Lebendige Seelsorge 3/2019

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Beschämte Opfer, schamlose Vertuscher und unverschämte Täter

Strange Encounters mit der unheiligen Trinität des sexuellen Missbrauchs

Seit Langem war zu ahnen, dass die Identitätspolitik nicht gut ausgehen konnte, die seit Ende der 1970er Jahre wie in anderen Religionsgemeinschaften auch in der katholischen Kirche Einzug gehalten hatte. „La revanche de Dieu“ hat Gilles Kepel diese scharfkantige public religion genannt (Kepel). Aber der Widerspruch gegen säkularen Relativismus war viel zu wenig von einer schweigenden, doch übergroßen Mehrheit der Gläubigen getragen. Für neue geistliche Gemeinschaften wie Legionäre Christi, Das Werk, La Famille Saint Jean, Communauté des Béatitudes etc., die einen Promille-Bereich der Weltkirche ausmachen, war die Revanche jedoch attraktiv genug, sich ihr hinzugeben. Seit Johannes Paul II. belegte diese Identitätsmatrix die Spitzen der katholischen Hierarchie und fand deshalb breite mediale Aufmerksamkeit. Man solle keine Angst haben, katholisch zu sein, so das Motto des Pontifikats. Hans-Joachim Sander

Neben rubrizierter Liturgie, katechetischen Weltjugendtagen und disziplinierenden Bischofsernennungen spielte dabei die Sexualmoral eine tragende Rolle. Sie sollte die überlegene Wahrheit einer mit göttlicher Offenbarung verknüpften Wertehaltung demonstrieren, die im ausgemachten sexuellen Relativismus dieser Welt unweigerlich Widerspruch erfahren musste. Das wiederum, so das Kalkül der Revanche, würde die katholische Identität umso mehr qualifizieren.

ZWAR NICHT VON ANGST, ABER VON DIKTATORISCHEM RELATIVISMUS BESCHÄMT

Johannes Paul II. hatte Recht, dass niemand vor dieser Moral Angst haben müsse. Aber der Sinn seiner Aufforderung erwies sich anders als intendiert. Die mit klaren katholischen Kanten propagierte Sexualmoral hat den sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Nonnen durch Priester nicht verhindert, ist dessen Vertuschung durch Entscheidungsträger in der Hierarchie nicht in den Arm gefallen und hat den Ausgleich mit Opfern nicht kostspieliger gemacht. Kein Täter oder Vertuscher musste sich vor ihr ängstigen, wenn nur deutlich genug eine sehr katholische Identität zur Schau getragen und anderen als homogenisierbare Einheit aufgedrängt wurde. Jetzt, in der Skandalisierung dieser Bigotterie, zeigt sich erschreckend klar: Die Wahrheitsansprüche über Sexualität blieben nicht nur außerhalb der katholischen Welt bedeutungslos, sondern auch innerhalb sinnlos. Das führt zur herben Ernüchterung. Zwar musste niemand vor katholischer Moral Angst haben, wer in sexuellen Missbrauch verstrickt war, aber all jene müssen sich nun deren überheblicher Missachtung schämen, die sich noch mit Kirche identifizieren. Mit dieser Beschämung hat die Identitätsmatrize schließlich doch die schweigende Mehrheit der Gläubigen erreicht. Das ist dreifach virulent in der Scham der Betroffenen, was Priester ihnen antaten, in der schamlosen Vertuschung von Entscheidungsträgern, die das kalkuliert versteckten, und in der Unverschämtheit der Täter, die geistliche Erhabenheit nutzten, um Opfer anzulocken und dann mit der Schande allein zu lassen. Das ist so etwas wie die unheilige Trinität des sexuellen Missbrauchs; sie isoliert die beteiligten Personen voneinander und verkettet sie zugleich im Unwesen selbstgerechter Macht. Die Konfrontation mit ihr wird auf längere Zeit nicht vergehen. Zu erwarten sind eher weitere Etappen einer langen kirchlichen Wüstenwanderung; die Bigotterie zwischen Propagierung ewig-verwerfender Wahrheiten und klammheimlich gelebter Praxis in Sachen Homosexualität ist schon am Horizont erkennbar.

