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Из серии: Please insert coin #1
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»Was? Warum?« Der Bus hält. Rauschend öffnen sich die Türen.

»Gehen Sie! Gehen Sie! Gehen Sie!«, flüstert die Doktorin richtig gehetzt. Erschrocken zuckt Ava zusammen, kaum dass sie Noras Hände auf ihren Hüften spüren kann. Mit sanftem Druck schiebt sie Ava durch die Bustür. Der junge Mann neben ihnen macht es ihnen gleich und verlässt den Bus ebenfalls. Plötzlich geht alles so schnell, dass Ava nicht registriert was hier geschieht. Die Doktorin schiebt sie noch immer vor sich her, flüstert immer wieder »Gehen Sie!« und lässt sie nicht eigenständig handeln. Sie bekommt überhaupt gar nicht mit, wie der junge Mann links neben ihr immer näher an sie herantritt und sie plötzlich so stark zur Seite drängt um zur rechten Seite zu gelangen, dass Ava fast die Kontrolle über sich verliert.

»Herrgott, was … ?« Verdattert bleibt Ava stehen. Mit großen Augen starrt sie dem jungen Mann hinterher, der sich energisch an ihr vorbeischiebt und sie tatsächlich etwas zur Seite drängt. Stur geht er seinen Weg.

»Was war das denn?« Angesäuert blickt Ava nach hinten zu der Doktorin. Diese hat ein wissentliches Lächeln auf den Lippen. Sie nimmt die Hände von Avas Hüften und tritt vor sie.

»Das, Miss Ramirez, war der Mensch.«

»Bitte? Was genau meinen Sie damit?« Ohne darauf zu achten wo die Doktorin hinläuft, folgt Ava ihr und schaut sie von der Seite aus fragend an.

»Das war das typische egoistische und rücksichtslose Verhalten eines Menschen. Wenn Sie nicht stehengeblieben wären, hätte er Sie noch weiter zur Seite gedrängt, bis er seinen Weg wieder aufgenommen hätte. Er verfolgte sein Ziel, egal welche Folgen das gehabt hätte.«

»Ok, Ziele verfolgen ist ja gut und schön, aber doch nicht bei so etwas Kleinem wie das aussteigen aus einem Bus«, philosophiert Ava nachdenklich.

»Sie haben es doch eben am eigenen Leib erlebt, oder etwa nicht?« Ein kurzes nicken bestätigt Noras Aussage.

»Na also.« Sie zeigt nach vorne.

»Was wollen Sie denn einkaufen? Brauchen Sie einen Wagen?« Ohne es bemerkt zu haben, stehen Ava und die Doktorin vor dem Albertsons Einkaufscenter.

Vertieft über das was da eben geschehen ist, trottet Ava zu den Einkaufswagen, umgreift einen und will ihn gerade aus der Schlange ziehen, als sie Noras Blick im Nacken spürt. Die Psychiaterin beobachtet sie. Sie beobachtet jede einzelne Handlung von ihr. Nur warum? Etwas unheimlich wirkt das ja schon. Was soll das also?

»Eine Frage habe ich noch, Miss Jercy.« Ava lässt den Einkaufswagen los und dreht sich zu der Doktorin um. Erwartungsvoll schaut diese sie an.

»Ja?«

»Ok, es können auch ein paar mehr Fragen werden. Darf ich Ihr Badezimmer inklusive Toilette nutzen?« Mit einem Schlag erobert ein minimales Lächeln Noras Gesicht. Sie senkt den Kopf ein kleines Stück.

»Ja.«

»Besitzen Sie einen Kühlschrank der mit Strom betrieben wird und den ich mitnutzen darf?« Das Lächeln wird unmerklich breiter. Der Kopf senkt sich ein winziges Stück tiefer.

»Ja.«

»Besitzen Sie so etwas wie eine Mikrowelle, in der man sich Essen aufwärmen kann? Natürlich auch Strombetrieben.« Nora verlagert ihr Gewicht auf ein Bein und verschränkt die Arme vor der Brust. Normalerweise hat diese Haltung eine abwehrende Bedeutung, aber in Noras Fall wirkt es eher amüsiert.

»Nein. Wenn ich koche gibt es nur frische Sachen. Und damit wir uns gleich richtig verstehen: Ich esse kein Tier. Fleisch brauchen Sie also erst gar nicht einzukaufen. Vermeiden Sie so viele Nahrungsmittel wie möglich in denen Tier ist. Selbst ich schaffe es nicht immer es zu vermeiden, aber ich gebe mir Mühe und lese die Zutatenliste.«

Kein Fleisch? Herrgott, kein Fleisch? Auweia.

