Das Vertrauen der Erde in die Samen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kein Fortschritt ohne Visionen

„Nichts auf der Welt ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Victor Hugo

Visionen…

 ...sehen und denken noch nicht Sichtbares

 ...sind Ausdruck innerer Freiheit und Unabhängigkeit

 ...transformieren alte und manifestieren neue Realitäten

 ...inspirieren und beflügeln

 ...lassen Menschen über sich hinauswachsen

 ...öffnen Türen, wo wir keine vermuten

 ...eröffnen Potentiale, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen

 ...schließen Vernunft und Verstand nicht aus, erheben sich jedoch weit über diese hinaus.

 ...weisen einen möglichen Weg in eine lebenswertere Zukunft

Gute Visionen dienen dem Individuum und dem Gemeinwohl. Ich plädiere dafür, dass wir einander konkurrenzfrei, über Parteiinteressen und andere Begrenzungen hinaus bei der Entwicklung solcher Visionen unterstützen. Konkurrenzfreiheit, Verzicht auf Vergleich und dadurch auf Bewertung widerspricht dem gegenwärtigen, neoliberalen Zeitgeist, der auch unser Schulsystem prägt. Lernen und Leistung, die sich ausschließlich dem Wettbewerb und der Profitmaximierung verschreiben, kommen weitgehend ohne Vision aus und züchten „menschliche Bonsais“ heran – eine Metapher für das Beschneiden und Zurechtstutzen persönlicher Eigen-Art und des jedem Individuum innewohnenden, einzigartigen Potentials, das naturgemäß zur Entfaltung drängt, wo man es zulässt. Eine sozialisierende Institution wie Schule, die den Anspruch hat, auf das Leben vorzubereiten, sollte diese Entfaltung fördern. Noch fehlt mir in unserem Schulsystem allzu oft dieser Blick auf die Einzigartigkeit seiner Mitglieder, noch wird allzu vielen allzu oft vermittelt, nicht zu genügen. Eine Erwartung an die Schule ist, dass sie eine spätere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermögliche. Die Auffassung, dass diese Teilhabe nur über eine gelingende Eingliederung in den leistungs- und wettbewerbsorientierten Arbeitsprozess erreichbar ist, bedarf meines Erachtens einer kritischen Betrachtung. Konkurrenz bedeutet immer auch Leistungsdruck. Die Freude am Tun braucht weder noch. Wir alle hatten in unserem Leben schon des Öfteren dieses so genannte Flow-Erleben, das meist mit kindlichem Spiel assoziiert wird. Dieses Einswerden mit dem, was ich tue, das mich als Ganzes gefangen nimmt, das mich im Einklang sein lässt mit meinem innersten Wesenskern, entbehrt jedes Leistungsdenkens und steht dennoch nicht im Widerspruch dazu. Denn wann und wo ist unsere individuelle Schaffenskraft und Bereitschaft zu persönlicher Höchstleistung größer als in solch magischen Momenten, in denen wir mit unseren ureigensten Stärken und Interessen in Verbindung sind? Eine Schule und im weiteren eine Gesellschaft, die den ganzen Menschen im Blick haben will, muss für Bedingungen sorgen, die nicht den Druck, sondern den Leistungswillen oder besser noch die Freude am (Er-)Schaffen erhöhen. Die Aussage, dass jeder von uns etwas gut kann, darf nicht zur Floskel verkommen, sondern muss auch im Schulsystem gebührend Beachtung finden. Jeder Schüler muss auf seine Weise gut sein dürfen. Es geht nicht darum, einander zu übertreffen oder auszustechen, sondern darum, das zu werden und zu leben, worin unsere einzigartige Bestimmung liegt. Eine Schule, die dem Rechnung tragen möchte, wird ohne Visionen nicht auskommen.

