Portion Gruppenhass und verletzter männlicher Stolz. So ein Mist! Aber hätte ich gewusst, was tatsächlich noch auf mich zukommen würde, hätte ich diese Probleme wahrscheinlich mit einem Wink abgetan und gelacht. Tja, wäre, hätte, Fahrradkette …

Später hing ich über meinen Physikbüchern und brütete vor mich hin. Ich glaube, dieser Tag hatte den Jackpot im Mies-drauf-Sein echt geknackt. Ich lehnte mich in meinem Schaukelstuhl zurück (ach, wie ich ihn liebte!), legte meine Beine auf den Tisch und zog Mister Bumblebee, meinen heiß geliebten alten Teddybären, hinter meinem Rücken hervor. Ich schloss die Augen. Unten hörte ich, wie die Tür aufging und wieder geschlossen wurde. Hm, normalerweise sah ich meine Mutter, wenn sie an einem Bild arbeitete, erst wieder zum Abendbrot. Ich wollte sie gerade durch die Türen hindurch begrüßen, da ertönte von meinem Fenster her ein dumpfer Knall. Ich zog instinktiv meine Füße an und fegte somit den gesamten Schreibtisch leer. Erschrocken drückte ich Mister Bumblebee an meine Brust und sah wahrscheinlich wie ein verschrecktes Reh im Scheinwerferlicht eines Autos aus.

Was zur Hölle war das denn gewesen? Ich hob mein Gesicht aus Mister Bumblebees Fell und schaute zum Fenster hinaus. Dort tanzten lauter kleine Federn im Wind. Bewegung kam in mich. Ich war drauf und dran, mein Fenster aufzureißen und auf den Balkon zu springen, als ich sah, was das für ein Vogel war. Ein Rabe. Während ich mit mir haderte, kam Bewegung in das Tier. Es hüpfte auf die Beine, schüttelte kurz seinen Kopf und blinzelte mich an. Völlig gebannt von seinen nachtschwarzen Augen bemerkte ich nicht, wie meine Mutter, alarmiert von dem Knall, die Treppe hochgehastet war und jetzt in mein Zimmer platzte. „Was ist hier –“, sie brach ab, als sie den Raben sah, der nun sie fixierte. Ich drehte mich zu ihr um und sah, dass sie kalkweiß war. Besorgt fragte ich: „Mom, alles gut?“

Doch statt einer Antwort ließ sie krachend meinen Rollladen herunter und fuhr sich hektisch durch die Haare, dabei zitterten ihre Hände wie Espenlaub. Verwundert berührte ich sie am Ellenbogen. Da schien ihr wieder einzufallen, dass ich neben ihr stand, und ihr Blick wurde klarer, wenn auch nicht weniger fahrig. „Pack deine Koffer, wir müssen hier weg!“ Sie ließ mir keine Zeit für irgendwelche Fragen und stürmte aus meinem Zimmer. Im Weggehen rief sie noch über die Schulter: „In fünf Minuten fahren wir!“

„Mama, warte doch mal –“

„Nein Anouk, wir haben keine ZEIT!“

Ich weiß nicht, ob es ihr Tonfall war oder die Tatsache, dass sie mich Anouk nannte, jedenfalls tat ich wie befohlen und stopfte Unterwäsche, Klamotten und natürlich Mister Bumblebee in eine kleine Reisetasche, die ich aus den Tiefen meines Schrankes gezerrt hatte. Ich fragte mich, was plötzlich in sie gefahren war.

Schnell ging ich noch mal auf die Toilette und schleppte dann meine Tasche hinunter in den Flur. Dort stand sie schon, neben sich einen Koffer, ungeduldig mit dem Fuß wippend. Sie sah mich kurz prüfend an, schüttelte dann den Kopf und murmelte: „Nein, dafür ist später Zeit, jetzt müssen wir hier weg.“

Sie wirbelte herum, wickelte sich noch schnell einen Schal um den Hals und machte die Tür auf. Ich selbst band mir gerade die Schnürsenkel, als sie einen spitzen Schrei ausstieß. Ich blickte auf und verlor vor Schreck das Gleichgewicht. Die hatten hier eindeutig ein Rabenproblem.

