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Beurteilungsgespräche in der Schule

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Involvierung der Eltern

Dass die interaktive Ausrichtung am Kind bzw. Jugendlichen bisweilen von den Lehrpersonen gleichzeitig als Vernachlässigung der Involvierung der Eltern wahrgenommen wird, zeigt sich in entsprechenden Thematisierungen oder Anspielungen. Im Folgenden wird durch die indirekte Adressierung der Eltern und die anschliessende Aushandlung deutlich, wie dieses Ausbalancieren der Beteiligung aller Anwesenden herausfordernd sein kann. Vor dem gewählten Ausschnitt hat S sich mithilfe von Begriffen selbst eingeschätzt und die Adressierung war weitgehend von der Lehrerin gesteuert und an dem Schüler ausgerichtet:

# 44 Was denken die Eltern

(Flavio, SJ6_L6B_LMVS, 05:33–05:47)


001L°h jetz was dänked d ELtre denn no?jetzt was denken die Eltern denn noch
002<<lachend> ich ha s gfüül die (.) die würde eben au no GÄRN öppis [(saage);> °hich habe das Gefühl die die würden eben auch noch gerne etwas (sagen)
003M [hahahaha hahahaha
004V<<:-)> hm hm mir loose GÄRN [zue,>hm hm wir hören gerne zu
005L [haha haha
006[haha °h hehhaha heh
007M[<<lachend> (stArtlöcher) [zum öppis [SAAge;>(Startlöcher) um etwas zu sagen
008V [heh hehe °h heh °h heh hehe heh
009S [heh °h hehehe heh hehehe
010V<<lachend> mir schwätze sUnsch jo relativ [VIIL;> hehehe °hwir reden sonst ja relativ viel hehehe
011L [hehehehe hehehehe
012[°hh
013V[aso isch das oKEE;also ist das okay

L wechselt von der Ausrichtung an S hin zu den Eltern, indem sie vorerst die Eltern mit der Frage °h jetz was dänked d ELtre denn no? (Z. 001) als Objekt ins Gespräch holt und dadurch indirekt adressiert. Dass die Beteiligungsstruktur Sprechen über die Eltern nicht der Norm entspricht, zeigt sich durch das allgemeine Gelächter (vgl. auch Schwabe 2006: 102). Nach ein paar Scherzen nimmt dann aber M die indirekte Aufforderung ernst und beurteilt S aus ihrer Sicht. Dass ein solcher Fokuswechsel für alle Beteiligten und insbesondere für das zuvor im Fokus stehende Kind eine kommunikative Herausforderung darstellen kann, zeigt die Verwirrung bei dem nächsten Sprecherwechsel in diesem Gespräch. M beurteilt im Anschluss an das gezeigte Beispiel # 44 den Schüler, indem sie auf ihn in dritter Person referiert. Nach etwa einer Minute initiiert sie eine Redeübergabe:

# 45 Was meinst du

(Flavio, SJ6_L6B_LMVS, 06:33–06:42)


001(3.02)
002Mwas mÄinsch DU?was meinst du
003Saso jo–=also ja
004M=näi PApi;nein Papa
005SaHA;aha
006M[hehehe °hhehehe
007L[hehehehehehehehe
008V<<:-)> isch oKEE?> [heheist okay hehe
009S [JÄ; h° ja

Nach einer 3-sekündigen Pause stellt M hier nun die Frage was mÄinsch DU? (Z. 002), was rein verbal sowohl auf V als auch S referieren kann. S übernimmt den Turn dann auch sofort, wird aber durch M mit der direkt anschliessenden Reparatur näi PApi; (Z. 004) unterbrochen, womit M nun die zuvor ambige Referenz verdeutlicht. S versteht sich im Fokus der Interaktion, was bis vor dem Beispiel # 44 die durchgängige Beteiligungsstruktur war. Hier missversteht er die Steuerung vonseiten der Mutter, die nämlich auf die Frage von L °h jetz was dänked d ELtre denn no? (Z. 001, Beispiel # 44) anknüpft und nach der eigens präsentierten Bewertung nun an V übergeben möchte. V fragt noch scherzhaft um Erlaubnis, das Rederecht anzunehmen (Z. 008), was S ihm gewährt (Z. 009). Hier zeigt sich also eine Schwierigkeit der Beteiligung in Mehrparteieninteraktionen, da die Beteiligten die Wechsel in der Adressierung wachsam verfolgen müssen (vgl. mehr dazu in Kap. 6.2.1).