»Ok, ich werde darauf achten. Besitzen Sie denn Töpfe, Pfannen und ähnliches, welches man zum Kochen benötigt? Teller, Besteck?« Nora neigt den Kopf. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wird nun sichtbarer und deutlicher. Irgendwie wirkt es schelmisch. Oder? Nein. Ava kann das Lächeln nicht so recht einschätzen. Unheimlich.

»Sie stellen die richtigen Fragen, Miss Ramirez. Das gefällt mir. Pluspunkt, sehr schön. Natürlich besitze ich das alles. Ich werde Ihnen später etwas zusammenstellen was sie nutzen dürfen. Von allem anderen lassen Sie die Finger. Und nun« eine Kinnbewegung zum Eingang des Einkaufscenters wird getan »gehen wir einkaufen.«

Eine Welle an Freude und Stolz überkommt Ava. Sie hat die richtigen Fragen gestellt und dafür Pluspunkte erhalten. Es kann also nur noch besser werden.

***

»Kein Weizenmehl.« Mitten in der Bewegung verharrt Ava. Sie schaut zur Doktorin zurück.

»Wieso nicht?«

»Weil da Tier drinnen ist.« Ava platzt ein Lachen heraus. Sie blickt zum Mehl hinunter.

»In Weizenmehl? Schon klar«, gackert sie und sucht auf der Packung nach Tier.

»Das ist reines Mehl, mehr nicht. Da ist kein Tier drin.«

Nora tritt so dicht an Ava heran, dass der Journalistin mit einem Mal ein Duft in die Nase steigt, den sie bisher nicht wahrgenommen hat. Eine Mischung aus herb und süßlich, merkwürdig.

»Weizenmehl wird mit Schweineborsten versehen.« Entgeistert starrt Ava die Doktorin an.

»Schweineborsten?«

»Ja, diese kleinen borstigen Härchen von Schweinen, die man auch gut auf einer Speckschwarte sehen kann. Das befindet sich in Weizenmehl.«

»Warum? Was hat das da drin zu suchen? Das ist doch nur Mehl.«

»Die Industrie fügt Schweineborsten mit in das Mehl, damit es fluffiger wirkt, lockerer.« Eine Veränderung des Gesichtes findet bei Ava statt. Im ersten Augenblick ist sie überrascht, dann überwältigt und dann angewidert.

»Ok, jetzt ist mir schlecht«, brummt sie und lässt achtlos das Mehl auf die anderen Packungen zurückfallen.

»Schweineborsten in Weizenmehl, ich fasse es nicht.« Murmelnd wandert sie das Regal entlang und sucht nach einem Mehl, welches sie als Ersatz nehmen kann. Nora beobachtet sie wieder, bis sie vor sie tritt und sie somit regelrecht ausbremst.

»Dinkelmehl, oder Soja. Beides ist guter Ersatz. Es ist klebriger als Weizenmehl und etwas schwerer zu verarbeiten, aber dafür Tierfrei.« Ava durchsucht das Regal nach den Mehlsorten die Nora ihr genannt hat, bis sie plötzlich deren Zeigefinger vor ihren Augen sieht. Erschrocken zuckt sie zusammen, kaum dass Noras Finger ihr auf die Nasenspitze stupst.

»Sie gefallen mir.«

Hä?

Entgeistert starrt Ava der Doktorin hinterher, die sich nach diesem Kommentar einfach so umdreht und die Journalistin wie einen begossenen Pudel stehen lässt.

Flirtet die etwa mit mir? Wo ist die Furie von gestern geblieben? Ist sie vielleicht doch nicht dieses Miststück, für das sie von allen gehalten wird? Was ist hier los?

***

Avas Kopf schmerzt. In ihrem ganzen Leben hat sie noch nie geschlagene zwei Stunden in einem Einkaufscenter verbracht, um Lebensmittel für sich zu kaufen.

Egal wonach Ava griff, es kam bei fast allem ein Kommentar von der Doktorin. Sie bremste sie zuerst mit dem Wort Tier aus und dann erklärte sie ihr, auf welche Weise ein Tier mit in die Lebensmittel verarbeitet wurde. Ava konnte nicht glauben, dass sogar Säfte etwas vom Tier haben. Was gab es natürlicheres als einen Saft? Dass aber dieser durch Gelatine gegossen wird, damit er klarer wird, lässt sogar den besten Saft ekelig wirken.