Vor unserer Haustür hatten sich Dutzende Raben versammelt, unruhig auf und ab hüpfend, als auf einmal ein Flügelschlag ertönte und der größte Rabe – ja der größte Vogel – landete, den ich je gesehen hatte.

Kapitel 5


Er war größer als ich und selbst hier im Flur konnte man den Windstoß spüren, den seine Flügel beim Landen verursachten. Meine Mutter blieb entschlossen im Türrahmen stehen, während ich im Krebsgang rückwärtskroch und leise flüsterte, um das Monstervieh nicht zu verschrecken: „Mama, komm jetzt ganz langsam, ohne hektische Bewegungen, wieder rein und mach dann schnell die Tür zu. Aber gaaaaaanz langsam!“

Doch sie machte keine Anstalten, auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rücken. Ich wollte mich schon gaaaanz langsam aufrappeln und sie hereinzerren, als sie zu meinem Entsetzen einen Schritt auf das Getier zumachte, die Schultern durchdrückte und anfing zu reden oder eher zu zischen. Himmel, klang sie wütend!

„Was bildest du dir ein, ja, was maßt du dir eigentlich an, hier aufzukreuzen? Verschwinde sofort von meinem Grund und Boden!“

„Äh, Mom“, unterbrach ich sie, als sie gerade Luft holen musste, „kannst du die Territorialfrage nicht durch ein Fenster oder eine Wand diskutieren? Also am besten von drinnen?“

Sie nickte grimmig und ich wollte schon erleichtert aufseufzen und wieder gaaanz langsam in den Flur zurückgehen, doch leider folgte sie mir nicht, sondern ballte ihre zierlichen Hände zu Fäusten und schrie dem Federgiganten zu: „Ja, ich werde die Revierfrage klären, und zwar von meinem Auto aus, nachdem ich dich dem Erdboden gleichgemacht habe!“

Der Rabe und ich gaben unisono einen überraschten Laut von uns, als meine Mutter ihre Arme hochriss und die Luft von einem gleißenden Licht erfüllt wurde. Ich öffnete meine zusammengekniffenen Augen und sah irgendetwas aus goldenem Licht in die Luft gezeichnet; bevor ich die Form des Gekrakels jedoch entziffern konnte, ertönte von irgendwoher ein tiefes, volles Lachen. Ich lugte vorsichtig an meiner Mutter vorbei. Der Rabe war verschwunden, an seiner statt stand dort nun ein Mann, wahrscheinlich der bestaussehende, den ich je gesehen hatte.

Ja, selbst Orlando und Leonardo sahen gegen ihn alt, ach was, uralt aus. Er hatte schulterlanges, volles, kupferbraunes Haar mit etwas helleren, zimtfarbenen Strähnen, das zum Teil offen in kleinen Zöpfen, zum Teil in einem Knoten im Nacken zusammengebunden war. Auf seinen Schultern lag ein dickes grauweißes Fell und sein Oberkörper steckte in einem Lederteil, wo die einzelnen Muskeln eingearbeitet waren. Und, huch, er trug einen Rock; ich weiß allerdings nicht, ob das der richtige Begriff dafür war, denn die normale Vorstellung eines Rockes traf dies weniger.

 

Es waren eher breite, schwarze, aneinandergereihte Lederstreifen, die an den Enden mit Nieten besetzt waren und bis zu seinen Knien reichten. An seiner Hüfte hing eine ganze Sammlung von Dolchen und hinter seinen Schultern glaubte ich zwei Schwertgriffe zu erahnen. Zudem trug er Arm und Schienbeinschützer. Aber sein Gesicht war einfach … wow! Seine Haut hatte einen goldenen Schimmer, er hatte hohe Wangenknochen, volle Lippen, eine gerade Nase und nicht mal die Augenklappe, die er trug, konnte sein strahlendes Antlitz entstellen. Alles an ihm kam mir irgendwie bekannt vor und sein Auge, es strahlte in einem gefrorenen, intensiven Hellblau.