Defizite ist ein Wort…

„Kritik sollte eine Funktion von Liebe sein oder es wäre besser sie zu unterlassen.“ E. Freitag

Der Begriff „Defizit“ suggeriert, dass etwas sein sollte, was nicht ist – oder zu wenig davon, d. h. ein Mangel von etwas Erwünschtem oder Erwartetem. (Was das ist, darüber gibt es in der Regel einen gesellschaftlichen Konsens, der freilich einem Wandel der Zeit und ihrer Erfordernisse unterliegt.) Wird etwas, oder schlimmer jemand als defizitär betrachtet, verheißt das nichts Gutes für den Betreffenden, vor allem wenn er Schüler ist. Ein Defizit zu haben, bedeutet aus der Norm zu fallen, etwas „schuldig“ zu bleiben, über etwas nicht zu verfügen, das allgemein als wichtig erachtet wird. Man (Lehrer, Eltern, Gesellschaft…) macht es sich zur Aufgabe (oft gegen den Willen der Betroffenen), Defizite vor allem durch Maßnahmen der „Förderung“ zu beheben. Ist der Erfolg bescheiden und bleibt unter dem Erwarteten zurück, macht sich auf allen Seiten Enttäuschung breit: bei den Geförderten, die selbst bei größter Kooperationsbereitschaft oft bald an ihre Grenzen stoßen und sich als Versager wähnen, sowie bei den Förderern – wohl aus genau denselben Gründen. Da überdies meist weitaus mehr Zeit in die Behebung von mangelhaft ausgebildeten, als Schwächen bewerteten Fertigkeiten investiert wird als in die Förderung von dem, was gut beherrscht wird, die sogenannten Stärken, können sich letztere nicht oder nur unzureichend in dem Maß entwickeln, das ihnen zu eigen wäre. Vor allem dann, wenn diese nicht als „systemrelevant“ (d. h. der Gesellschaft bzw. Wirtschaft dienlich) bewertet werden, ist ihnen ein Aufschub auf später oder eine „Auslagerung“ in die Freizeit (bestenfalls noch in ein Freifach) bestimmt.

Aber nicht unsere Schwächen, unsere Stärken sind es, auf die wir unser Leben gründen. (Gäbe es überhaupt eine Fähigkeit, deren Erwerb allgemein verbindlich sein sollte, dann die, mit sogenannten Schwächen umzugehen und mit ihnen gut leben zu lernen.) In den seltensten Fällen wird jemand im späteren Leben eine Laufbahn einschlagen, die ihm Fertigkeiten abverlangt, über die er nicht (ausreichend) verfügt – und wenn doch, dann wird er Mittel und Wege finden, diese zu kompensieren. (So soll es angesehene Schriftsteller geben, die trotz ausgeprägter Rechtschreibschwäche – früher als Legasthenie bekannt – gut vom Schreiben leben können.) Deshalb sollte es unsere höchste Priorität sein, jeden Schüler dahin zu begleiten, dass er am Ende der Schulzeit um seine persönlichen Fähigkeiten weiß und diese auch ressourcenvoll nutzen kann. Da Begabungen äußerst vielfältig und nicht vergleichbar sind, sondern einander ergänzen, und vor allem immer der jeweilige Kontext über deren Nützlichkeit entscheidet, wäre genau genommen jede Form von Bewertung hinfällig. Eine Fähigkeit wäre eine Fähigkeit, jede Polarisierung und Kategorisierung in Stärken und Schwächen würde sich erübrigen.

Die schulische Realität ist davon freilich noch weit entfernt. Wer für seine Begabungen und Interessen innerhalb des gegenwärtigen Fächerkanons keine Nische für Entfaltung findet, wird, je nach Persönlichkeit und Temperament, Strategien entwickeln, um den Schaden für sich persönlich gering zu halten (von Sich-Arrangieren mit den Gegebenheiten bis hin zur Verweigerung). Viele mit für die Schule „belanglosen“ Stärken ausgestattete SchülerInnen müssen diesen Umstand mit erhöhtem Einsatz kompensieren, wenn sie nicht als Schulversager abgestempelt werden wollen. Dies bedeutet für sie, wiederholt an ihre Grenzen zu stoßen, immer wieder aufs Neue vor Augen geführt und bestätigt zu bekommen, dass sie nicht können, was sie nicht können, und auf die wichtigsten „Nebenwirkungen“ gelungener Potentialentfaltung – Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen – zumindest für die Dauer des Schulbesuchs zu verzichten.