Eine kurzzeitige Ausrichtung an den Eltern kann auch durch eine Rückfrage erzielt werden. Im folgenden Gespräch unterhält sich L während etwa fünf Minuten fast ausschliesslich mit S und erkundigt sich über das Leseverhalten (wie viel, wo und wann liest S, welche Bücher liest S, interessiert sich S auch für Hörbücher etc.). L schliesst die Sequenz mit °h oKEE (.) gUet, (Z. 001) ab, blättert dann in den Unterlagen (was typischerweise ein Hinweis für die Überleitung zu einem nächsten Thema ist) und fragt dann aber noch M, ob sie eine Frage dazu habe (Z. 003):

# 46 Lesen

(Emma, SJ4_L3A_LMS, 12:47–13:23)


001L°h oKEE (.) gUet,okay gut
002((Rascheln von Unterlagen, ca. 15.2 Sek.))
003Lhän sii no ne FROOG drzue.haben Sie noch eine Frage dazu
004MnÄi aber s isch SPANnend.nein aber es ist spannend
005(-)
006Lmh_hm,mhm
007[han ich AU gfUnde.habe ich auch gefunden
008M[well das sache sin wo sii nIe verZELLT; heheheheweil das Sachen sind wo/die sie nie erzählt hehehehe
009(4.04)
010Laso DO goots jo au drum Usezfinde;also da geht’s ja auch darum herauszufinden
011was MACHT me denn äigentlich mit eme tÄxscht,was macht man denn eigentlich mit einem Text
012(.) wenn i iin nid verSTAND;wenn ich ihn nicht verstehe
013oder °h RED i drüüber;oder rede ich darüber
014(.) über dAs won i GLÄÄse ha;über das wo/was ich gelesen habe

M hat keine Frage und ratifiziert dadurch weiter die Beteiligungsrolle als stille Zuhörerin. Sie bewertet die Unterhaltung (s isch SPANnend., Z. 004) und positioniert sich und die anderen, indem sie anmerkt, dass S ihr diese ‚Sachen’ nicht erzähle. Sie positioniert sich dadurch selbst als Mutter, die nicht über alle Belange ihrer Tochter Bescheid weiss und sie daher die präsentierten Wissensbestände als neue Information aufnimmt. Dass dies für ihre Identität gefährdend sein kann, könnte ihr Lachen (Z. 008) sowie die 4-sekündige Pause nach ihrem Redebeitrag (Z. 009) anzeigen. Interessant ist auch, wie L sich nach der Pause erklärt. Die Positionierung von M als Nichtwissende und Nichtinvolvierte veranlasst L dazu, der Mutter Einblick in die pädagogischen Überlegungen zur vorangegangenen Unterhaltung zu gewähren (Z. 010–014).

Im folgenden Auszug findet sich eine beiläufige Pseudo-Involvierung der Eltern, durch die L die Beteiligungsstruktur Sprechen mit S als bevorzugte markiert:

# 47 Gegen den Strich

(Philipp, SJ8_L8A_LMVS, 05:45–05:48)


001Lsii MÄLde sich,=Sie melden sich
002=wenn (.) iine öppis gege (.) gegen [e STRICH gOOt.wenn Ihnen etwas gegen gegen den Strich geht
003M [mh_hm; mhm

L spricht mit S über einen Berufseignungstest und fragt, ob S den auch gerne machen möchte. L unterbricht seine Frage und wendet sich mit dem hier zitierten Zwischensatz an die Eltern, um seinen Satz dann gleich wieder weiterzuführen. Er weist dadurch den Eltern sehr deutlich die Rolle der Mithörenden zu, die sich dann melden sollen, wenn ihnen etwas nicht passt. Gleichzeitig wird der Schüler als primär Adressierter in diesem Gespräch etabliert. Diese Rollenzuweisung wird von M akzeptiert. Es handelt sich hier also nicht in dem Sinne um eine Involvierung, die mit einer Redeübergabe verbunden wäre, sondern um eine Anerkennung der Anwesenheit der Eltern sowie um eine Rollenzuschreibung als Mithörende der Gespräche zwischen L und S. Wenn die Eltern sich ebenfalls beteiligen möchten, so muss das, gemäss dieser Ansage, durch Selbstwahl erfolgen.