Sein ganzes Outfit und die beiden hundegroßen Raben, die nun zu seinen Füßen landeten und sich mit ausgebreiteten Flügeln vor ihm verbeugten, waren vergessen, als er sich schließlich als das offenbarte, was ich schon die ganze Zeit dachte.

„Hallo Anouk, meine Tochter!“

Kapitel 6


Es dann aber zu hören, war dann doch etwas anderes. Zum Glück fuhr meine Mutter dazwischen, denn ich hatte nicht den blassesten Schimmer, was ich hätte sagen oder tun sollen.

„Anouk ist MEINE Tochter OHNE eine“, sie schnaubte verächtlich, „ohne eine nennenswerte Vaterfigur!“

Sie sagte es in einem so kalten Ton, dass mir der Kriegertyp beinahe leidtat. Doch anstatt auf ihren Tonfall einzugehen und wie jeder andere vernünftige Mensch die Flucht zu ergreifen, lachte er wieder aus vollem Halse.

„Du hattest schon immer viel Temperament, ungewöhnlich für eine Albi, meinst du nicht auch?“

Während die beiden weitere Seitenhiebe austauschten, musterte ich ihn. Die Ähnlichkeit zwischen uns war unverkennbar. Wir hatte dieselben Augen, oder na ja, in seinem Fall Auge, dieselben hohen Wangenknochen, denselben vollen Mund. Aber warum kreuzte er jetzt mit seinem Hühnerstall, wie meine Mutter netterweise das schwarze Getümmel um ihn herum bezeichnete, hier auf, und dann auch noch in so einem Aufzug? Sein Auge lag plötzlich auf mir. „Hat deine Mutter dir jemals gesagt, was du bist?“ Neben mir schnappte meine Mutter nach Luft. „Wage es nicht, auch nur einen Ton zu sagen, Odin!“ Odin, war das nicht so ein alter germanischer Gott?

Egal, ich hatte irgendwie das dumpfe Gefühl, in irgendeinem Actionfilm festzustecken. Etwas linkisch kam ich mir schon vor, als ich tatsächlich mit meinem anscheinend völlig gestörten Vater redete. „Ähm, also, du bist also wirklich …“ Ich brachte das Wort Vater nicht über die Lippen, also war er so gütig, meinen Satz zu vervollständigen. „… Vater“, nickte er. Ich atmete geräuschvoll aus. „Und was wolltest du mir vorhin sagen, bevor, ähm, na ja …“ Ich deutete unbeholfen auf meine Mutter.

Er verstand und zeigte kurz mit dem Kinn in Richtung Flur. „Ich denke, wir sollten das lieber drinnen besprechen, wo du dich hinsetzen kannst.“

Ich runzelte die Stirn, das klang ja mal vielversprechend, warum nicht gleich auch noch den Krankenwagen rufen? Anscheinend schien diese Idee meiner Mutter nicht so zu behagen, denn sie räusperte sich und machte schon den Mund zum Protestgeschrei auf, als mein Vater (irgendwie komisch von heute auf morgen einen zu haben) ihr zuvorkam. „Bevor du jetzt richtig loslegst, denk auch an das Wohl unserer Tochter!“ Ups, das war wohl ein Schuss in den Ofen, ich meine: Hallo, welche Mutter lässt sich gerne als selbstsüchtig bezeichnen?!

Die Luft um sie schien förmlich zu knistern und, ach du liebe Zeit, waren das etwa Lichtfunken, die aus ihren Fäusten sprühten?

Ich spürte, wie meine Augen groß wurden. Doch anstatt wieder diese krasse Energienummer wie vorhin abzuziehen, beließ meine Mutter es dabei und sagte abfällig: „Im Gegensatz zu dir denke ich sehr wohl an das Wohl MEINER Tochter und war, im Gegensatz zu DIR, die letzten sechzehn Jahre für sie da!“ Autsch, das hatte sicher wehgetan.