Ich sehne die Zeit herbei, in der wir alle uns einer Stärkenkultur verpflichtet fühlen und damit einem Menschenbild, das niemand mehr fürchten muss. Wir alle haben die Wahl, worauf wir unseren Blick richten wollen: auf das, was wir haben oder das, was uns fehlt, auf das Gelingende oder unsere „Defizite“. Die Überlegung, wie wir selbst von anderen gerne wahrgenommen werden möchten, dürfte uns diese Wahl erleichtern. Wenn wir von einer globalen Verantwortung ausgehen, vorhandene Ressourcen so zu verwalten, dass sie uns allen zum Wohl gereichen und nicht zum allgemeinen (menschlichen) „Bankrott“ führen, dann kann die Verantwortung von PädagogInnen keine grundlegend andere sein: „Wie möchte ich mit den Schätzen (Ressourcen) meiner Kinder / Schüler umgehen, dass sie sich vermehren und ihre Kraft entfalten?“ wäre dann eine selbstverständlich gestellte Frage, in der sich ein Menschenbild ausdrückt, das sicherlich jeder gerne auch für sich selbst in Anspruch nehmen möchte. Mit dem Lehrer als „Schatzmeister“ würde der defizitbehaftete Begriff Fehler eine Umdeutung erfahren in das, was er genau genommen ist: eine Lern-, Veränderungs- und Entwicklungschance – und erst dann sind Schule und Unterricht für den Menschen wirklich lehrreich.

Darf ich fragen…?

Nachdem die Realität, wie wir sie konstruieren, das ist, was auf uns wirkt, das heißt unserer Wirklichkeit gleichkommt, lohnt es sich, diese gelegentlich zu überprüfen. Forschen wir nach, was wir von dem, was wir als unsere (nicht nur schulische) Realität vorfinden (noch) als sinnstiftend und bewahrenswert erachten und lassen wir uns angesichts der vielen Unstimmigkeiten, auf die wir dabei stoßen mögen, nicht entmutigen. Jedem Problem wohnt mit Bestimmtheit mindestens eine Lösung inne und wenn diese zunächst darin liegt, die Sichtweise zu ändern.

Sinnhaftigkeit

 

Stell dir vor, die Schule wäre noch nicht erfunden und wir müssten uns überlegen, wie wir junge Menschen dabei unterstützen könnten, ihren eigenen Weg ins Leben zu finden.

Würde dir das bestehende Schulsystem in den Sinn kommen?

Individuelle Förderung und „Motivation“

Stell dir vor, du bekämst jeden Tag etwas zu essen vorgesetzt, das du nicht magst, und dürftest nicht eher aufstehen, bis du aufgegessen hast. Und die einzige Überlegung des Kochpersonals wäre, wie man dir die ungeliebte Kost schmackhaft machen könnte.

Würdest du rascher essen und deine Vorlieben ändern?

Soziale Gerechtigkeit

Stell dir vor, du möchtest eine Reise deiner Wahl antreten, doch der Reiseveranstalter hätte nur eine Destination für alle Teilnehmer im Angebot. Die einzige Wahl bestünde in der Route, dem Verkehrsmittel und der Reisedauer.

Würdest du an dieser Reise teilnehmen wollen?

Soziale Anpassung

Stell dir vor, du wärst gezwungen, dich ständig mit Bedingungen zu arrangieren, die andere für dich in guter Absicht, aber in Unkenntnis deiner Vorlieben festgelegt haben.

Wärst du bereit deinen Eigen-Sinn zu opfern?

Verhaltensauffälligkeit

Stell dir vor, du würdest als einzige/r fortwährend gegen dir als unzumutbar empfundene Bedingungen rebellieren.

Würdest du dich willkommen fühlen?