Zusätzlich zu diesen Einschüben während der Gespräche, finden sich fast durchgängig jeweils gegen Ende an die Eltern gerichtete Nachfragen zu offenen Anliegen und Anmerkungen. Dieser Adressierungswechsel hin zu den Eltern kann als erste Initiierung der Gesprächsbeendigung betrachtet werden, da damit (manchmal auch explizit) angezeigt wird, dass vonseiten der Lehrperson alles gesagt wurde (vgl. zur Gesprächsbeendigung auch 4.2). Dass dieser Wechsel der Beteiligungsstruktur hin zu einer gezielten Involvierung der Eltern wiederum durch alle Beteiligten mitgestaltet wird, zeigt das nächste Beispiel:

 

# 48 Ich nicht

(Ben, SJ4_L3B_LMVS, 31:21–35:12, mit Auslassung)


001Ldas isch ALles vo minere site;das ist alles von meiner Seite
002hän sii no FROOge;haben Sie noch Fragen
003oder (1.09) [AAmerkige.oder Anmerkungen
004S [(aso) ICH nit ICH nit ICH nit. (also) ich nicht ich nicht ich nicht
005M°hh <<auflachend> hehm>hehm
006Snä NÄI ich ha wIrklich nÜt;ne nein ich habe wirklich nichts
007((Rascheln von Unterlagen, ca. 3 Sek.))
008Vhesch kchä FROOge wäg dr sek äins;hast du keine Fragen wegen der Sek(undarschule) eins
009wo JETZT denn [chunt.wo/die jetzt dann kommt
010S [näi äigentlich NIT; h° nein eigentlich nicht
011Vhe wotsch NÜT wÜsse.he willst du nichts wissen
012wenn das (.) [är isch dr FACHmaa.wenn das er ist der Fachmann
013S [näi, nein
014((Auslassung im Transkript, ca. 3.5 Min.))
015L°h hän SII no frooge.haben Sie noch Fragen

Trotz der Ausrichtung von L an den Eltern (Z. 002f.), antwortet S ausdrücklich verneinend auf die Frage (Z. 004). Dadurch ergreift er durch Selbstwahl das Rederecht und spricht anstelle der adressierten Eltern. Dass dieses Verhalten nicht den erwarteten Normen entspricht, wird durch das Lachen von M angezeigt (Z. 005). V bleibt bei der Ausrichtung an S und versucht ihm doch noch eine Frage zu entlocken. In den ausgelassenen 3.5 Minuten sprechen die Beteiligten über die neue Schule, die neuen Fächer etc., bis L seine Frage an die Eltern – dieses Mal mit Betonung des Anredepronomens Sie – noch einmal stellt (Z. 015). Dadurch bestätigt sich die Annahme, dass schon die erste Formulierung an die Eltern gerichtet war. Auffällig ist hier die Leistung von S, steuernd auf den Gesprächsverlauf einzuwirken. Es zeigt sich hier also, dass einerseits die Steuerung von allen Gesprächsteilnehmenden ausgehen kann und dadurch Asymmetrien lokal ausgehandelt werden. Und andererseits wird hier deutlich, dass alleine die Adressierung und die Vergabe des Rederechts die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen nicht einschränken.

Dennoch handelt es sich bei dieser Selbstwahl um ein eher seltenes Phänomen in den Daten. Nur sehr vereinzelt kommt es zu Situationen, in denen SchülerInnen anstelle von Erwachsenen sprechen und wenn, dann wird dies dispräferiert, d.h. mit kommunikativem Mehraufwand, bearbeitet.

Es konnte gezeigt werden, wie die Beteiligten in dieser Mehrparteieninteraktion verschiedene Strategien anwenden, um sich und die anderen in dem Gespräch einzubeziehen. Die Involvierung des Kindes wird durch die explizite (namentliche) Adressierung sowie verschiedene Design-Aktivitäten begünstigt, die einerseits darauf ausgelegt sind, Redemöglichkeiten für das Kind zu schaffen und andererseits den Eltern die Rolle der Zuhörenden zuzuweisen. Lokal kommt es auch zu Objektifizierungen der SchülerInnen, v.a. wenn es um die Verhandlung von Wissensbeständen geht, die nur für die Eltern Neuigkeitswert haben.

