Wege, Lichtung, Horizont: Konstellationen des 'Essayistischen' in María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz' El mono gramático

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Aus der Reihe: Orbis Romanicus #19
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1.3 Das ,Essayistische‘ als Schreibweise?

Betrachten wir das ,Essayistische‘ ausschließlich als Geisteshaltung, die einzigartige, nicht formalisierbare Formen hervorbringt, stehen wir allerdings vor einem logischen Problem. Denn damit wäre nicht zu erklären, warum im Laufe der Zeit Texte so unterschiedlicher Art immer wieder unter dem Titel ,Essays‘ vereint worden sind. Die absolute Singularität, sagt Derrida gegenüber Dereck Attridge, wäre ohnehin unlesbar. „Um lesbar zu werden, muss sie sich mitteilen, partizipieren und eine Zugehörigkeit entwickeln. […] Jedes œuvre ist singulär in dem Sinne, dass es auf singuläre Weise sowohl von seiner Singularität als auch von seiner Verallgemeinerbarkeit spricht. Von Iterabilität und dem Gesetz der Iterabilität.“78 Das Problem, das Derrida hier unter dem Begriff der Iterabilität fasst, entspricht auch einer Grundproblematik der Gattungstheorie, wie Klaus Hempfer sie skizziert und die in einer Notwendigkeit der Wahl zwischen überzeitlicher und rein historischer Bestimmbarkeit des Gattungshaften besteht.79 Anders ausgedrückt: Weder das Gesetz noch das Phänomen allein können Aufschluss geben, sondern die Bestimmung ihres dynamischen Verhältnisses. Hempfer versucht daher eine Synthese zwischen beiden durch seinen Begriff der „Schreibweisen“. Gattungen sind demnach historische Aktualisierungsformen, die auf bestimmten Strukturgesetzen beruhen. Diese Gesetze bilden „generische Invarianten“, die laut Hempfer auf „Schreibweisen“ zurückgehen. Die Anzahl der verschiedenen „Schreibweisen“ ist apriori nicht ermittelbar; Hempfer nennt aber „das Narrative“ oder „das Satirische“ als Beispiele. Darunter könnte nun also auch ,das Essayistische‘ fallen. Nach Hempfer können sich unterschiedliche „Schreibweisen“ überlagern und zusammen eine Gattung integrieren. Einzelne „Schreibweisen“ würden nicht über ihre Konstituenten selbst definiert, sondern strukturalistisch, durch eine Untersuchung ihrer Relationen zueinander.80 Den invarianten Tiefenstrukturen stellt Hempfer nun Transformationsmöglichkeiten gegenüber, innerhalb derer sich die Strukturen ausdrücken können. Sein Ansatz besteht in einer Entkopplung von invarianter Tiefe und wandelbarer Oberfläche, die im Grunde den Ebenen von ,langue‘ und ,parole‘ entsprechen und getrennt voneinander untersucht werden können.81 Damit werden Formen als wandelbar beschreibbar, ohne ihre konkreten Aktualisierungen jeweils als kontingenten Einzelfall akzeptieren zu müssen. Zusammen mit einer Bestimmung des pragmalinguistischen Kontexts lassen sie sich vielmehr als „im Rahmen der Gesetze einer Struktur mögliche Realisationen“ begreifen.82 Hempfers Verdienst besteht gewiss in der Beobachtung und der präzisen Formulierung, dass „die intuitiv schon immer erkannten Ähnlichkeiten zwischen an der Oberfläche heterogenen Texten nicht durch die ,klassische‘ Abstraktion und Klassifikation isolierter Einzelelemente bestimmt werden können, sondern nur durch die Erstellung abstrakter Bezugssysteme zwischen diesen Elementen, deren historisch variable Konkretisationen dann über jeweils spezifische Transformationsregeln erfaßbar sind“.83 Wie Hempfer selbst einräumt, könnten allerdings noch keine allgemeinen Prozeduren angegeben werden, wie diese Tiefenstrukturen zu ermitteln seien. Man könne weder Zahl noch Art, noch bekannte Kategorien formulieren. Es könne nicht einmal jede Textgruppe auf Tiefenstrukturen zurückgeführt werden.84 Hempfer schlägt daher eine typologische Untersuchung vor, in der Textkorpora empirisch hinsichtlich ihrer transzendierenden Strukturierungsverfahren befragt werden. Allerdings ist bereits die Bildung dieser Korpora extrem problematisch. Sie kann nicht gänzlich auf induktive Verfahren verzichten und Hempfer zufolge keine Objektivität im Sinne eindeutiger Zuordnungen gewährleisten.