Jetzt schwirrt Avas Kopf. Sie hatte ja keine Ahnung. All die Informationen zu verarbeiten und darüber nachzudenken, wieviel Tier man eigentlich isst, zollt seinen Tribut.

Mit aufkommenden Kopfschmerzen, biegen Ava und die Doktorin in den nächsten Gang und bleiben beide gleichzeitig stehen. In der Mitte des Ganges sehen sie wie eine Mutter an dem Arm ihres Kindes zerrt und zieht.

»Ich habe Nein gesagt und damit basta. Wir gehen jetzt.« Die Stimme der Frau wirkt forsch und aufgebracht. Das Kind reißt und rupft an der Hand der Mutter und versucht von ihr loszukommen. Ein Blick durch den Gang verrät den Grund weshalb das Kind plötzlich zu schreien beginnt. Süßigkeiten. Aha. Das Kind will also Süßigkeiten und die Mutter hat Nein gesagt. Fataler Fehler.

Wie vorhin verschränkt die Doktorin die Arme vor der Brust, verlagert ihr Gewicht auf ein Bein und betrachtet das Schauspiel zwischen Mutter und Kind.

»Adam! Komm jetzt! Ich habe Nein gesagt und damit ist jetzt Schluss.«

»Nein! Ich will diese Bonbons jetzt haben! Ich will, ich will, ich will!« Kaum dass der Junge mit einem Fuß aufstampft, zieht Ava leicht entsetzt den Kopf zurück.

»Und ich habe Nein gesagt! Du hast zu Hause noch genug Bonbons!«

»Aber nicht diese!« Strafend zeigt der Junge auf irgendwelche Bonbons in dem Regal neben sich. Als wenn sein rumbrüllen und rumstampfen noch nicht genug wäre, wirft sich der Junge tatsächlich auf den Boden. Er beginnt zu schreien und wild um sich zu schlagen.

»Adam! Steh sofort auf!« Die Mutter faucht ihren Jungen messerscharf an, aber der überhört sie gekonnt. Wie eine Heulboje brüllt der Junge den ganzen Gang zusammen. Seine Arme und Beine schlagen unkontrolliert um sich.

»Adam! Steh endlich auf! Die Leute gucken schon! Wenn du nicht sofort aufstehst, gehe ich alleine weiter und lasse dich zurück.« Ein kurzer beschämter Blick zu Ava und Nora folgt. Das Gesicht der Mutter ist vor Scham genauso rot, wie das ihres Jungen, der allerdings dabei ist, sich die Lunge aus dem Leib zu brüllen.

»Gut, wie du willst! Dann bleib eben hier!« Mürrisch, enttäuscht und wütend wendet sich die Mutter von ihrem Jungen ab. Dieser windet sich noch immer wie ein Käfer auf dem Rücken. Mit harten Schritten durchquert sie den Gang, bis sie fast das Ende erreicht.

 

Ava staunt nicht schlecht, als Nora aus ihrer Beobachterposition erwacht und einen Schritt in Richtung des Jungen macht.

»Ma'am, Sie haben da was vergessen!« Schon fast abwertend zeigt sie auf den Jungen, der noch immer den Boden bohnert.

Sie haben da w a s vergessen? Was sind Kinder für diese Frau? Bestien? Wie kann sie nur?

Ohne jegliche Reaktion auf diesen Kommentar, verschwindet die Mutter um den Gondelkopf. Wie angewurzelt bleibt Nora an Ort und Stelle stehen. Die brüllende Stimme des Jungen nimmt allmählich die nächsten Gänge mit ein. Wenn das so weitergeht, steht hier sicherlich irgendwann die Polizei. Ok, Security dürfte in diesem Fall vielleicht erstmal reichen.

Ava sieht, wie Nora zu dem quietschenden und brüllenden Jungen hinunterblickt. Dann zieht sie die Schultern hoch.

In dem Augenblick in dem Ava glaubt, dass sich Nora umdreht und den Jungen seinen Stimmbändern überlässt, sieht sie, wie die Doktorin sich auf den Boden setzt. Direkt neben den zappelnden Jungen.

Erschrocken springt Ava einen ganzen Schritt zurück, kaum dass die Doktorin zu brüllen und zu schlagen beginnt. Genau wie der kleine Adam, liegt nun Nora auf dem Boden des Einkaufscenters und imitiert den Jungen perfekt. Sie schreit den ganzen Gang zusammen, liegt auf dem Boden und schlägt und tritt ebenso wild um sich wie der Junge.