6.1.2 Interaktive Steuerung durch die Eltern

Die bisherigen Analysen haben dargelegt, wie die sprachliche Ausrichtung in den meisten Gesprächen stark auf die anwesende Schülerin bzw. den anwesenden Schüler gerichtet ist und die Eltern dabei über längere Strecken die Rolle der stillen Zuhörenden einnehmen. In einem Aufsatz habe ich mich mit der Frage beschäftigt, in welchen Kontexten Eltern trotz dieser Fremdpositionierung das Rederecht ergreifen und die Gesprächssteuerung kurzfristig mitgestalten oder phasenweise übernehmen (vgl. Mundwiler 2015).1 Es wurden dabei in den Daten drei Kontexte identifiziert, in denen Eltern trotz primärer Adressierung der SchülerInnen in das Gespräch einsteigen: (1) In den Gesprächen werden immer wieder Fragen verhandelt, die das Zuhause betreffen und die theoretisch auch von den Eltern beantwortet werden können. In diesen Zusammenhängen kommt es zu einer Verhandlung der epistemischen Autorität (vgl. Bsp. # 49 und # 50). (2) Eltern sind darum bemüht, sich in einem positiven Licht vorzuführen. Wenn es durch andere Personen oder auch durch eigene Aussagen zu unvorteilhaften Positionierungen kommt, kann es zu der Verteidigung der erzieherischen Rolle kommen (vgl. Bsp. # 51 und # 52). (3) Und ebenfalls im Zusammenhang mit der Selbstpositionierung der Eltern steht auch deren Beurteilung der Angemessenheit von Schülerbeiträgen (vgl. Bsp. # 53 und # 54). Diese Redeübernahmen stehen in engem Zusammenhang mit der Positionierung als kritische und kompetente Eltern.

Verhandlung der epistemischen Autorität

Der erste Kontext tritt dann auf, wenn in irgendeinem Zusammenhang über das Zuhause gesprochen wird. Dies kommt häufig dann vor, wenn es um die zeitlichen und räumlichen Ressourcen für das Erledigen der Hausaufgaben geht oder auch um die Frage nach der Selbstständigkeit von SchülerInnen. Wenn eine derartige Frage an die anwesende Schülerin bzw. an den anwesenden Schüler gerichtet ist, so ist diese bzw. dieser aber dennoch nicht die einzig anwesende Person, die theoretisch darüber Auskunft geben kann, da die Eltern in der Regel ebenfalls über dieses Wissen verfügen. Dadurch sind sowohl der/die SchülerIn als auch die Eltern epistemische Autoritäten (vgl. z.B. Heritage & Raymond 2005; Raymond & Heritage 2006; Stivers, Mondada & Steensig 2011). In den folgenden beiden Beispielen kommt es in einem solchen Kontext zu einer elternseitigen Rederechtsübernahme.

Beispiel # 49 stammt aus dem Gespräch mit Tatjana und vor dem gewählten Ausschnitt geht die Lehrerin ausführlich auf die Schwächen im Fach Deutsch ein. Während sie insbesondere die schwachen Leistungen in der Rechtschreibung, dem Lesen und dem Hörverständnis hervorhebt, will sie nun von Tatjana wissen, ob sie zu Hause lese und betritt damit den epistemischen Bereich der Familie:

# 49 Tipptopp

(Tatjana, SJ5_L7B_LMVS, 10:52–11:08)