Rüdiger Zynmer übernimmt Hempfers Ansatz typologisch zu erfassender „Schreibweisen“. Typologisierende Literaturwissenschaftler, schreibt Zymner, fassen „nicht die ,Welt der Literatur‘ und ihre allgemeinen Gruppen ins Auge, sondern zunächst einmal das besondere Einzelwerk, um von hier aus ,das Ganze‘ der Literatur zu erfassen.“85 Nach Zymner könnten sich „Schreibweisen“ zu manchen Zeiten zu Gattungen stabilisieren, die ganz deren ästhetischem Prinzip oder Verfahren folgen. Als Kriterium zur Unterscheidung von „Schreibweisen“ dient Zymner dabei der Begriff der „Wirkungsdisposition“. So seien sie weder auf den Stil, noch auf inhaltliche Vorgaben zu begrenzen, sondern verbänden unterschiedlichste literarische Mittel mit einer Funktion oder Wirkung, wie etwa, einen Leser in Staunen zu versetzen oder zum Lachen zu bringen, oder jemanden herabzusetzen.86 Auch im Falle des ,Essayistischen‘ wäre meiner Ansicht nach ein Set aus Wirkungsdispositionen durchaus vorstellbar, auf die ich an dieser Stelle aber nicht genauer eingehen werde. Angedeutet sei lediglich eine im Sinne Lyotards ,paralogistische‘ Funktion, die den Text legitimiert, insofern er neue Ideen hervorbringen kann, oder Adornos bekannte Charakterisierung ,des Essays‘ als die Form der Kritik par excellence.87

Eine Typologie ist jedoch ein problematisches Unterfangen: denn sie sähe vor, die am konkreten Textbeispiel zusammengetragenen Merkmale als „Schreibweise“ zu objektivieren. Eine spezifische „Schreibweise“ ließe sich nach Zymner durch Überspitzung und Isolierung bestimmter Merkmale bilden.88 Genau diese Art der Objektivierung ist es jedoch, die für das ,Essayistische‘ immer heikel erscheint. Die Idee eines ,Essayistischen‘ allgemein als historische Invariante zu beschreiben, mag sinnvoll sein; doch lässt es sich nicht ganz mit Hempfers „Schreibweisen“ erfassen. Denn obgleich Hempfer sie über eine spezifische Relation ihrer Elemente und damit dynamisch konzipiert, erscheinen sie in letzter Konsequenz eindeutig festlegbar. Gerhard Haas, der den Begriff des Essayistischen in die Diskussion einführt, folgt ebenfalls einem entsprechenden Ansatz. Für ihn steht fest: „[G]ibt es eine solche unverwechselbare Struktur des Essayistischen nicht, so ist es fragwürdig, mit dem Begriff des Essay wissenschaftlich zu arbeiten.“89 Dabei ist es doch gerade die Verwechselbarkeit mit anderen Strukturen, die das Phänomen wissenschaftlich so interessant macht. „Schreibweisen“, so Hempfer, können durch die Beschreibung der Relationen ihrer Elemente „definiert“ werden. Für historische Gattungen seien „Transformationsregeln“ aufzustellen. Die dafür verwendeten Kriterien seien einer „Systematisierung“ zu unterwerfen.90