Hans-Joachim Sander

geb. 1959, Dr. Dr. theol. habil., seit 2002 Universitätsprofessor für Dogmatik an der Universität Salzburg; aktuelle Publikation: „Glaubensräume.

Topologische Dogmatik (Bd.1: Glaubensräumen nachgehen)“ (2019).

Das belegt jene Diktatur des Relativismus, von der Benedikt XVI. so überzeugt am Vorabend des Konklaves sprach, das ihn wählte. Aber auch dieser Sinn erweist sich ganz anders als eigentlich intendiert. Diese Diktatur fand innerhalb der Kirche statt, getragen von Mitgliedern ihrer Hierarchie. Alle Missbrauchsberichte bisher geben von einem „circle of secrecy“ beredtes Zeugnis, wie der Bericht der Grand Jury für Pennsylvania diesen Relativismus nennt. Über Jahrzehnte hat die Kirche die Peinlichkeit einer Tat für sie selbst höher bewertet als die Pein der Betroffenen durch die Tat.

In der Skandalisierung der Bigotterie zeigt sich:

Die Wahrheitsansprüche über Sexualität blieben außerhalb der katholischen Welt bedeutungslos, innerhalb sinnlos.

Daran ändert auch der peinliche revanchistische Text nichts, den Joseph Ratzinger als Altbischof von Rom kürzlich veröffentlichte, um die Kirche selbst in die Taxonomie der Opfer einzureihen und stattdessen eine promiske 68er Generation, missliebige autonome Moraltheologen sowie Priesterseminare, die seit den 1970er Jahren angeblich seine Theologie ausgrenzten, als Verursacher des Missbrauchs zu beschuldigen. Allerdings springen zu deutlich die Selbstentschuldigung eines an hoher Stelle Verantwortlichen, der Verklärungshabitus eines vergangenen Zeiten nachtrauernden Theologen und ein hämisches Ressentiment über tote Erzfeinde ins Auge. Die Mehrheit der Gläubigen wird sich davon nicht Sand in die Augen streuen lassen. Mit der Komplexität ihrer Beschämung durch den sexuellen Missbrauch bleiben die Gläubigen weltweit allein.

Menschen haben nicht nur Schwächen, sondern auch Stärken. Das gilt auch für die genannten Päpste, ihre Pontifikate und jene geistlichen Gemeinschaften, die deren Identitätspolitik in die Tat umsetzen wollten. Es wäre vermessen, ihnen jegliche Stärke zu bestreiten. Ebenso ist offenkundig, dass die Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch nicht dazu gehört. Und leider sieht es derzeit nicht danach aus, dass sich das nicht ins Pontifikat von Franziskus verlängert.

NACH DEM SPÄTSOMMER DES ERNEUERTEN PAPSTTUMS

Seine Abschlussrede zur großen Missbrauchskonferenz im Vatikan war nicht geeignet, hinreichend zu respektieren, wie wenig die Opfer des jahrzehntelangen Missbrauchs jetzt noch jene Kinder sind, denen sich die Kirche peinlich berührt, was diesen geschah, mit altväterlichem Gestus zuwendet. Vom patriarchalen Habitus einer Kirche über „das Herzstück ihrer Mission“ beherrscht, „das Evangelium den Kleinen zu verkünden und sie vor den reißenden Wölfen zu schützen“ (Papst Franziskus), übersieht die Ansprache, dass aus missbrauchten Kindern längst erwachsene Betroffene sexualisierter Gewalt geworden sind, die außerhalb der Aula unerhört mit ihren Anliegen stehen blieben. Für das, was sie nicht nur zu sagen, sondern worüber sie die Kirche zu belehren hätten, hat Papst Franziskus bisher keine Augenhöhe erreicht, obwohl er seit seinem verunglückten Chile-Besuch dazugelernt hat. Auch hier muss ich differenzieren. Der gegenwärtige Papst hat erreicht, dass die Verantwortlichen in keiner Region der Weltkirche mehr abzustreiten wagen, vom sexuellen Missbrauch getroffen zu sein. Das ist durchaus eine kirchliche Leistung. Aber sie ist unter vernünftigen Maßstäben nicht sehr groß, weil man das schon vorher wusste. Jedes Bestreiten, dass kirchliche Führungsclubs, sich erhaben wähnend, dem Missbrauch Vorschub leisteten, und alles Belehren, das eigentliche Problem wären die permissive Gesellschaft und diese dann mit gelebter Homosexualität abnickenden Klerikerkreise, trifft deshalb längst auf ein Kopfschütteln, das sich noch nicht einmal mehr empört.