Ich sah, wie seine Schultern leicht nach vorn sackten und sein überirdischer Schein etwas gedämpft aussah. Eins zu null für Mama, denn da hatte sie wirklich recht. Müde fuhr er sich über die Augen und sein Tonfall war so resigniert, als ob er gerade seinen besten Freund verloren hätte. „Wir haben keine Zeit mehr, Liv. Ihre Magie kommt zum Vorschein, ich kann es spüren. Wenn du wirklich das Beste für Anouk willst, dann lass mich ihr alles in deinem Beisein erklären und sie nach Halvar bringen, den einzig sicheren Ort für jemanden wie sie.“

Jemanden wie mich, na danke.

Meine Mutter war im Laufe des Gespräches immer blasser geworden und schien mit der Hauswand verschmelzen zu wollen. Völlig aufgelöst stemmte sie die Hände in die Hüften. „Aber das kann nicht sein, ich habe immerzu ihr Gedächtnis gelöscht, wenn sie wieder angefangen hat zu träumen, ebenso wie meine ganzen Runen, die ich überall im Haus habe. Wir haben die Wandlung schon ihr ganzes Leben unterdrückt! Ich verstehe nicht, was schiefgelaufen ist.“ Verzweifelt warf sie die Arme in die Luft.

Wie bitte? Hatte ich da richtig gehört? Sie hatte mein Gedächtnis gelöscht und meine Wandlung, was auch immer das sein sollte, mit Runen unterdrückt, dieses Gekrakel von den Urmenschen? Okay, das war jetzt vielleicht übertrieben, trotzdem hoffte ich, dass sich das hier alles als ein dummer Scherz entpuppen würde.

Doch mein Vater spielte seine Rolle weiter und entgegnete nüchtern: „Das spielt jetzt auch keine Rolle mehr.“

Seine letzten Worte klangen so bitter, dass ich ihm wieder ins Gesicht schaute. Er sah traurig aus. Bevor ich jedoch lospoltern konnte, was hier eigentlich gespielt wurde, hörte ich meine Mutter seufzen: „Anouk, wir müssen dir etwas sagen. Du bist nicht so wie andere Jugendliche.“

Oh, oh, wenn Eltern das sagten, dann folgte meistens nichts Gutes. Gleich würden sie mir sagen, dass ich etwas Besonderes sei und in eine besondere Wohnanstalt namens Psychiatrie gehören würde, und Psychiatrie dabei so komisch betonen, dass es wie ein tolles Fremdwort klang. Und schon ging’s los. „Anouk, du bist etwas ganz Besonderes.“

Oh, ich war ganz besonders. Vorsicht!

Kapitel 7


Mein Magen hing mir irgendwo zwischen den Kniekehlen und ich hatte das blöde Gefühl, nachher erst einmal der Toilette einen sehr, sehr langen Besuch abstatten zu müssen. Konnten die das Dramapensum nicht ein bisschen runterschrauben? Da ergriff meine Mutter überraschend das Wort, hoffentlich würde sie ihn anbrüllen, dass er verschwinden und nie wieder kommen solle und dass mit mir alles okay sei, aber dann tat sie etwas, das sowohl meine Kinnlade als auch die meines Vaters herunterklappen ließ: „Odin, Anouk, kommt ins Wohnzimmer, aber dein“, sie zeigte auf die Raben, „Federvieh, bleibt draußen!“

Eilig nickte mein Vater, wandte sich um und schaute die beiden großen Raben an, dann drehte er sich wieder um. „Hugin und Munin werden mit den andern hier warten.“

Hugin und Munin, ich meine, echt jetzt, die hatten auch noch Namen?! Mein Vater musste meinen Blick bemerkt haben, denn er schmunzelte und erklärte: „Die Raben sind neben den Wölfen meine treuste Gefolgschaft, deshalb werde ich auch Hrafnass genannt.“ Er seufzte, als ein unausgesprochenes „Hä?“ zwischen uns stand. „Das heißt Rabengott.“ Ich zog die Stirn kraus, der Mann litt eindeutig an Größenwahn! Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, das mit seiner Gegenwart plötzlich viel zu klein schien. Selbstsicher setzte er sich auf den Sessel, in dem ich immer fast versank, und es sah so aus, als hätte das Möbelstück sein ganzes Leben lang darauf gewartet, sein Thron zu sein. Ich schaute den braunen Ledersessel böse an. Verräter!