Definition, Regelhaftigkeit, Systematisierung, Kategorisierung und Sub-Subkategorisierung – es stellt sich die Frage, ob das ,Essayistische‘ ausgerechnet mit einem terminologischen und methodischen Repertoire erfasst werden sollte, dem es sich am meisten widersetzt. Obwohl Hempfer seine Untersuchungen nicht auf ein ,Essayistisches‘ ausgerichtet hatte, müssen ihn selbst dennoch Zweifel über sein Vorhaben beschlichen haben; das zeigt sich, wenn er etwa erklärt, zumindest für den diachronen Zusammenhang der Texte seien „keine strikten, deterministischen Gesetze zu formulieren, aus denen der Wandel deduktiv-nomologisch zu erklären wäre“.91 Die bisherigen Versuche stellten spekulative Pseudoerklärungen dar. Als Ergebnis seiner Untersuchungen präsentiert Hempfer eine Beobachtung, die im Ansatz auch für eine Beschreibung des ,Essayistischen‘ durchaus praktikabel wäre: Aufgrund der empirischen Gegebenheiten erscheine „als allgemeines Entwicklungsprinzip nur die Dialektik von Genese und Struktur angebbar, die einen nicht deterministischen, teleologiefreien Prozeß der Destrukturation existenter Strukturierungen und der Restrukturierung neuer Ganzheiten konstituiert […].“92 Dabei ist es aber gerade jener Zwischenraum, der zumindest im Fall eines ,Essayistischen‘ zu untersuchen wäre und den Hempfer lediglich mit der Ellipse einer ,Dialektik‘ umschifft. Dynamisch ist an seinem Konzept nur noch der ursprüngliche Einfall. Die „Schreibweise“ verliert sich in einem ,regressus ad infinitum‘, bei dem sich das Dynamische jeweils in die nächst tiefer liegende Schicht oder in die stärkere Mikroskopstufe verschiebt. Eine solche Dynamik ist nichts als ein Lückenbüßer für (noch) Unerklärliches. Es ginge darum, die Bewegung als Bewegung zu denken, und nicht als eine Reihe statischer Momentaufnahmen.

1.4 Eine Problematik der Formwerdung

Sowenig aussichtsreich ein rein definitorischer Zugriff auf ,den Essay‘ ist, so fragwürdig erscheint auch die wissenschaftliche Beurteilung einer ,inneren Einstellung‘ und ,Essenz‘ eines Autors,93 die ,den Essay‘ in eine Reihe bloßer Akzidenzien verstreut. Das ,Essayistische‘ als historische Invariante mit einer großen Möglichkeit historischer Konkretisierungen zu betrachten erscheint methodisch plausibel, auch wenn es sich nicht als „Schreibweise“ im Sinne Hempfers definieren lässt: Ein Essay wird wohl ohnehin niemals alle isolierten Merkmale des ,Essayistischen‘ auf sich vereinigen. Dazu können keine adäquaten Kriterien zur objektiven Bestimmung von Textkorpora genannt werden. Hempfer will seine Untersuchungen im Sinne einer Formulierung Petöfis verstanden wissen, der in einer lakonischen Bemerkung nicht mehr von der Theorie erwartet, als dass es ihr allmählich gelänge, die „relevanten Fragen“ zu stellen.94 Ich würde dagegen Richard Rorty folgen, der vorschlägt, mit alten Dingen aufzuhören und lieber „etwas anderes“ zu tun und die traditionellen Fragen durch „möglicherweise interessantere Fragen zu ersetzen“.95 Daher schlage ich vor, den Blick sowohl weg vom Essay als Gattung, als auch von der reinen Geisteshaltung, und ebenso von der „Schreibweise“ zu richten – denn all dies folgt einem Denken des fertigen und abgrenzbaren ,Produkts‘. Bereits Juan Marichal hatte sich bei der Betrachtung von Essays für eine dynamischere Herangehensweise ausgesprochen. Seiner Auffassung nach habe man es mit einer „literarischen Operation“ zu tun. Es gehe mehr um ein ,Wie‘ als um eine bezeichnende Haltung.96 Zentral erscheint auch für mich die Frage nach jenem Raum zwischen ,Essay‘ als Geisteshaltung und/oder Schreibweise auf der einen Seite und ,Essay‘ als Form, auf der anderen; zwischen ,mode‘ und ,genre‘.