»Oh Gott, ist das peinlich.« Flüsternd zieht Ava den Kopf ein, geht ein paar Schritte rückwärts und wagt es kaum zu der hoch angesehenen und ausgezeichneten Doktorin zu blicken, die sich wie ein Kleinkind auf dem Boden des Einkaufscenters windet.

Wieso macht sie das? Der Junge will Süßigkeiten, aber weshalb gibt sie sich freiwillig diese Blöße?

»Adam?« Hecktisch kommt die vermisste Mutter in den Gang zurück. Sie bleibt stehen, als sie die erwachsene Frau neben ihrem Jungen auf dem Boden rumrudern sieht. Dieser wird mit jeder Sekunde ruhiger und stiller. Er liegt auf dem Bauch, klappt das Kinn herunter und starrt die erwachsene Frau ohne jeglichen Verstand an. Auch er scheint nicht zu glauben, in was für eine Situation sich diese fremde Frau gebracht hat.

Nora schreit und schlägt noch immer um sich, bis die Mutter ihren Jungen vom Boden zieht. Dieser gafft Nora mit offenem Mund so lange an, bis ihn seine Mutter aus dem Gang gezogen hat. Weg von diesem Anblick. Weg von dieser psychisch kranken Frau.

Kaum ist die Mutter um die Ecke gebogen, verstummt Nora. Atmend bleibt sie auf dem Boden liegen. Als Ava sie dann nach ein paar Sekunden kichern hört, zweifelt sie an ihrem Verstand.

Langsam traut sie sich zu der Doktorin hin. Mit großen Augen schaut sie zu ihr hinunter. Die gute Frau lacht tatsächlich. Nora liegt auf dem Boden und kichert freudig vor sich hin.

»Warum kichern Sie?« Mit funkelnden und glänzenden Augen schaut Nora zu Ava hinauf.

»Das war witzig«, grinst sie und steht vom Boden auf.

»Was, bitteschön, war daran denn witzig? Dass Sie sich zum Volldeppen gemacht haben?« Nora klopft sich den Schmutz von der Hose.

»Ist es das was Sie gesehen haben?« Sie greift sich an den Dutt und zieht das Gummi heraus. Das Ding auf ihrem Kopf sieht nach diesem Bodenwalzer alles andere als vernünftig aus. Er wirkt eher wie ein durchgeschleuderter Haufen Spaghetti.

»Natürlich. Was soll ich denn sonst gesehen haben?« Mit beiden Händen fährt sich Nora durch ihre bordeauxfarbenen Haare. Sie schiebt sie auf eine Seite.

Ungewollt beobachtet Ava diese Bewegung. Ihr Blick wird etwas schwammig, kaum, dass sie den freigelegten Hals der Doktorin wahrnimmt. Er wirkt sanft und irgendwie einladend.

Nora greift sich in die Haare, kämmt sie mit den Fingern flüchtig durch, schiebt sie zurecht und zwirbelt sie zu einem neuen Dutt zusammen. Ava muss doch tatsächlich blinzeln, um das Bild von langen roten Haaren auf vollen Brüsten aus ihrem Gehirn zu fegen.

»Ihnen ist also nicht aufgefallen, dass der Junge aufgehört hat zu brüllen und um sich zu schlagen?«

»Doch, das ist mir schon aufgefallen, aber … .«

»Glauben Sie mir, dieses Kind wird sich nie wieder auf den Boden werfen und herumschreien. Ihm war diese Situation ebenso suspekt wie peinlich, so dass er das niemals wieder wagen wird. Einen Menschen kann man am besten mit seinen eigenen Waffen schlagen. Egal wie groß oder klein dieser Mensch ist. Es ist reine Psychologie«, unterrichtet Nora Ava in menschlicher Psychologie und tippt sich gegen den Kopf.

Kapitel 4

Gegen Abend wandert Ava zum Stall hinüber. Sie hat Nora vor einiger Zeit dort drinnen verschwinden sehen. Wer weiß was sie da macht.

Avas erster Versuch relativ tierfrei einzukaufen, ging ihres Erachtens gründlich nach hinten los. Irgendwie hatte sie das Gefühl versagt zu haben, obwohl sie keine Ahnung hatte was zur Hölle sie da eigentlich tat. Wieso ließ sie sich von Nora in Bezug auf ihre Essgewohnheiten beraten und regelrecht leiten? Sie kann doch wohl selbst bestimmen was auf ihrem Teller landet. Diese Tatsache wurde ihr aber erst bewusst, als sie ihren Einkauf in den Kühlschrank räumte, in dem Nora doch tatsächlich eine Borte für sie freigemacht hat. Ava glotzte auf Gurke, Tomate, Feldsalat, Hummus, Sojamilch, Sojajoghurt, Marmelade, Dinkel-Kürbis-Chia-Brot und hatte absolut keine Ahnung was sie damit anstellen soll. Sie wird jämmerlich verhungern, das weiß sie.