Eine unzeitgemäße Identitätspolitik kann sich die katholische Kirche angesichts der Massivität des Missbrauchs nicht mehr leisten. Die Politik der Revanche verschärft nur eine beredte Sprachlosigkeit. Selbst binnenkirchliche Beflissenheit, wieder Herrin der Lage zu werden, und beschämte Entschuldigungen, es diesmal wirklich anzugehen, genügen nicht mehr. Der Worte, die vom Goldstandard konkreten Handelns nicht gedeckt sind, gab es seit den spotlight-Enthüllungen von 2002 in Boston mehr als genug. Das Mauern des gegenwärtigen Papstes gegen radikale und sehr schmerzliche Veränderungen in der Kirche, das er von seinen Vorgängern übernommen hat, steht daher wenig überzeugend im Raum. Es wird auch seine außerkirchliche Reputation zunehmend mit Mehltau überziehen.

Eine unzeitgemäße Identitätspolitik kann sich die katholische Kirche nicht mehr leisten. Die Politik der Revanche verschärft nur eine beredte Sprachlosigkeit.

Selbst wenn es den viel beschworenen Machtkampf im Kardinalskollegium sowie mit der eigenen Kurie tatsächlich gäbe, ist nicht einsehbar, warum Papst Franziskus das auf einer Position, die mittlerweile 47% der künftigen Päpstwähler selbst ernannt hat, obendrein mit Infallibilität und Jurisdiktionsprimat ausgestattet ist, nicht zur Entscheidung bringen könnte. Und wenn er schwerwiegende Folgen eines primatialen Machtwortes fürchtete, stehen als Alternative mehr als genügend kollegiale Sonderorgane wie Synoden und Konzil zur Verfügung. Klar ist bisher lediglich, dass es so nicht weitergeht. Unklar bleibt aber, ob die nötige Selbstrelativierung überhaupt erreicht ist, damit es weitergeht. Es drängt sich der Eindruck auf, dass wir in den ersten Jahren des Franziskus-Pontifikats lediglich den Spätsommer eines globalisierten erneuerten Papsttums erlebt haben, dessen Blätter in den kalten schwarzen Nächten des kirchlichen sexuellen Missbrauchs jetzt sichtbar abfallen. Die grundkatholische Einstellung, dass der Papst es schon richten wird, wenn es richtig eng wird, und dass wir einfachen Gläubigen nur Geduld haben müssen, erweist sich bestenfalls als Utopie. Wahrscheinlich aber handelt es sich um eine Illusion und man muss nüchtern konstatieren: Jenes Papsttum, das seine Erneuerung in der globalisierten Welt an eine Identitätspolitik nach innen gekoppelt hat, ist offenbar von der Komplexität des Problems nach innen und außen überfordert. Es kann das allein auch gar nicht schaffen und steht händeringend im größten Glaubwürdigkeitsverlust seit der Reformation. Natürlich hilft dann Gottvertrauen. Aber es ersetzt nicht den Mut zu demütigen Aktionen, um die Kirche von der Absturzkante wegzubringen, an die ihre scheinheilige Identitätspolitik sie manövriert hat.