 

Wie aktualisiert sich jener „essayistische Geist“? Peter Zima schlägt folgende Aspekte vor, die wieder im Anschluss an einen Postmoderne-Begriff lesbar wären: Konstruktivismus und Perspektivismus, die auf ein Kontingenzbewusstsein antworten; dazu gehören Dialogizität, die Ambivalenz der Erscheinungen, Selbstreflexion und Selbstironie sowie die Annahme der Freiheit des Subjekts in einem nachmodernen kritisch-utopischen Komplex.97 Ausgehend von Kristevas Intertextualitätsbegriff, nach dem er ,den Essay‘ als alle Diskurse aufnehmenden und umgestaltenden Intertext fasst, skizziert Zima eine dialogische Theorie, in der sich eine ideologiefreie Kritik entfalten kann. Zima geht es allerdings weniger um eine Theorie des ,Essayismus‘, sondern vielmehr darum, ein „theoretisches Potenzial ,des Essays‘“ herauszuarbeiten und für eine dialogische Theorie nutzbar zu machen. Für ein Erfassen des ,Essayistischen‘ in seiner Dynamik zwischen Genese und Struktur und als Prozess von De- und Restrukturierung, möchte ich daher einem anderen Ansatz folgen: Mit einem Wort, das Linda Hutcheon für postmoderne Texte prägt, ließe sich dieser Zwischenraum weder als Prozess, noch als Produkt, sondern als „process of making the product“98 charakterisieren. Denn der Prozess des Schreibens erscheint im ,Essayistischen‘ nicht rein intransitiv, nicht teleologiefrei aufs Geratewohl, oder im Sinne eines postmodernen Verständnisses rein spielerisch. Er bezieht immer ein Objekt ein, das zu wissen gewesen wäre und in dem auch das Schreiben seine Erfüllung in der Form gefunden hätte.

Das ,Essayistische‘ ist ,embodyment‘, ,Verkörperung‘, eine Problematik des Schreibens als Formwerdung, die sich in einer Problematik der Selbstwerdung des schreibenden Subjekts spiegelt. Typologisch lässt sich (wenn auch nicht erschöpfend) feststellen, dass sich diese Problematik in einer Reihe isomorpher Denkfiguren niederschlägt, die zwischen Konstruktion und Dekonstruktion changieren. Dazu gehören eine labile Metaphysik und eine ebenso labile Subjektkonstruktion. Diese Figuren konstituieren keine „Schreibweise“, sondern sind eingebunden in das Wirken einer ,Praxis‘, die jenen Zwischenraum von ,process‘ und ,product‘ als Aporie ausformuliert. Ich möchte daher das ,Essayistische‘ in seiner Dimension als ,Praxis‘ näher betrachten und diese als Suche nach einer ,möglichen‘ Form (sei es ein Wissen, das Subjekt, der gestaltete Text, oder die Wahrheit selbst) beschreiben, deren aporetische Struktur in den Metaphern von Weg und Lichtung evoziert wird. Die problematische ,Praxis‘ einer Formwerdung ist im Falle des ,Essayistischen‘, wie oben bereits erwähnt, verbunden mit einer ,Selbstwerdung‘ des schreibenden Subjekts. Zur Beschreibung dieser Bewegung schlage ich zwei mögliche Wege vor: Zunächst möchte ich versuchen, sie psychoanalytisch nach Lacan als ein Schreiben im ,Spiegelstadium‘ zu erfassen, das vor allem den Aspekt der ,Selbstwerdung‘ innerhalb eines dynamischen Wechselverhältnisses von Symbolischem und Imaginärem berührt. Zur Erweiterung der Diskussionsgrundlage will ich in dem Octavio Paz gewidmeten Analyseteil anschließend Julia Kristevas Begriff der „Textpraxis“ für das ,Essayistische‘ erproben und deren Operationen auf einer textuellen Tiefenebene sichtbar – oder hörbar – machen.