Ich setzte mich auf die Couch und schaute zwischen meinen Eltern hin und her. Meine Mutter hatte sich gegenüber von meinem Vater aufgebaut, kurz begegneten sich ihre Blicke, was beide schnell wegschauen ließ. Ich räusperte mich, um die beiden auf ihre verstörte Tochter aufmerksam zu machen.

Odin (Vater hört sich einfach nicht richtig an) beugte sich vor. „Du hast keine Ahnung von germanischer Kultur, oder?“ Er seufzte, als ich stumm den Kopf schüttelte. „Dann ist es also an mir, dir dein Erbe zu offenbaren.“

Das klang ja mal dramatisch! Ich versuchte so ernsthaft wie möglich auszusehen, aber mir entfuhr doch ein Kichern, als ich sagte: „Na dann, die Märchenstunde kann beginnen!“

Auf Odins finsteren Blick hin hob ich abwehrend die Hände. Ich war zu dem Entschluss gekommen, dass ich das alles hier am besten einfach wie einen misslungenen Aprilscherz betrachten sollte. Er räusperte sich. „Da wir nicht viel Zeit haben, kann ich dir nur eine Kurzfassung geben, der Rest wird sich später klären. Ich bin ein Gott, genau genommen der Hauptgott der nordischen Götter. Deine Mutter ist eine Lichtalbi, oder wie du es wahrscheinlich nennen würdest, eine Elfe. So etwas wie dich hat es bisher noch nie gegeben, denn Verbindungen zwischen den zwei Gattungen sind selten und verboten, und keiner weiß, was du bist; wir wissen nur, dass du weg von hier musst in eine Schule für Kinder der nordischen Gesellschaft, die Halvarschule in den Flujamooren. Die Sachen, die du brauchst, hast du ja schon gepackt“, fuhr er trocken fort (wahrscheinlich gefiel es ihm nicht sonderlich, dass er der Grund für das alles hier war). „Wir werden jetzt sofort abreisen. Alles, was du dort für den Unterricht brauchst, wird bereits vorbereitet sein. Der Rest wird noch geholt. Ich werde deine Mutter und dich jetzt alleine lassen und draußen warten, wir haben nicht viel Zeit.“

Mit diesen Worten stand er auf und ging mit großen Schritten aus dem Raum. Ich schaute ihm wie ein begossener Pudel hinterher. Hilfe suchend wandte ich mich an meine Mutter.

„Mum, sag mir, dass das nicht wahr ist; sag mir, dass dieser Geistesgestörte nicht mein Vater ist!“

Betroffen dreinschauend ging sie um den kleinen Tisch herum und setzte sich zu mir. „Doch, das ist er, und …“, sie schaute mich streng an, „… je eher du das akzeptierst, desto besser für dich. Er will nur dein Bestes, er hat dich auch schon bei der Schule angemeldet und –“

Entgeistert schaute ich sie an. „Ist das dein Ernst?“

„Was?“

„Du nimmst den Typen in Schutz, der dich und mich vor sechzehn Jahren hat sitzen lassen und jetzt mit Pauken und Trompeten verkündet, er sei Odin und ich müsse jetzt ganz schnell in dieser ach so tollen Schule untertauchen? Hallo? Komm zurück auf den Boden der Realität, Mama!“, sagte ich wütend gestikulierend. „Wenn dieser Mann uns wirklich lieben würde, dann würde er nicht versuchen, uns voneinander zu trennen! Wie kannst du nur diesen … diesen Geistesgestörten immer noch lieben?!“

Kurz wurde meine Welt schwarz. Als ich wieder klar sehen konnte, stand ich ruckartig auf. Meine Hand auf meine brennende Wange gepresst, schaute ich meiner Mutter fest in die Augen, dann drehte ich mich um und stürmte aus dem Wohnzimmer und die Treppen in mein Zimmer hinauf. Weg von meiner Mutter, weg von meinem Vater.