 

Natürlich hilft Gottvertrauen – aber es ersetzt nicht den Mut zu demütigen Aktionen.

SUBALTERN UND DOCH DIE WAHRE ALTERNATIVE

Stampft sie dort mit auftrumpfender Selbstgerechtigkeit auf, ihr könne aufgrund Gottes Beistands nichts passieren, wird sie unversehens über die Kante treten und abstürzen. Erst wenn sie ihre revanchistische Identitätsmatrize opfert, also demütig wird, erschließen sich weiterführende Wege weg von der Kante. Ein Angriffsmodus gegen andere bringt sie nicht gegen eigene Scheinheiligkeit voran. Es genügt daher nicht, sich auf klerikalen Machtmissbrauch zu fokussieren, weil bereits der Machtgebrauch einer sich überlegen fühlenden Identität in das Missbrauchsproblem verstrickt ist. Sie schiebt Opfer dorthin ab, worüber Gayatri Spivak fragt: „Can the subaltern speak?“ (Spivak). Subaltern ist, wer spricht, aber nichts zu sagen hat, was andere erfassen wollen/können, ohne dass diese damit eigene Machtinteressen verbinden. Subalterne werden in der Regel dem geopfert, was diese Interessen nach vorne bringt.

Betroffene sexualisierter Gewalt sind in der Kirche Subalterne. Sie sprechen, aber kommen mit ihren Anliegen nicht zu Wort, obwohl ihr Fall von rechts wie links aufgegriffen wird, also von jenen, die immer schon reformorientiert waren, sowie jenen, die es nicht lassen wollen, bigott zu moralisieren. Beide bringen jeweils ihre längst vorhandene Agenda vor. Was im normalen kirchenpolitischen Streit legitim wäre, verkennt die schwarze Tiefe der Erschütterung. Es geht nicht bloß darum, wie Kirche gestaltet werden muss, sondern ob sie erhalten werden kann.

Der sexuelle Missbrauch von Kindern, Jugendlichen, Nonnen durch priesterliches Führungspersonal ist nicht einfach ein Unfall der Kirchengeschichte, die sich bald wieder in erhabener Reinheit erheben wird. Er ist auch kein Beleg für sattsam bekannte Reformen, so sehr sie längst überfällig sind. Er bringt vielmehr die Souveränität zum Einsturz, an der sich die Selbstidentifizierung dieser Kirche als übernatürlicher Staat aufgehängt hat: „[U]nd – was höchst wichtig ist – sie ist eine ihrer Art und ihrem Recht nach vollkommene Gesellschaft (societas perfecta), da sie die für ihre Erhaltung und Tätigkeit notwendigen Hilfsmittel nach dem Willen und durch die Wohltat ihres Gründers alle in sich und durch sich selbst besitzt“ (Leo XIII., Enzyklika Immortale Dei, DH 3167).

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Identitätsmatrix dieser neuzeitlich-modernen Proklamation zum Staat, was societas perfecta nun einmal bedeutet, weder bestätigt noch übernommen. Aber es hat mit sich machen lassen, dass die Selbstverstaatlichung den kirchlichen Machtanspruch nicht auflösen musste, wie die Notae praevia zu Lumen gentium belegen.

Das war ein Fehler, der sich in den Skandalen des sexuellen Missbrauchs bitter rächt. Er ist nicht von außen ausgelöst, er konnte sich vielmehr deshalb mitten in der Kirche ausbreiten, weil er an der Phobie ihrer Eigenstaatlichkeit kapitalisieren konnte. Denn um der Erhaltung ihrer Macht willen darf nur das sichtbar werden, was für Kirche spricht, während alles, was gegen sie spricht, ebenso verschämt wie schamlos zu verheimlichen ist. Zugleich ist nichts in diesem Anspruch vorhanden, was für die Bewältigung dieser innerkirchlichen Verletzungen von Menschenrechten benötigt wird: weltliches Strafrecht, kritische Öffentlichkeit, unabhängige Erforschung der Personalakten und nicht zuletzt der riskante Bruch von Verschwiegenheitsversprechen, die kirchliche Repräsentanten mit Opfern des Missbrauchs vereinbart haben. Ohne das werden weder die gewaltigen Ausmaße des Problems sichtbar, noch ist der Anfang eines Anfangs zu setzen, über die Demütigung hinauszukommen.