1.5 Über den wissenschaftlichen Umgang mit dem ,Essayistischen‘

Im Hinblick auf die Problematik des wissenschaftlichen Umgangs mit dem ,Essayistischen‘ sind die Erfahrungen mit einem ,Performance-Begriff‘ wie dem der Postmoderne wertvoll: Das ,Essayistische‘, hatte Obaldia geschrieben, sei ein „writing before the genre, before genericness“. Dies entspricht einer der prägenden Erfahrungen aus dem Feld der Postmoderne: Sie berührt nicht nur eine Gattungsproblematik, sondern hat auch Konsequenzen, wenn es um die generelle Möglichkeit eines literaturwissenschaftlichen Zugriffs auf das ,Essayistische‘ geht. In dem Sinn, in dem Lytotard die Postmoderne als der Moderne ,vorausgehend‘ lokalisiert, bilden Regeln und Kategorien keine präskriptiven Werte für die Konstruktion von Essays; diese sind vielmehr Objekt ihrer andauernden Suche. Die Metapher des Schreibens als (Um)Weg entfaltet ihre Wirksamkeit im Kontext des postmodernen Verständnisses der ,Suche‘. Ihre Bedeutung liegt in einem ,quest for knowledge‘99 selbst. Postmoderne Schriftsteller arbeiteten, so Lyotard, „um die Regel dessen zu erstellen, was gemacht worden sein wird“.100 Daher hätten diese Texte den Charakter eines Ereignisses; das heißt, für den Autor kommen die Regeln immer zu spät, beginnt ihr Werk immer zu früh. Es könne daher auch nicht nach fester Maßgabe beurteilt werden.101 Dieser Umstand macht eine ausschließlich literaturwissenschaftliche Herangehensweise umso schwieriger, und die Frage, ob sie überhaupt möglich ist, muss für mich in letzter Konsequenz zwingend offenbleiben. Die Diskussion darüber ist kein ketzerisches Störfeuer unakademischer Geister, sondern integraler Bestandteil einer ernsthaften wissenschaftlichen Beschäftigung mit Essays. Gerade in diesem Punkt kann und darf wissenschaftliche Erkenntnis nicht im Versuch bestehen, einen ,Schlussstrich‘ zu ziehen. Das heißt, wenn Literaturwissenschaft das Phänomen ,Essay‘ wirklich beschreiben will, kann sie dies nur mittels einer kritischen Beschäftigung mit ihrem eigenen Diskurs tun. Das ,Essayistische‘ ist in seiner Regellosigkeit vor allem textliches Ereignis: In dem Augenblick, in dem feste Beurteilungskriterien für die Texte angesetzt werden, ist das Ereignis schon vorüber. Studien, die ausschließlich versuchen, metasprachlich über einen Untersuchungsgegenstand zu verfügen, die eine solche Sprache ständig unterläuft, aber auch den Dialog mit ihr sucht, gehen am vielleicht ,wesentlichsten Punkt‘ des ,Essayistischen‘ schlicht und einfach vorbei. Mit den Worten Derridas: „Die Analyse von Mehrdeutigkeit, Heterogenität oder Instabilität entzieht sich per definitionem jeder endgültigen Schlussfolgerung und jeder erschöpfenden Formalisierung.“102 Das ,Essayistische‘ muss in seiner ,Bewegung‘ betrachtet werden, und dies lässt sich nicht nur anhand dynamischer Beschreibungsmittel bewerkstelligen, sondern es muss auch selbst in gewissem Umfang performativ sein, das heißt, es muss die Bewegung seines Gegenstands in seine eigene Methodik mit aufnehmen, sie in gewissem Maße spiegeln. Wolfgang Müller-Funk schreibt gar: „Es würde dem Thema widersprechen, wollte man es global ,bewältigen‘: eine Theorie des Essayismus will essayistisch vorgetragen sein, zwischen Erzählung und Abstraktion hin- und herpendelnd, ohne Anspruch auf Vollständigkeit – Umkreisung, Abwägung, Versuch, Mosaik, Fragment.“103 Dem schließe ich mich zumindest teilweise an. Eine Theorie des ,Essayistischen‘ darf freilich kein Essay sein, muss aber auf gewisse Elemente des Essayistischen zurückgreifen und sie in den wissenschaftlichen Diskurs integrieren. Für eine theoretische Annäherung an das ,Essayistische‘ halte ich daher vor allem Theorien für hilfreich, die sich im Umfeld des Poststrukturalismus oder, weiter gefasst, der ,Tel-Quel-Gruppe‘ bewegen. Sie besitzen häufig selbst jenen Ereignischarakter und reflektieren ihr ,Ereignis‘ metadiskursiv mit. Dabei entwerfen sie ein großes Repertoire von Beschreibungsmitteln für Texte, die in ähnlicher Weise performativ funktionieren: Essays.