Weg, ich musste weg. Aber ich würde definitiv nicht mit meinem – würg – Vater mitgehen. Entschlossen holte ich einen großen Rucksack aus meinem Schrank und stopfte in blinder Hast alles Mögliche hinein. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch blieb. Ich streifte mir eine Mütze und einen Parka über, ehe ich mich zu meinem Fenster umdrehte und es leise öffnete. Unten hörte ich meine Eltern reden. Sehr schön, dachte ich grimmig, während ihr eure Schlachtpläne macht, habe ich genügend Zeit, unbemerkt zu verduften.

Mir innerlich die Hände reibend, schwang ich meine Beine über das Balkongeländer und griff nach dem dicken Ast der Buche, die vor meinem Zimmer stand. Mit klopfendem Herzen, bemüht, nicht hysterisch loszukichern, schwang ich mich vorsichtig von Ast zu Ast, bis ich hinunterspringen konnte.

Ich rannte los. Zum ersten Mal war ich dankbar, dass wir im Wald lebten. Im dichten Schutz des Blätterdachs drehte ich mich noch mal um. Das konnten die vergessen, dass ich freiwillig in diese Schule gehen würde! Mir innerlich auf die Schulter klopfend, joggte ich los. Ich kramte in meiner Hosentasche nach dem MP3-Player und stellte grinsend „Auenland“ aus „Herr der Ringe“ ein. Ich lief durch den Wald, bis ich zu der Landstraße, der Ader des Lebens, gelangte. Im Schutz der Büsche lief ich immer weiter. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wohin ich wollte.

 

Es begann dunkel zu werden, als ich ein kleines Bushäuschen erreichte und mich erschöpft auf die Bank fallen ließ. Ich studierte die Busfahrpläne und entschied mich, einfach den ersten zu nehmen, der kommen würde, solange dieser nicht wieder zurückfuhr, versteht sich. Ich starrte auf meine völlig verschlammten Schuhe und leise meldeten sich Zweifel und begannen an mir zu nagen. Ich verdrängte sie und versuchte nicht daran zu denken, wie viel Sorgen meine Mutter sich jetzt machen würde. Stattdessen versuchte ich mich darauf zu konzentrieren, wie wütend ich auf sie war und dass ich auf gar keinen Fall nach Hause zurückgehen würde.

Ich schreckte aus meinen düsteren Gedanken auf, als ich Schritte hörte. Meine Hände wurden schweißnass. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, einfach abzuhauen? Was, wenn jetzt irgendein Psychopath um die Ecke kam, um mich um die Ecke zu bringen? Ich unterdrückte ein panisches Fiepen und beruhigte mich ein bisschen, als ich in einer meiner Taschen ein Miniklappmesser fand.

Eine kleine Gestalt setzte sich ohne ein Wort neben mich. Erleichtert sog ich die Luft ein und … ach du liebe Zeit. Von einem auf den anderen Augenblick wurde mir so übel, dass ich befürchtete, in einem Strahl kübeln zu müssen. Als ich mich wieder gefasst hatte, vergrub ich meine Nase in meinem Parkakragen und atmete durch den Mund ein und aus. Dieser Gestank … Ich konnte förmlich dabei zusehen, wie er mich und die ganze Umgebung um mich herum umhüllte. Es roch süßlich-faulig und dazu dieser widerliche Geruch von Laubhaufen, die schon viel zu lange irgendwo lagen. Dieser Geruch, er erinnerte mich an irgendetwas, doch ich wusste nicht an was.

Unauffällig rückte ich Stück für Stück weg von der vermummten Gestalt. Zu meinem Entsetzen rückte sie, nennen wir sie Hugo, Stück für Stück weiter auf und fing jetzt auch noch zu summen an – das schrecklichste Summen, das ich je gehört hatte. Ich stand auf und mein Unwohlsein wuchs weiter und weiter, als auch Hugo sich erhob. Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken, und klappte, während sich in meinem Geist alle möglichen Horrorszenarien abspielten, das kleine Messer in meiner Tasche auf. Die dämmrige Dunkelheit hatte sich inzwischen in eine tiefe Schwärze verwandelt und das Gesumme von Hugo in eine Art Kriegsgesang, der immer lauter wurde – oder vielleicht auch immer näher kam. Wieder schlug mir eine Welle bestialischen Gestanks entgegen, und als ich mich umdrehte, stand er/sie/(es?) direkt vor mir. Meine Muskeln, selbst meine Kiefermuskeln, versuchten mich zum Weglaufen zu überreden. Doch alles, was vorher so gestunken hatte, duftete jetzt nach Blumen, nach Nachhausekommen, nach frisch gebackenen Plätzchen. Wo ich vorhin noch grüne Gestankswolken zu sehen glaubte, umgab uns nun ein Licht. Hugo streckte seine Hand aus und ich legte meine Hand, die nun auch leuchtete, in seine hinein.