Die Kirche benötigt daher eine andere Souveränität als die utopische Selbstverheiligung, welche die Grammatik ihrer Identitätspolitik seit Johannes Paul II. ausmachte. Sie kann sich dabei nicht zuletzt an der unheiligen Trinität der dreifachen Scham orientieren, aus der ihr sexueller Missbrauch besteht. Weder die Unverschämtheit der Täter noch die Schamlosigkeit der Vertuscher helfen, den selbstbezogenen Relationen ihrer Selbstverstaatlichung zu entkommen, mit denen sie niemals über Scheinheiligkeit hinwegkommt. Es bleibt ihr aber die Scham der Opfer, die es den Betroffenen entsetzlich schwermacht, die erlittene sexualisierte Gewalt überhaupt zur Sprache zu bringen.

Die Kirche benötigt eine andere Souveränität als die utopische Selbstverheiligung.

Dort aber, wo das dennoch geschieht, sprechen Subalterne in einer Weise, die erst bei einer gedemütigten Souveränität der Kirche zu Wort kommt. Dann öffnen sie Kontaktzonen zu dem, was in einem doppelten Sinn des Wortes unerhört ist und mit Sara Ahmed „strange encounters“ genannt werden kann: eine befremdliche Begegnung unter der Voraussetzung der „absence of a knowledgde that would allow one to control the encounter, or to predict its outcome“ (Ahmed, 8).

Die Opfer des Missbrauchs sind für die Kirche keine aliens, gefährliche Fremde aus anderen Welten, gegen deren verwundete körperliche Präsenz allein klare Kanten katholischer Disziplin helfen. Sie sind vielmehr befremdlich andere, die die Kirche aber verführt hat, sich auf Kirche zu ihrem Schaden einzulassen, und deren körperliche Präsenz deshalb daran erinnert, wie weit Kirche selbst von dem entfernt ist, wozu sie eigentlich da ist – Menschen den Himmel aufzuschließen.

Diese Lücke kann sie erst dann verkleinern, wenn sie sich darauf einlässt, dass es jenseits ihrer Kontrolle ist, die Lücke hinter sich zu lassen. Denn der Schlüssel ist nicht mehr in ihrem Besitz, sondern im sexuellen Missbrauch verloren gegangen. In strange encounters mit Betroffenen kann sie erfahren, wo nach ihm zu suchen wäre. Sie haben den Schlüssel nicht versteckt, aber sie wissen, wo er sicher nicht zu finden ist: in Unverschämtheit und Schamlosigkeit von Missbrauchen und Vertuschen. Erst wenn die Ohnmacht der Scham geteilt wird, die Betroffenen ins Leben ragt, und ihnen von der Kirche sichtbar geglaubt wird, wird ein Raum geöffnet, ihn wieder zu erhalten.

LITERATUR

Ahmed, Sarah, Strange Encounters. Embodied Others in Post-Coloniality, London 2000.

Kepel, Gilles, Die Rache Gottes – La revanche de Dieu. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 2001.

Papst Franziskus, Ansprache am Ende des Treffens „Der Schutz von Minderjährigen in der Kirche“, Sala Regia, Sonntag, 24. Februar 2019 (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2019/february/documents/papa-francesco_20190224_incontro-protezioneminorichiusura.html).

Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Engl. von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, Wien 2008.