Die Bildung eines Textkorpus stellte ein spezifisches Problem für meine Arbeit dar, und die Frage, ob und auf welche Weise sich bestimmte Texte im Licht eines ,Essayistischen‘ als performativer ,Praxis‘ betrachten lassen, wirft im Grunde erneut die Frage nach Subordination und genereller Kategorisierung auf. Gerade die hatte man jedoch vermeiden wollen. Es mag vielleicht verwundern, dass die Wahl mit María Zambranos Claros del bosque und Octavio Paz’ El mono gramático ausgerechnet auf Texte gefallen ist, deren Bezeichnung als ,Essays‘ nicht vollkommen unstrittig sein mag – oder wenigstens unerwartet. Sie entbehren vielleicht eines Exemplarischen im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand; zumindest wenn wir darunter das Vorhandensein einer möglichst breiten Schnittmenge an Textmerkmalen verstehen, die sich insgesamt für das ,Essayistische‘ ermitteln ließen. Darüber hinaus nehmen sie innerhalb des Œuvre der beiden Autoren eine gesonderte Stellung ein.104 Doch essayistische Texte verweigern ohnehin jeden Charakter des Exemplarischen. Vielmehr, denke ich, sind sie innerhalb von Strukturen zu betrachten, die Walter Benjamin als „Konstellationen“ beschreibt: „Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen. Das besagt zunächst: sie sind weder deren Begriffe noch deren Gesetze. Sie dienen nicht der Erkenntnis der Phänomene und in keiner Weise können diese Phänomene Kriterien für den Bestand der Ideen sein. Vielmehr erschöpft sich die Bedeutung der Phänomene für die Ideen in ihren begrifflichen Elementen.“105 Übertragen auf den Kontext dieser Studie, heißt das: Es kann nicht darum gehen das ,Essayistische‘ zu bestimmen, um davon ausgehend abzuleiten, nach welchen Gesetzen essayistische Texte funktionieren. Auch können die Einzeltexte als Phänomene nicht Zeugnis für die Existenz des ,Essayistischen‘ ablegen. Die Phänomene, schreibt Benjamin, bestimmten durch ihr Dasein, ihre Gemeinsamkeiten und Differenzen die Begriffe, mit denen sie erfasst werden können. In diesen Begriffen besteht ihre Bedeutung für die Idee. Umgekehrt erscheint die Idee bei Benjamin als Interpretation der Phänomene und ihrer Elemente, die erst durch ebendie Idee – wie die Sterne in den Sternbildern – ihre Zusammengehörigkeit erhalten. Essays und das ,Essayistische‘ können also nur gemeinsam untersucht werden. Letzteres kann nur in Konstellationen aus Einzeltexten erscheinen, und die Frage wäre also, wie sich ein Sternbild seine Sterne ,aussucht‘. Ein einzelner Stern kann dabei kaum als exemplarisch oder besonders typisch für das Sternbild gelten. Die Idee, sagt Benjamin, ist zwar das Allgemeine, aber nicht das Durchschnittliche. Ein Stern erhält seine Bedeutung für das Sternbild vielmehr aufgrund seiner einzigartigen Lage als Extrempunkt innerhalb der Konstellation. Das heißt, auf den Kontext übertragen: Wenn Einzeltexte ihre Bedeutung für das Essayistische aufgrund der Begriffe besitzen, die sich aus ihnen bilden lassen, so müssen es Texte sein, in denen diese Begriffe in aller Deutlichkeit und in extremer Weise zum Vorschein kommen.106 Eine Analyse die sich im Rahmen einer Konstellation bewegt, muss versuchen, Elemente der Einzeltexte begrifflich herauszulösen und in einen Zusammenhang zu bringen: „Als Gestaltung des Zusammenhangs, in dem das Einmalig-Extreme mit seinesgleichen steht, ist die Idee umschrieben.“107