Optimierung

Stell dir vor, dein Leben wäre ein Fluss, dessen Lauf nach externen Erfordernissen reguliert wird.

Würdest du dich freiwillig verbiegen (lassen)?

Traum

Stell dir vor, ein Couturier bekäme den Auftrag, dir etwas auf den Leib zu schneidern, das dir in Größe, Form und Farbe voll und ganz entspricht.

Würdest du aus diesem Traum erwachen wollen?

Liebe

Stell dir vor, du hättest die Fähigkeit, jedes Kind mit Gottes Augen zu sehen.

Welche Schule, welche Bildung würdest du ihm anbieten?

Reden wir über Vertrauen

Wenn ich ein Rezept für die Gesundung der Schule verschreiben müsste, dann wäre es auf eine hohe Dosis Vertrauen ausgestellt: Vertrauen in die Selbstentfaltungskraft menschlichen Potentials, die die natürliche Entwicklung jedes Einzelnen mühelos in Fluss hält. Oder in anderen Worten: Vertrauen in eine höhere Intelligenz – auch Gott genannt –, die uns geschaffen hat und ihre Schöpfung in und durch uns aufrechterhält und weiterführt. Ans „Machen“ gewöhnt, ist uns das Gottvertrauen abhanden gekommen. Dieses Vertrauen, das sich durch Nicht-Eingreifen auszeichnet und uns schon deshalb Angst macht, weil wir meinen, die Dinge würden aus dem Ruder laufen, wenn wir dieses erst mal aus der Hand geben oder anderen überlassen. Dabei geht es nicht darum, die Hände in den Schoß zu legen oder Dinge an andere zu delegieren, sondern um die Fähigkeit, zur Seite zu treten und den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen – im Wissen um die intelligente Selbststeuerungskraft, die der Natur und damit uns allen, nicht nur physisch (Atmung, Blutkreislauf, Verdauung…), innewohnt (darüber später mehr). Dass wir, wenn wir um uns und in die Welt hinaus blicken, oft an einer intelligenten Kraft zweifeln, liegt nicht daran, dass es sie nicht gäbe, sondern vielmehr an unserem „Machertum“. All die Missstände und beklagten Übel unserer Zeit sind nicht einem Zuviel an (blindem) Vertrauen geschuldet, sondern einem Mangel an eben diesem. Dort wo Misstrauen und Kontrolle die Vorherrschaft übernehmen und „Macher“ auf den Plan treten (deren es mehr gibt als die Welt verkraftet), mehrt sich all das, was wir durch Kontrolle zu unterbinden hoffen – von Unehrlichkeit und Betrug über Aggression und Rebellion bis hin zu Verbrechen und Terrorismus. (Studien zufolge steigt die Zahl der Verbrechen dort, wo das Polizeiaufgebot (=Kontrolle) erhöht wird; terroristische Anschläge haben seit deren Bekämpfung sichtlich nicht ab- sondern zugenommen…). Wir wurden schon als Kinder (auch in der Schule) gelehrt und lehren wiederum unsere Kinder zu beten „Dein Wille geschehe…“ und fürchten doch nichts mehr als den Verlust der Kontrolle. Ein Misstrauensantrag an Gott – wer sich mit dem religiösen Begriff schwer tut: ein Misstrauensantrag an unsere eigene (menschliche) Natur. Vertrauen ist eine freie Entscheidung. Eine Entscheidung, für die es nie zu spät ist und die ich jeden Tag neu treffen kann. Deshalb sehe ich zuversichtlich gestimmt immer noch die volle Hälfte des Glases, lasse mich, meinetwegen zu optimistisch oder naiv-vertrauensvoll nennen und hierin keines Besseren belehren. Inmitten (nicht nur) pädagogischen Gestrüpps und festgefrorener Strukturen sehe ich farbenfrohe Blüten als hoffnungsvolle und Mut spendende Zeichen dafür, dass es „Frühling“ werden könnte.