Die zentrale Erkenntnis aus den Geschichten Betroffener

Die Replik von Doris Reisinger auf Hans-Joachim Sander

Wer sich in einer Krise befindet, neigt zur Blickfeldverengung. Die Gedanken und Diskussionen drehen sich im Kreis um die eigene Misere. Das ist nicht nur zermürbend, sondern auch fruchtlos. Von daher ist es ebenso erfrischend wie erhellend, die sich im Grunde seit Jahrzehnten kontinuierlich zuspitzende Kirchenkrise in große geschichtliche Kontexte zu stellen. Wenn man sie parallel zu Entwicklungen sieht, die ähnlich aufgebaute Institutionen und Gemeinschaften in der Moderne erleben, dann sieht man, dass wir in Teilen der katholischen Kirche eine religiöse Radikalisierungsbewegung erleben, die es in den vergangenen Jahrzehnten bis heute so ähnlich auch in protestantischen Konfessionen, im Islam und im orthodoxen Judentum gibt, und die im Kern aus einer Abgrenzung anfangs kleiner fanatischer Splittergruppen von Liberalisierungsbewegungen innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft bestehen. Diese Parallele nimmt der von Sander zitierte französische Soziologe Gilles Kepel in den Blick.

Oder man sieht, dass diese moderne Entwicklung, die religiöse Extremisten so sehr beunruhigt – gerade auch im Katholizismus –, die aber der überwiegende Teil der Gläubigen mit großer Selbstverständlichkeit und Überzeugung vollzieht, schlicht ein in der Aufklärung grundgelegter und im besten Sinne vernünftiger Wandel weg von einem heteronomen hin zu einem autonomen Denken ist, wie ihn der Philosoph Roger Lenaers beschreibt.

Nicht zuletzt treten politische Parallelen hervor, wenn man die katholische Kirche mit anderen absolutistischen Herrschaftssystemen vergleicht, die in Europa vor nicht allzu langer Zeit existiert haben, die aber parlamentarischen, demokratischen Systemen weichen mussten. Diese Parallele zieht der amerikanische Kirchenrechtler und Whistleblower der ersten Stunde, Tom Doyle, in einem Interview in dem sehr sehenswerten Film „Verteidiger des Glaubens“.

Man könnte diesen letzten Gedanken noch weiterspinnen und eine weitere Parallele ziehen, nämlich die zu der in jüngster Zeit lauter werdenden Weltsicht, die gemeinhin als Rechtspopulismus oder Nationalismus bezeichnet wird. Diese Strömungen sind auf ihre Weise Abgrenzungen von Liberalisierungsentwicklungen der Mehrheitsgesellschaften und eine Rückkehr zu heteronomen, absolutistischen Denkmustern, die einer Logik von Über- und Unterordnung und vom Recht des Stärkeren huldigen. Ihr paradigmatisches Gesicht ist das des US-amerikanischen Präsidenten. Unter seinen Verehrern finden sich auch Mitglieder eines fundamentalistischen Katholizismus, deren Anteil unter den katholischen Gläubigen in den USA mittlerweile im Übrigen deutlich über dem Promillebereich liegen dürfte.

Wenn man, wie Hans-Joachim Sander, diesen Schritt zurückgeht und das große Bild in den Blick nimmt, wird zweierlei deutlich, was ich hier schlicht nochmals bekräftigen und unterstreichen möchte. Erstens spricht das Hoffen auf den Papst als Reformer gegen die überwältigende Evidenz, die sich nicht nur aus historischen Vergleichen und anderen Parallelen, sondern längst auch aus der Bilanz seiner bisherigen Amtsführung ergibt. Absolutistische Systeme wurden und werden aller Erfahrung nach nicht durch den Monarchen an der Spitze reformiert, gleich wie menschennah und liberal er sich auch inszenieren mag. Zweitens tritt klar zutage, dass es in der aktuellen Kirchenkrise nicht bloß um eine Nachjustierung einzelner sexualmoralischer oder verfassungsrechtlicher Bestimmungen geht, nicht um rein moralische oder kirchenpolitische Diskurse, also „nicht bloß darum, wie Kirche gestaltet werden muss, sondern ob sie erhalten werden kann.“

In der aktuellen Kirchenkrise geht es nicht bloß um eine Nachjustierung einzelner Bestimmungen.