Für Nora war Avas Einkauf gar nicht mal so übel. Die Journalistin ließ sich sehr vieles von ihr erklären und horchte aufmerksam hin. Sie versuchte vieles in die Tat umzusetzen, benötigte aber noch Stützräder, die in Form der Doktorin aussahen. Es würde mit jedem Mal besser werden, beruhigte Nora die junge Frau und streifte mit einer Hand deren Hüfte. Ava glaubte sich getäuscht zu haben und schob diesen Gedanken ganz schnell beiseite.

Nun sieht sie Nora an der Box ihres Pferdes lehnen. Ava tritt an ihre Seite. Irgendwie schon fast sehnsüchtig hat Nora ihren Kopf auf den Armen abgelegt.

»Wieso verlässt Ihr Pferd die Box nicht?«, stellt Ava eine berechtigte Frage und zeigt auf das offene Tor.

»Missy mag die nächtliche Kälte nicht. Sobald es morgen früh wärmer wird, geht sie raus und kommt abends freiwillig wieder rein.« Noras Augen liegen verträumt auf dem braunen Pferd, das sich von so viel Besuch nicht stören lässt.

»Missy? Sie haben das Pferd Missy genannt?« Nora nickt, zieht dann aber gleichzeitig die Schultern hoch.

»Mir ist kein Name eingefallen. Ich bin recht einfallslos was sowas angeht.«

Ok, wo ist die Frau von gestern geblieben? Wo ist die Frau, vor der sich alle fürchten? Sie scheint doch recht umgänglich zu sein.

»Was ich gestern vergessen habe Ihnen in Bezug auf mein Büro zu sagen, ist, dass, wenn die Tür geschlossen ist, diese auch geschlossen bleibt. Sie werden es nicht wagen einzutreten, zu klopfen oder sonst irgendwie meine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Tür bleibt geschlossen.« Ava schaut Nora etwas skeptisch an.

Was machst du da drinnen? Menschen ausweiden? Pornos schauen?

»Eine geschlossene Tür sollte eigentlich verdeutlichen, dass sie auch geschlossen bleibt«, murmelt Ava. Sofort ruckt Nora den Kopf in ihre Richtung. Finster schaut sie die Journalistin an.

»Mit Sicherheit habe ich das nicht ohne Grund gesagt, also widersprechen Sie mir nicht!«

Ok, da ist das Miststück von gestern wieder. Hat ja kaum vierundzwanzig Stunden gedauert. Außerdem habe ich dir nicht widersprochen, Schnepfe.

Avas Magen knurrt und unterbricht somit die eingetretene Stille. Die junge Frau beugt sich etwas und zieht den Bauch ein, nur um irgendwie zu versuchen, das Geräusch zu minimieren.

Kaum, dass Noras Kopf sich in ihre Richtung dreht und deren Augen eine Etage tiefer fallen, weiß Ava, dass die Doktorin das Geräusch vernommen hat.

»Ist Ihnen im Laufe Ihres Lebens erklärt worden was dieses Geräusch zu bedeuten hat, oder muss ich Ihnen das allen Ernstes erklären?« Ava beginnt mit den Zähnen zu knirschen.

Ok, wirst du erst abends so pissig, oder was? Wenn ja, dann kann ich mich wenigstens darauf einstellen.

»Mir ist durchaus bewusst, dass ich Hunger habe und mein Magen was zu arbeiten haben will. Aber ich weiß leider Gottes noch nicht so genau was ich mit den Lebensmitteln anfange, die ich gekauft habe. Mir ist das neu und schleierhaft.«

Mit rollenden Augen stößt sich Nora von der Box ab. Sie geht an Ava vorbei, hebt eine Hand und winkt sie mit dem Zeigefinger zu sich.

Wie ein kleiner treudoofer Hund trottet Ava der Doktorin hinterher, die sie mit einer einzigen Handbewegung im Haus an den Küchentisch zitiert.

»Setzen!«, zischt sie, als wenn Ava vor irgendeinem Gremium sitzen und um ihr Leben betteln müsste.

Die Journalistin sieht, wie sich Nora mit ihren Lebensmitteln vertraut macht.