Die Verantwortung der Blüten für den Frühling

In jedem System bedarf es zwecks Erhalt und Stabilisierung des ideologischen Grundgerüsts und Überbaus (Normen, Werte, Überzeugungen, Unternehmensphilosophie...) einer Übereinkunft bezüglich bestimmter zu erbringender Leistungen und Haltungen seiner Mitglieder. Immer wieder wird Nicht-Entsprechendes dem Fortbestand gesellschaftlicher Systeme zuliebe in systemverträgliche Bahnen gelenkt und Nonkonformismus „absozialisiert“. So wie die etablierten Systeme selbst, hat auch diese Methode aufgrund der moralisch-sozialen Bindung des Einzelnen an das Ganze und der damit verbundenen Vorteile (Sicherheit, Beständigkeit, Orientierung, Belohnung…) lange Zeit funktioniert.

Die zunehmende, oft beklagte Emanzipation des Individuums vom Kollektiv, wird meist gleichgesetzt mit egoistischer, persönlicher Selbstverwirklichung und Selbsterfüllung auf Kosten anderer. Gut für sich selbst zu sorgen hat jedoch richtig verstanden nichts mit Egoismus zu tun, sondern mit eigenverantwortlichem Denken und Handeln. Eigenverantwortung ist nicht von der Verantwortung für das Gemeinwohl zu trennen: soziale Verantwortung für die Mitmenschen, die Systeme, in die man eingebettet ist, für die Umwelt – für alles, an dem man irgendeinen Anteil hat. Wer diese Teilhaberschaft (an)erkennt, der versteht, dass er bei all seinen Überlegungen, Entscheidungen und Ausführungen alle und alles mitbedenken muss. Der wird anderen die Behandlung angedeihen lassen, die er gerne für sich selbst beanspruchen möchte. Der wird sich im Wahrnehmen seiner anteilsmäßigen Mitverantwortung im „Winter“ für den „Frühling“ engagieren, auch wenn er selbst „warm angezogen“ ist (oder in anderen Worten: Der wird sich für die Behebung von Missständen einsetzten, selbst wenn sie ihn nicht persönlich betreffen). Systemische „Kosmopoliten“, wie es sie in jedem System gibt, kommen, dank ihrer hohen Resilienz, Toleranz und Anpassungsfähigkeit, oft vereint mit bedingungsloser Pflichterfüllung, in nahezu allen Systemen auch unter widrigsten Bedingungen gut zu Rande. Allesamt vorteilhafte Tugenden, die sich für das persönliche Wohlergehen förderlich (in totalitären Systemen als lebensrettend) erweisen können. Auf die Schule gemünzt: Pflichtgetreue (Muster-)SchülerInnen sind allerorts erwünscht und geschätzt. Dem experimentierfreudigen Lehrer gestatten sie Versuch und Irrtum und damit den unverzichtbaren Erwerb von Erfahrung und Übung auf dem pädagogischen Parkett. Für und durch sie gestaltet sich der Schulalltag reibungslos. Pädagogische „Schnitzer“ verzeihend und jede an sie gerichtete Erwartung widerstandslos erfüllend, gewährleisten sie einen ungehinderten Unterrichtsablauf und eine problemlose Weiterführung des gewohnten Gehabt-wie-bisher. Dadurch tragen sie – freilich unabsichtlich – dazu bei, dass das System über Jahre hinweg in einer längst nicht mehr zeitgemäßen und für andere „weniger Tugendhafte“ lebensfeindlichen Form überdauern kann. (Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich bin allen je unterrichteten pflichteifrigen SchülerInnen von Herzen dankbar, haben sie mich doch im Schulsystem zunächst einmal praxisschockfrei ankommen und Fuß fassen lassen und mir ermöglicht, mich „pädagogisch zu entfalten“). In einem baufällig gewordenen Gebäude, wie es auch das Schul- und Bildungssystem bildlich gesprochen ist, wird jedoch von Seiten der Verantwortlichen keine Notwendigkeit einer Renovierung wahrgenommen, solange sich dessen Bewohner auch nur einigermaßen gut mit