Dabei ist durch den Missbrauchsskandal eines endgültig klar geworden: Die Macht des Stärkeren, der Versuch, vermeintliche Wahrheit mit Gewalt durchzusetzen, das starrsinnige Ignorieren wissenschaftlicher Erkenntnisse und die beharrliche Abwertung moderner freiheitlicher Denkweisen und Lebensvollzüge, ist moralisch auf voller Linie gescheitert. Durch diese Politik ist die Kirche nicht gestärkt, sondern massiv geschwächt worden.

Um nun angesichts der dramatischen Befunde dem Dilemma zwischen Tatenlosigkeit und Ohnmacht auf der einen und einem einfallslosen „Ich hab es doch immer schon gesagt“ auf der anderen Seite zu entkommen, nehmen Katholiken und Katholikinnen bisweilen Zuflucht zu Betroffenen, von denen sie sich Einsichten und Weisheiten erhoffen. Nicht selten werden Betroffene sogar als moralische Instanzen verehrt, wenn ihnen nicht – aus Befremdung oder Überforderung – der Rücken gekehrt wird. Von daher stimmt es, dass die Begegnungen zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen oft strange sind.

Allein, das ist ein Armutszeugnis, denn von ihrem Wesen her müssen und dürften sie gerade keine strange encounters sein. Betroffene sind wirklich keine aliens. Sie sind weder besonders zerbrechlich, noch besonders anrüchig, noch besonders heilig, noch besonders weise. Sie sind auch keine extremen Einzelfälle, sondern es gibt sie in jeder Pfarrei und in jedem kirchlichen Verband. Sie sind Menschen wie andere auch, untereinander sehr verschieden und sehr „normal“. Nicht einmal ihre Erfahrung sexueller Gewalt und ihre Traumata unterscheidet sie so stark von anderen Menschen in der Kirche, wie manche zu glauben scheinen. Denn Opfer von Gewalt gibt es viele in dieser Kirche, in deren Verfassungsstruktur der Missbrauch von Macht tendenziell grundgelegt ist, weil sie keine demokratische Kontrolle, keine Gewaltenteilung, kein wirklich unabhängiges Denken und keine unabhängige Aufarbeitung ihrer eigenen Verbrechen kennt.

 

Die Geschichten der Betroffenen veranschaulichen das Scheitern eines komplexitätsreduzierten idealisierten Kirchen-, Wahrheits- und Gottesglaubens.

Betroffene werden die Kirche nicht retten. Sie müssen es auch nicht. Sie müssen es am wenigsten von allen. Sie werden die widersprüchlichen und bisweilen überhöhten Erwart ungen, die an sie gestellt werden, nicht erfüllen können, und brauchen das auch nicht. Es gibt nur Eines, genau Eines, was Betroffene zur Bewältigung der aktuellen Krise beitragen: Ihre Geschichten veranschaulichen das Scheitern eines komplexitätsreduzierten idealisierten Kirchen-, Wahrheits- und Gottesglaubens, wie kein abstrakter theologischer Diskurs das jemals fertigbringen würde. Diese Geschichten zeigen, wohin das beharrliche Festklammern an einer vermeintlich heilen Kirchenwelt im Extremfall führt. Die politischen, verfassungsrechtlichen und theologischen Konsequenzen aus dieser Erkenntnis haben andere zu ziehen. Solange sie nicht handeln, werden die Geschichten der Opfer als unüberhörbare Anklage im Raum stehen bleiben.

LITERATUR

Kepel, Gilles, Die Rache Gottes – La revanche de Dieu. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch, München 2001.

Lenaers, Roger, Der Traum des Königs Nebukadnezar. Das Ende einer mittelalterlichen Kirche, Kleve 2005.

Verteidiger des Glaubens. Christoph Röhl. D 2019. Christoph Röhls Film „Verteidiger des Glaubens“ kommt im Herbst in die deutschen Kinos.

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