Macht die mir jetzt etwa mein Essen, oder was? Herrgott, bei dieser Frau kriege ich noch ein Schleudertrauma. Auf der einen Seite scheißt sie mir die ganze Zeit gegen den Wind und auf der anderen umsorgt sie mich. Sind Soziopathen immer so? Wie soll ich damit bloß klarkommen?

Ein paar Minuten werkelt Nora in der Küche herum, wäscht, schmiert, schneidet. Das volle Programm. Sie dreht sich zu Ava um und stellt ihr ein Brett mit vier Scheiben Brot und ein Glas Milch vor die Nase.

»Essen Sie.« Mit großen Augen schaut Ava zum Brett hinunter. Eine Scheibe Dinkel-Kürbis-Chia-Brot mit geschnittenen Tomaten, verfeinert mit Salz und Pfeffer. Eine Scheibe mit Gurken, ebenfalls verfeinert. Eine mit Hummus und eine mit Marmelade. Bis auf die süße Scheibe, wurde alles noch mit zwei Blättern des Feldsalates dekoriert.

Und das kann man essen? Ich hätte noch Butter kaufen sollen damit es nicht so trocken wird. Ach nein, das ist ja Kuh. Soll man davon echt satt werden?

»Gute Nacht.« Überrascht blickt Ava auf.

Will die mich jetzt echt hier alleine sitzen lassen? Warum auch nicht? Ich bin erwachsen und kann alleine essen. Aber vielleicht wäre etwas Gesellschaft auch ganz schön. Nein, Nora ist Soziopathin. Ihr ist so etwas egal.

»Gute Nacht«, brummt Ava und nimmt die Brotscheibe mit den Tomaten hoch. Skeptisch schaut sie es an. Sie hat schon oft Tomate auf Brot gegessen. Aber meist war da noch etwas Wurst mit dabei, oder Käse. Oder es war überbacken, oder oder oder.

»Du wirst schon nicht sterben.«

Der erste Bissen in das Brot wirkt irgendwie fremd. Brot, Tomate, Salz, Pfeffer. Das ist das einzige was Avas Geschmacksnerven aufnehmen. Es fehlt etwas. Es schmeckt fad, irgendwie langweilig.

Aber der Hunger treibt Ava an als nächstes das Brot mit der Gurke zu essen. Auch hier zeigen ihr die Geschmacksnerven einen Vogel. Mit Messer und Gabel ausgestattet warten diese auf das sehnsüchtig erwartete Fleisch. Sie bekommen sogar schon richtig schlechte Laune.

Der erste Bissen in das Brot mit Hummus, lässt Ava ein neues Gesichtsfasching erfinden.

Was zur Hölle ist das für ein ekeliges Zeug?

Avas Geschmack erschlägt sie mit einer mehligen Substanz, die einfach mit irgendetwas nass gemacht wurde, damit es nicht ganz so staubt.

Angewidert will sie vom Stuhl aufspringen und die Überreste im Mund in den Mülleimer spucken. Allerdings schlägt sie sich eine Hand auf den Mund, als Nora die Küche betritt.

Mit einer schnellen Bewegung wirft die Doktorin ihrer neuen Mitbewohnerin ein Buch auf den Tisch. Rutschend kommt dieses vor der jungen Frau zum Erliegen.

»Hummus schmeckt beim ersten Mal immer widerlich. Sie gewöhnen sich daran. Irgendwann wollen Sie dann gar nichts anderes mehr essen.«

Lieber sterbe ich, bevor ich dieses Zeug nochmal esse.

Mit aller Kraft schluckt Ava und würgt dieses ungewohnte Zeug herunter.

»Aus was wird Hummus gemacht? Aus Leichensäcken?«, hustet sie und nimmt einen großen Schluck Sojamilch. Kaum erreicht diese Flüssigkeit Avas Geschmacksnerven, brüllen diese sie lautstark an. Ein leicht modriger Geschmack breitet sich in ihrem Mund aus.

Oh Gott, wo ist dieses Soja bloß gewachsen? Im Kuhstall?

»Aus Kichererbsen. Und wenn Ihnen Sojamilch nicht schmeckt, kann ich Ihnen noch Hafermilch empfehlen. Diese ist nicht ganz so geschmacksintensiv.«

 

Hafer? Bin ich ein Gaul, oder was?

»Wir gehen morgen nochmal einkaufen.« Mit diesen Worten verlässt Nora die Küche erneut. Vielleicht bleibt sie diesem Raum auch endlich fern, damit Ava in Ruhe dieses Zeug essen oder in den Müll befördern kann.

Neugierig blickt sie zu dem Buch hinüber, das die Doktorin ihr hingepfeffert hat. Vegetarische und vegane Ernährung. Ava rollt mit den Augen.