den bestehenden Mängeln arrangieren. Schulverweigerung, Verhaltensauffälligkeiten, ADHS, Mobbing, Zunahme an Krankenständen und Burnout-Symptomen bei LehrerInnen wie auch SchülerInnen aufgrund von Leistungsdruck, Überforderung, Versagensängsten…, um nur einige systemisch mitverursachte Gründe zu nennen, weisen schon seit langem darauf hin, dass dieses „Gebäude“ in einem Zustand ist, dem keine Reparatur in Form von „Flickwerk“ mehr zu einer lebensförderlichen Sanierung verhelfen kann. Die Stimmen, die sich für einen Totalabriss mit komplettem Neuaufbau aussprechen, mehren sich. Aber vor allem das „indirekte Votum“ wird immer lauter und unüberhörbarer: die Stimmen all jener SchülerInnen, die eine sich über Direktiven hinwegsetzende Aufmüpfigkeit an den Tag legen, als mehr oder weniger unbewussten Widerstand gegen inhaltlich und formal nicht mehr kompatible Bedingungen. Aber auch die Stimmen derer, die durch bewusst kritisches Hinterfragen und Verweigern unzumutbar empfundener Anforderungen auf sich aufmerksam machen und mitunter eher selbstschädigende Konsequenzen in Kauf nehmen als ihren Widerstand aufzugeben. Gerade diese „Aufbegehrer“ sind Hoffnungsträger der Erneuerung, des „Pädagogischen Frühlings“. Einzelkämpfer allesamt, ungeeint und im unorganisierten Widerstand, auf sich allein gestellt, ohne jede Befugnis, weg wollend, aber nicht wissend wohin, brauchen sie Verbündete, die über ausreichende Orientierung verfügen – nicht, um ein Zurück, eine Umkehr zu ermöglichen. Um ein Vorwärts auf neuen Wegen anbieten zu können, die für alle gut begehbar sind. Ganz verschiedene, demokratisch aushandelbare Wege, die wir ebenfalls so verschiedenen PädagogInnen selbst gut bereiten und begleiten können. Eine Passung des Systems an die jungen Menschen, nicht umgekehrt, nicht als Weg des geringeren Widerstands, sondern der besseren Einsicht wegen, kommt auch uns zugute: Wer will schon ewig moralisieren, Vernunft predigen oder trickreich motivieren müssen? Vertrauen stärken (statt Kontrolle), dass Menschen auf für sie passenden Wegen sich gerne und freiwillig fortbewegen, ihnen dabei mit Freude zusehen dürfen, ihre (Fort-)Schritte beobachten, das wäre wie Tauwetter nach einem strengen, lange andauernden „pädagogischen Winter“. Dennoch gilt: kein Aufbruch ohne Zielvision – zu frühe, ungeduldige Blüten halten dem Frost nicht stand oder bringen keine Frucht hervor. Ein „erfolgreicher Frühling“ braucht gutes Timing und bedarf der entschlossenen, couragierten, mitverantwortlichen und demokratischen Beteiligung aller Blüten.

Die Demokratie bejahen, heißt davon Gebrauch machen und machen lassen. Eine von durchgängiger Reglementierung und autoritärer Verordnung von Bildungskonzepten geprägte Bildungs-„Kultur“ hat mit demokratischen Verhältnissen nichts gemein. Der Pädagoge, dem die Befähigung seiner SchülerInnen, demokratische Prinzipien anzuwenden und diese zu verinnerlichen, am Herzen liegt, muss diese zunächst einmal dazu anleiten, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Wer schließlich beginnt, im Sinne demokratischer Erziehung zum kritischen Hinterfragen eingewachsener Strukturen und Muster zu ermutigen und eigenständige Denk- und Entscheidungsprozesse zu fördern, der kann am Ende des Tages nicht wieder zur alten Agenda übergehen. Erziehung zur Demokratie braucht das gelebte Vorbild, kein sinnentleertes, inhaltsloses Lehrstück, der bloßen Erkenntnis willen ohne Fortsetzung in einer reellen „Performance“.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?