001LLÄse duesch dehEime;lesen tust du daheim
002Mmh_HM,mhm
003L°hh gUEt (.) AUso das isch scho mol [tippTOPP;gut also das ist schon mal tipptopp
004V [das isch das ist
005L[de müesst (mer)–dann müsste (man)
006V[jetz im lEtschte hAlb jOOr isch das rÄcht (.) BESser worde;=jetzt im letzten halben Jahr ist das recht besser geworden
007=macht sis wÜrkch [ou GÄRN.macht sie’s wirklich auch gerne
008L [jo, ja
009L(-) AUso;also
010M[jo–ja
011V[vorhär het sis nid so GÄRN [gmacht un jetz–vorher hat sie’s nicht so gerne gemacht und jetzt
012M [plötzlech isch sii im ZIMmer, plötzlich ist sie im Zimmer
013und wemme [goot go LUEge,und wenn man schauen geht
014V [ja– ja
015Mhockt sii [Entweder uf em BETT oder uf em SACK und (.) ((plosives Schmatzgeräusch)) hehehhockt sie entweder auf dem Bett oder auf dem Sack und heheh
016V [das mAcht sii jetz würkch GÄRN; das macht sie jetzt wirklich gerne
017LjO aso [dasch tippTOPP;=ja also das ist tipptopp
018V [ja– ja
019L=[das muesch gad [BIIbhaute;=das musst du gerade beibehalten
020V [ja; ja
021M [jo; ja
022L=UNbedingt,unbedingt

In diesem Ausschnitt etabliert sich M als epistemische Autorität, indem sie – ohne eine allfällige Antwort von S abzuwarten – direkt die Frage selbst beantwortet (Z. 002). Von S bleibt in der Folge eine Antwort aus, was mit der bereits getätigten Antwort von M zusammenhängt, aber auch mit der daran anschliessenden Ratifikation von L in Form eines Lobes (°hh gUEt (.) AUso das isch scho mol tippTOPP;, Z. 003), womit L die Frage als beantwortet akzeptiert. Diese Rederechtsübernahme lässt sich durch das elternseitige Wissen über die Leseaktivitäten von S erklären. Da die Eltern ihre Tochter zu Hause erleben und beobachten, können sie diese auch entsprechend beurteilen. Und in diesem Kontext gelingt es ihnen nun in der Folgesequenz, nicht nur die Frage an die Tochter, ob sie lese, zu beantworten, sondern gleichzeitig durch detaillierte Beschreibungen und kleine Erzählungen die Tochter vorteilhafter zu positionieren. Denn – wie eingangs erwähnt – hat bisher die negative Beurteilung der Deutschkenntnisse von S überwogen, weshalb die nun vorgebrachten Erzählungen als korrigierte Fremdpositionierung interpretiert werden kann. Dass die Eltern hier nicht einfach grundsätzlich ihr Kind loben, sondern sich als kritische Eltern (vgl. auch Kotthoff 2014; Pillet-Shore 2012; 2015) präsentieren, zeigt sich in der Art und Weise, wie sie die Beurteilung vornehmen: Der Vater registriert durch seine Beobachtungen Verbesserungen (Z. 004, 006), er betont wiederholt, dass S gerne lese (Z. 007, 011, 016) und die Mutter erzählt in den Zeilen 012f. und 015 ausführlich vom Leseverhalten der Tochter (zur Funktion von Erzählungen vgl. Kotthoff 2015b). Daraufhin steigt L mit lobenden Worten ein (Z. 017, 019, 022) und positioniert sich als Team mit den Eltern, die dies wiederum durch ihre Ratifikationen (Z. 018, 020, 021) bestätigen. Wenn die Eltern hier anstelle des Kindes sprechen, hat das also zwar einerseits eine beteiligungshemmende Wirkung für S, aber andererseits erreichen die Eltern eine am Ende kollektiv produzierte Aufwertung der Beurteilung – was somit wiederum positiv auf S wirkt.