Ich blickte mit einem unendlichen Glücksgefühl auf unsere verschränkten Hände; ich wusste nicht, wer ich war oder warum ich hier war; ich wusste nur, dass ich unendlich glücklich war, meine golden leuchtende Hand in seiner bläulichen, schwammigen und knochigen Hand zu sehen. Die bezaubernde Melodie wurde wieder zu diesem abscheulichen Gekreische. Mit einem Aufschrei, der mich selbst überraschte, entriss ich Hugo (unterschätzt wegen des Namens nicht den Ernst der Lage) meine immer noch leuchtende Hand und wankte ein paar Schritte zurück.

Mein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Ich fing an zu rennen, was in einem ungewollten Slalomlauf endete. Was hatte dieses Ding mit mir gemacht? Hugo setzte mir in großen Schritten nach und der beißende Gestank signalisierte mir, dass er mich gleich würde eingeholt haben, als sich etwas um meine Beine wickelte und mich im Straßengraben zu Fall brachte. Als Hugo sich über mich beugte und ich etwas Kaltes, Scharfes an meiner Kehle spürte, wusste ich, woran mich dieser Gestank erinnerte: an Tod, an Verwesung. Ich hätte in diesem Moment schreien und um mein Leben kämpfen sollen, doch das Einzige, was in meinem Kopf Platz hatte, war mein Parka. Ja, mein Parka, ich machte mir Sorgen, ob ich die Flecken jemals wieder rausbekommen würde, und fing an zu fluchen, als ich merkte, dass ich im Schlamm lag. Vergessen war Hugo, es zählte nur noch mein Parka.

Mit einem Ruck stand ich auf und rammte Hugo meinen Fuß zwischen die Beine. Er krümmte sich und ich vernahm, wie etwas mit einem dumpfen Aufprall in den Morast fiel. Schon wieder war da dieses goldene Leuchten, doch bevor ich vermochte, mich um mich selbst zu drehen, wurde das Gesicht von Hugo kurz von jenem Licht erhellt – oder das, was davon existierte. Ich drehte mich um und nahm meine Beine in die Hand. Die Angst hatte mich nun wieder fest im Griff. Mir war bewusst, dass ich jetzt um mein Leben lief. Keuchend hetzte ich in Richtung Waldrand.

Dort angekommen, kniff ich die Augen zusammen und riss meine Arme in die Höhe, um mich vor den tief hängenden Zweigen zu schützen. Schließlich wurde ich wieder einmal von meiner Tollpatschigkeit überwältigt und fiel. Schnell rappelte ich mich auf und kauerte mich an einen dicken Baumstamm. Zitternd saß ich da. Dieses Gesicht. Das, was da hinter mir her war, nach Verwesung riechend, wahrscheinlich meinen Tod wollend, war kein Mensch, war kein Tier. Diese bläuliche, schlaffe Haut, diese leeren Augenhöhlen. Ich unterdrückte meinen Würgereiz und ein Wimmern, als ein lautes Knacken im Unterholz meinen Herzschlag übertönte.

Wieder brach eine Welle des Gestanks über mich herein und das hohe und tiefe Gesumme, das wahrscheinlich sämtliche Geräusche einer Irrenanstalt vereinte, wurde lauter und lauter. Das Einatmen tat vor Angst richtiggehend weh und ich kniff die Augen zusammen, mit der absoluten Gewissheit, gleich zu sterben. Dann, urplötzlich, erstarb das Gesumme und wurde von einem schmatzenden Geräusch ersetzt, das kurz darauf in einem dumpfen Aufschlag endete.