Mit Claros del bosque und El mono gramático stützt sich meine Auswahl auf eine gewissermaßen reduktionistische Bestimmung des ,Essayistischen‘, die außer ihrer Eleganz noch einen weiteren Vorteil besitzt; sie markiert auch einen Extrempunkt des ,Essayistischen‘: Birgit Nübel beschreibt ein ,Essayistisches‘ nach Lukács, Bloch und Benjamin als intellektuelles Gedicht, Denkbild oder Gedankenerzählung, die ihren Charakter durch die Kombination von poetischen (bildhaft-narrativen) und argumentativen (diskursiv-reflexiven) Mustern erhält. Deren Verbindung beruhe jedoch nicht auf Kausalität und logischer Deduktion, sondern erfolge auf assoziative, sprunghafte Weise.108 Extrem ist die Textauswahl in mehrfacher Hinsicht: Erstens, weil hier María Zambrano und Octavio Paz die Polarität des Poetischen und des Argumentativen thematisch verarbeiten; zweitens, weil die fraglichen Texte auch auf einer operationalen Ebene diese Thematik performativ verarbeiten; und drittens, weil sie dies auf extreme Weise tun. Beide Texte reflektieren die Spannung poetischer und diskursiver Elemente in äußerster Intensität. Zwischen diesen beiden entsteht damit ein erweiterter Raum, in dem (wie in Platons Großbuchstaben) hervortritt, was sich in seinem Inneren abspielt. Denn das ,Essayistische‘ als „(Such-)Bewegung zwischen verschiedenen Punkten“109 bleibt im Ungefähren, solange der Zwischenraum lediglich als ,sprunghafte Assoziation‘ gekennzeichnet ist. Wenn es darum gehen soll, analytisch an den Operationsmodus der ,essayistischen Praxis‘ heranzukommen, dürfen solche Zwischenräume nicht einfach als Leerstelle ,übersprungen‘ werden. Wie genau werden durch den Sprung zwischen Poetischem und Argumentativem assoziative Querverbindungen gebildet, und welche Rolle spielt diese Bewegung innerhalb der problematischen Suche nach Sinn und Bedeutung, Ganzheit und Totalität? Diese Fragen halte ich für die drängendsten für die wissenschaftliche Arbeit am essayistischen Schreiben.

 

Einer Untersuchung innerhalb einer Konstellation ist jedoch nicht damit Genüge getan, Begriffe zu isolieren. Nach Benjamin ist die Idee nur als „Gestaltung des Zusammenhanges umschrieben“.110Die Elemente der beiden Texte von Zambrano und Paz sollen daher in solch einen gestalterischen Zusammenhang mit begleitenden Theoriebeiträgen gebracht werden. Lektüren von Jacques Lacan und Julia Kristeva, Jacques Derrida, Helène Cixous, J.-F. Lyotard, Michel Foucault, aber auch Martin Heidegger und weitere Texte von Zambrano und Paz sind Teil der Konstellation, mit der das ,Essayistische‘ zu umschreiben ist. Was sie verbindet, erscheint dabei immer wieder bildlich über die Metaphern des Wegs, der Lichtung und des Horizonts, die die Begriffe aufnehmen und stützen.

Die ,Konstellation‘ ist nicht als wissenschaftlich exakter Begriff belastbar, sondern selbst nur bildlich zu verstehen. Der Versuch einer Identifizierung ist, wie bei allen metaphorischen Darstellungen, hochproblematisch. Daher wird eine Identifizierung des Sternbilds in diesem Fall mit einer Idee des ,Essayistischen‘ früher oder später unweigerlich zu Widersprüchen führen. So lässt sich beispielsweise die Frage einer Varianz von Ideen allenfalls durch die Vorstellung einer Konstellation aus Konstellationen klären. Ebenso ließe sich aber das ,Essayistische‘ mit Derrida als die Idee des totalen Bekenntnisses und des „Alles-versammeln-Wollens‘ bestimmen, die in unterschiedlichen, wandelbaren essayistischen Konstellationen erscheint. Eine weitere Möglichkeit wäre – und sie scheint mir im Kontext dieser Arbeit nicht die schlechteste –, das ,Essayistische‘ als Praxis zu sehen, die an der Konstellationenbildung selbst teilhat; eine Kraft, welche die Sternbilder durch die Verbindung von Elementen erkennt – oder überhaupt erst gedanklich erzeugt und sich damit ebenso die Idee seiner selbst erschafft.111 All diese Vorstellungen besitzen Gültigkeit; die Konstellation bleibt als Metapher nur einem approximativ-intuitiven Verstehen zugänglich. Darin liegen zugleich ihre Schwäche und ihre Kraft.