Wenn die Eltern anstelle der adressierten Kinder bzw. Jugendlichen sprechen, kann von einer „Rederechtsübernahme“ gesprochen werden (Schwabe 2006: 282, Hervorhebung im Original). Das Sprechen für jemanden oder anstelle einer anderen Person bedeutet in Bezug auf die Beteiligungsrollen nach Goffman (1981), dass eine Person zwar AnimatorIn einer Äusserung ist, nicht jedoch die moralische Verantwortung der ‚auftraggebenden’ Person trägt (vgl. auch Schiffrin 1993; 1994: 106ff.). Schwabe (2006: 149ff.) zeigt in ihren Analysen, dass sich das häufige Vorkommen von Rederechtsübernahmen durch die Eltern hemmend auf die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen auswirken kann. Sie erklärt dies durch eine gewisse interaktive Verfestigung der Beteiligungsrollen. Jedoch müssen die Rederechtübernahmen durch die Eltern keineswegs nur negative Auswirkungen haben, wie die verbesserte Beurteilung von S in Beispiel # 49 gezeigt hat. Auch Schwabe (2006: 149ff.) verweist auf kooperative Ziele, die mit der Rederechtsübernahme verbunden sind und zeigt, wie in ihren Daten Eltern durch unterstützende, ergänzende und korrigierende Äusserungen in einem kooperativen Sinne handeln. Neben diesen unterstützenden Funktionen kann die Rederechtsübernahme durch die Eltern auch aus einem Interesse entstehen, das Gespräch voranzutreiben. Stivers und Robinson (2006) sprechen in diesem Kontext von einer Kollision von Ansprüchen in Mehrparteieninteraktionen: Einerseits gilt der Anspruch der Gesprächsprogression und andererseits der Anspruch, dass Fragen von der jeweils adressierten Person beantwortet werden. Diese Ansprüche können dann nicht mehr erfüllt werden, wenn eine adressierte Person über einen längeren Zeitraum keine Antwort liefert. Stivers und Robinson (2006: 380ff.) konnten zeigen, dass Eltern in solchen Fällen anstelle des Kindes antworten, um den Fortgang des Gesprächs zu sichern. Insofern folgern sie, dass die Präferenz der Gesprächsprogression von den Gesprächsbeteiligten als wichtiger eingestuft wird als der Anspruch, dass die adressierte Person selbst eine Antwort liefert. Dies kann also erklären, weshalb nach länger auftretenden Pausen die Eltern anstelle des Kindes eine Frage beantworten.

 

Bei dem folgenden Beispiel handelt es sich um einen Ausschnitt aus einem Gespräch, welches stark durch längere Pausen geprägt ist. Der Schüler Jonas steht im Fokus des Gesprächs und er wird fast durchgängig direkt adressiert. Längere Pausen werden häufig zugelassen und allenfalls mithilfe von Unterstützungsaktivitäten (Reformulierungen o.ä.) verkürzt, jedoch jeweils mit dem Ziel einer schülerseitigen Antwort (vgl. auch Beispiele # 33 und # 34). In dem folgenden Ausschnitt kommt es jedoch zu einer Rederechtsübernahme durch die Mutter, als es um die Frage nach Erklärungen für seine Lernschwierigkeiten geht:

# 50 Lernfächer

(Jonas, SJ6_L6A_LHMS, 30:05–31:09)


001Lwas mi Äfach no würd WUNder nEE,was mich einfach noch Wunder nehmen/interessieren würde
002(.) das wägem !GEO! wo du grad AAgsproche hEsch;das wegen Geo(grafie) wo/das du gerade angesprochen hast
003du hesch scho (.) LETscht joor bim herr dEgen geo [gha.du hast schon letztes Jahr beim Herr Degen Geo(grafie) gehabt
004S [mh_hm, mhm
005L(1.66) hesch döt !AU! e bitzli das gha mit dem:: tExschte lÄÄse schwirigkÄIte,hast du dort auch ein bisschen das gehabt mit diesem Texte lesen Schwierigkeiten
006oder di nit so::: verTIEFT–oder dich nicht so vertieft
007S(-) jä–ja
008L(-) hEsch es au scho GHA.hast es auch schon gehabt
009(--) °h wie !CHUNT! das denn aber;wie kommt das denn aber
010dass das in GSCHICHT (.) sich (.) !NIT! [(.) Üsseret.dass das in Geschichte sich nicht äussert
011M [das cha psychoLOgisch sii; das kann psychologisch sein
012LAH;ah
013MWÄIL (.) är het jo lEtscht joor bim herr dEgen,weil er hat ja letztes Jahr beim Herr Degen
014(-) GSCHICHT (.) [GEO und BIO (--) gha.=Geschichte Geo(grafie) und Bio(logie) gehabt
015S [bim herr DEgen; beim Herr Degen
016L=[un_das] sin Alles so die DÄNKfächer.und das sind alles so diese Denkfächer
017S [nä:i– ] nein
018L[aso die LERN]fächer würd i mäine;also diese Lernfächer würde ich meinen
019S[bio und geo?]Bio(logie) und Geo(grafie)
020L[nit dÄnkfächer LERN]fächer;nicht Denkfächer Lernfächer
021M[!LERN!fächer jä, ]Lernfächer ja
022LgeNAU.genau
023Mund äh: bi allne drEI isch er SCHLÄCHT gsi;und äh bei allen drei ist er schlecht gewesen
024L(-) aha,aha
025SnÄI bim herr dEgen han ich kÄIni GSCHICHT gha.nein beim Herr Degen habe ich keine Geschichte gehabt
026(1.27) bim herr degen han ich MAthe gha.beim Herr Degen habe ich Mathe(matik) gehabt
027M(1.37) bi WEM hesch denn?bei wem hast du denn
028S(-) frau gen[TILe?Frau Gentile
029M [nä:i- nein
030(-) °h ah jo STIMMT [jo,ah ja stimmt ja
031L [(xxx)
032M(.) JO stimmt.ja stimmt
033(-) aber wisoo °h (au)–aber wieso (auch)
034aber worSCHINli het das öppis mit em: (--) LEErer?aber wahrscheinlich hat das etwas mit dem Lehrer
035er isch si KLASseleerer gsi,er ist sein Klassenlehrer gewesen
036und (--) äh: döt bi: (.) müesse widerHOOle,und äh dort bei müssen wiederholen
037°h vilicht het das au e psycholOgischs DING;=oder,vielleicht hat das auch ein psychologisches Ding oder