»Nope.« Mit einem Finger schiebt sie das Buch von sich und beißt gedankenverloren in das Brot hinein. Kaum schmeckt sie die zermatschten Kichererbsen, kneift sie die Augen zusammen.

Scheiße bin ich doof.

Hecktisch schaut sie mit vollem Mund zur Küchentür und sucht nach der Doktorin. Nicht da, sehr schön. Hibbelig springt sie vom Stuhl auf, dribbelt zum Mülleimer und öffnet den Deckel. Gerade als sie ihren Mund von diesem Zeug befreien will, fallen ihr die Schweineborsten in dem Weizenmehl ein.

Ok, was ist ekeliger? Die Borsten, oder die Erbsen?

Während der Speichel eine unangenehme Pampe in ihrem Mund produziert, wiegt sie pro und contra ab. Sie entscheidet sich, schluckt die pürierte Erbse hinunter und schließt den Mülleimer.

Versuch es einfach mal. Du kannst daraus nur lernen und nach der Zeit bei dieser Hexe wieder normal essen. Neue Erfahrungen können lehrreich sein. Also Arschbacken zusammenkneifen und mal was anderes ausprobieren.

Zurück am Tisch, beißt Ava vom Brot ab und ignoriert ihre Geschmacksnerven. Nebenbei schlägt sie das Buch auf. Ein Rezeptbuch. Neugierig blättert sie in den Seiten und erwartet einen Salat nach dem anderen. Sie ist überrascht über die Vielfalt der Gerichte die ohne Fleisch möglich sind.

Vom Brot abbeißend, erweitert sie ihr Wissen und staunt Bauklötze, dass man Parmesan-Käse ganz leicht selbst herstellen kann. Geröstete Mandeln und Hefeflocken. Mehr braucht man dazu nicht. Es werden also keine Enzyme benötigt, die nur im Magen eines jungen Kalbes gebildet werden.

Alleine bei dem Gedanken daran, dass Parmesankäse aus Enzymen gemacht wird, die im Magen eines Lebewesens gebildet werden und sie das ohne jegliche Bedenken gegessen hat, lässt Ava fast würgen. Enzyme, Mageninhalt, lebendes Tier … . Leicht angewidert schüttelt sie sich.

Kauend schlägt sie sich durch das Buch. Interessiert liest sie ein Rezept nach dem anderen. Sie ist begeistert von der Vielfalt an Rezepten, die ganz oder teilweise auf tierische Produkte verzichten. Sie wird einiges davon ausprobieren, das weiß sie. Alleine schon weil ihre Neugierde sie nicht in Ruhe lassen wird.

***

»Also, was sehen Sie?« Ava nimmt neben der Doktorin Platz und zieht die Schultern hoch. Genau wie gestern, fahren die beiden zuerst mit dem Auto, um dann in den Bus zu wechseln.

»Nichts.« Ava zeigt durch den Bus.

»Hier sitzen Menschen, die in einem öffentlichen Verkehrsmittel von einem Ort zum anderen gefahren werden. Das ist alles was ich sehe.« Miss Jercy nickt.

»Ok, wir wiederholen das.« Genervt rollt Ava mit den Augen.

»Keine Sorge, nicht heute«, beruhigt Nora die Journalistin und tätschelt ihren Oberschenkel.

»Sondern jeden Tag. Solange bis Sie das sehen, was ich Ihnen zeigen möchte.«

Was auch immer das sein soll.

***

Vorsichtig tritt Ava an die angelehnte Bürotür. Irgendwie erwartet sie dort das Schlimmste. Irgendetwas was zwischen diesen kleinen Spalt hindurch springt, sie anfällt und bestialisch auseinanderreißt. Das würde zu Nora passen. Dieses bestialische, dieses auseinanderreißen, dieses herzlose.

»Miss Jercy, darf ich reinkommen?« Nora ist schon vor zwei Stunden im Büro verschwunden. Bis auf Musik hat Ava seitdem nichts mehr von ihr gehört. Sie selbst saß diese zwei Stunden in ihrem Zimmer an dem kleinen Tisch und starrte auf die Schreibmaschine. So ein Ding hat sie mal in einem Museum gesehen. Hinter einer Glasscheibe, aber noch nie in natura.

Alleine durch das anschauen dieses Ungetüms machte sie sich mit der Technik vertraut. Hin und wieder beugte sie sich über das schwere Ding, betrachtete jede Taste, jeden Knopf und jeden Schieber. Ein Blatt einzuspannen und drauf loszutippen, traute sie sich aber noch nicht. Also schnappte sie sich Stift und Papier und begann die ersten Zeilen zu schreiben. Da sie es aber gewohnt ist, zu tippen, protestierten ihre Muskeln im Arm schon recht schnell. Also gab sie auch das nach einiger Zeit auf.

Dann stand sie vor der Bürotür und wusste nicht so recht, ob sie einfach so eintreten darf, oder ob sie zuvor klopfen sollte. Sie wusste, dass es eigentlich egal war was sie tat, in Noras Augen schien irgendwie alles falsch zu sein.

»Ist die Tür offen?«, ruft die Doktorin als Antwort. Ava schnaubt, blickt zur Sicherheit aber noch einmal an der Tür entlang.

Wie doof du doch bist.

»Ja.«

»Na dann bitte.« Ava holt tief Luft, stärkt sich und zieht die Tür weiter auf. Die Musik wird dadurch lauter. Alleine deswegen bildet sich schon ein kleines Grinsen auf ihren Lippen. Woodstock.

Die gute alte Doktor Nora Jercy hört also Oldies? Ist da unter dieser harten Schale vielleicht ein menschliches Herz?

»Ich würde ganz gerne sehen was … . Oh. Mein. Gott.« Mit dem nächsten Atemzug weicht jegliche Farbe aus Avas Gesicht. Sie beginnt zu zittern. Die Augen weiten sich. Ihre Beine fangen zu wackeln an. Schlagartig wird ihr schlecht.

Wie eine Schwangere die das erste Mal die morgendliche Übelkeit erlebt, schlägt sich Ava eine Hand auf den Mund, reißt sich herum, rennt aus dem Büro, stürzt in das Badezimmer und übergibt sich.

Tränen brennen in ihren Augen. Sie konnte nur wenige Sekunden sehen was sich in Noras Büro befand, aber das war schon genug. Ava weiß, dass sie diesen Anblick niemals in ihrem Leben vergessen wird. Er hat sich so schnell in ihrem Gedächtnis festgebrannt, wie der Moment, wo sich ihre Eltern vor einigen Jahren erneut das Ja-Wort gaben und nochmal heirateten.

Ihre Eltern waren für sie das perfekte Paar. Von Jugendtagen an waren sie zusammen. Es schien, als wenn sie nur Augen für sich hätten und keinerlei Interesse an anderen Männern oder Frauen hatten. Immer sahen sie nur sich. Sie stritten und fetzten sich oft, aber genauso oft vertrugen sie sich auch wieder. Ava musste das schon oft genug miterleben … geräuschvoll aus dem Schlafzimmer ihrer Eltern.

Auf der einen Seite fand sie es schön, dass die beiden noch aktiv waren und sich nach all den Jahren immer noch anziehend fanden. Aber das war einfach etwas, worauf sie gut und gerne verzichtet hätte. Eltern durften einfach keinen Sex mehr haben. Sobald ihre Kinder wissen was Sex ist, ist diese natürliche Sache mit einem Schlag für die Eltern ausgestorben. Es ist einfach ein unausgesprochenes Gesetz. Nur die Kids dürfen Sex haben. Die jungen und knackigen Leute. Nicht alte Menschen, die einen Rollator vor sich herschieben. Und schon gar nicht Eltern, basta.

Ava ist sich nicht ganz sicher, ob sie das will. Ob sie wirklich wieder in dieses Büro zurück will. Das was sie in den paar Sekunden sah, hat sie definitiv verstört. Wenn sie aber das Buch über Nora schreiben und sie verstehen will, muss sie da durch. Sie wusste ja womit sich die Doktorin beschäftigt - was ihr Beruf ist. Dies nun aber mit eigenen Augen zu sehen, ist schon etwas ganz anderes.

Aber wie sagte Nora gestern? Learning by doing. Also Arschbacken zusammenkneifen und durch da.

»Fertig mit kotzen?«, brummt Nora, als sie Ava hinter sich das Büro betreten hört. Über einen großen Schreibtisch gebeugt, schenkt die Doktorin ihrer Mitbewohnerin keinerlei Beachtung.

Der Schreibtisch ist über und über mit Büchern, Akten und Papieren überladen. Bleistifte blinzeln aus Bergen von Papieren heraus. Ein Lineal ragt bedrohlich weit aus einem Buch heraus und unzählige Klebezettel verleihen irgendwelchen Büchern einen farbenfrohen Touch.

»Was … was ist das alles?«, stottert Ava und schluckt. Irgendwie schmeckt ihre Mundhöhle noch immer nach Kotze.

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