Wir sehen hier zu Beginn die Ausrichtung an Jonas, indem L ihn einerseits direkt adressiert und andererseits einen Bezug zu seinen früheren Äusserungen herstellt (Z. 001–010). Noch während sie ihre Frage zu einem Erfahrungsbereich von S – und immer noch adressiert an S – formuliert, wird diese schon von M beantwortet (Zeile 011). Diese Rederechtsübernahme erfolgt also nicht erst nach einer längeren Pause, sondern sogar in Überlappung zur Frage von L. Die neue Beteiligungsstruktur, die mit der Rolle der Mutter als auftretende epistemische Autorität einhergeht, wird von L sofort ratifiziert (vgl. auch Beispiel # 49). S allerdings versucht nun an mehreren Stellen mit einer inhaltlichen Korrektur in das Gespräch einzusteigen und seine eigene Rolle zu verteidigen, da die mutterseitige Interpretation auf falschen Annahmen fusst. Vorerst überlappen seine Einwürfe mit den Beiträgen von L und M (Z. 015, 017, 019) und es gibt bis Zeile 025 keine Anzeichen dafür, dass er gehört wird. Seine Korrektur wird dann von M zwar angenommen (Z. 030, 032) und so kann S kurzfristig seine epistemische Autorität etablieren. Allerdings müsste die neue Ausgangslage in Bezug auf die Lehrpersonen logischerweise auch eine Anpassung in ihrer Argumentation nach sich ziehen. Denn wenn es sich nun doch nicht um dieselbe Lehrperson handelt, ist es vielleicht auch nicht so sehr ein psychologisches Problem. Dennoch bleibt sie bei ihrer Interpretation (Z. 034–037) und hält somit an ihrer epistemischen Autorität fest. Auch reaktualisiert sie die Beteiligungsstruktur, indem sie sich nach der kurzen Sequenz mit S nun weiter an L ausrichtet.

Die Rederechtsübernahme in Beispiel # 50 kann unterschiedlich interpretiert werden. Vor dem grösseren Kontext des Gesprächs kann sie – wenn auch hier lokal keine Pausen auftreten – mit dem grundsätzlichen Anspruch der Gesprächsprogression erklärt werden. Gerade wenn wir die Frage von L betrachten, lässt sich diese Annahme stützen: S wird aufgefordert, differenziert darüber zu reflektieren, weshalb er im Fach Geografie, nicht aber im Fach Geschichte, gewisse Lernschwierigkeiten hat (beide werden als Lernfächer bezeichnet). Dies kann für einen Schüler der 6. Klasse eine anspruchsvolle Frage sein und so kann die Rederechtsübernahme durch M auch als Design-Aktivität interpretiert werden: Dadurch dass sie ihren Sohn kennt, stellt sie die Vermutung an, dass er nicht fähig sein wird, diese komplexe Frage zu beantworten. Als Folge dieser Annahme unterstützt sie S und übernimmt die Antwort an seiner Stelle. Auch hier kann die Rederechtsübernahme also als eine kooperative Handlung betrachtet werden.