Operation Werwolf - Blutweihe

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Ein Abgang nach Maß, schoss es ihm in einem Anflug von Vergnügtheit durch den Kopf, dagegen gab es ja wohl nichts einzuwenden. Er hatte sich entschieden zu weit aus dem Fenster gelehnt, und wie unter seinesgleichen üblich, bekam der Koloss vom Bergmannkiez die Rechnung präsentiert. Eins freilich hatte er jedoch bis heute für sich behalten, nämlich dass es mit seiner Pumpe aufgrund seines Übergewichts nicht zum Besten stand und dass er bis zum Abwinken Herztabletten schlucken musste, ohne die er längst einsachtzig tiefer gelandet wäre. Auf keinen Fall durfte man das in seinen Kreisen an die große Glocke hängen, andernfalls wäre man nicht für voll genommen worden. Stolze zweieinhalb Zentner, auf knapp zwei Meter Körpergröße verteilt. In Kombination mit seiner Vorliebe für Hochprozentiges und Havannas ein Vabanquespiel par excellence.

Doch damit, will heißen mit russisch Roulette á la Emil, war es unwiderruflich vorbei. Leschek hatte seine Entscheidung längst getroffen, und wie ihm erst jetzt, im Angesicht seines Peinigers, klar wurde, waren die Würfel bereits vor Monaten gefallen.

Wenn schon einen Abgang machen, schoss es ihm durch den Sinn, als er binnen Sekunden in sich zusammensackte, dann wenigstens mit Stil.

Das war er seiner Ganovenehre schuldig.

Denn einer, so lautete sein letzter Gedanke, musste schließlich den Anfang machen. Sonst würden die Henker dieser Welt die Oberhand gewinnen.

Und das durfte auf keinen Fall passieren.

*

»Na, wie geht’s uns denn so, schöner Mann?«, gurrte Bijou, Animierdame im »Kakadu«, dem Stammgast an der Bar im Souterrain ins Ohr, bei dem ihre Avancen auf taube Ohren stießen. »Was ist, gibst du mir einen aus?«

Die Antwort auf die Offerte blieb aus. Heute, viereinhalb Wochen nach seiner Beförderung, hatte der schlaksige junge Grübler andere Sorgen. Kommissar bei der Kripo Berlin, schon als Pennäler war das sein erklärtes Ziel gewesen. Um auf dem Laufenden zu sein, hatte er Artikel über Kriminelle gesammelt, im Berlin der 20-er keine Seltenheit. An erster Stelle rangierten dabei die Gebrüder Saß, Einbrecherkönige aus Moabit, gefolgt von den Ringvereinen, die keine Gelegenheit ausließen, die Polizei auf Trab zu halten. Ernst Gennat, Leiter der Mordinspektion mit der Bilanz von 298 aufgeklärten Tötungsdelikten, war sein absolutes Idol gewesen, und er hatte sich vorgenommen, dem legendenumwobenen Ermittler nachzueifern. In jenen Tagen, kurz bevor die Börse ins Taumeln geriet, zählten die Kommissare zu den Topstars der Gazetten. Kein Tag, an dem nicht ausgiebig über sie berichtet wurde, mitunter sogar mehrmals pro Woche. Und dann, für Heranwachsende unverzichtbar, gab es auch noch die Groschenhefte, eine wahre Fundgrube, was reale und fiktive Ganovenjäger betraf.

Heute, fünf Jahre und einen Monat nach seiner Versetzung zur Kripo, tickten die Uhren im Präsidium anders. Und beileibe nicht nur dort, sondern überall im Land. Mit dem Staat, so der verbreitete Flüsterwitz, war keiner mehr zu machen, und was den jungen Mann betraf, konnte er dem nur zustimmen. Damals, zu Zeiten eines Adolf Leib, Pate des organisierten Verbrechens, hatten sich die Ganoven in den Kaschemmen am Schlesischen Bahnhof herumgetrieben. Ab 1933, mit Beginn des sogenannten Dritten Reiches, residierten sie in den Ministerien, und man musste kein detektivisches Genie sein, um ihren Machenschaften auf die Spur zu kommen. Dumm nur, dass Reichsführer-SS Heinrich Himmler, einer der Drahtzieher im Syndikat des Schreckens, vor fünf Jahren zum Chef der Deutschen Polizei ernannt worden war. Zweifelsohne war damit der Bock zum Gärtner gemacht und die Kripo in den Dienst eines Systems gestellt worden, mit dem zumindest er nichts zu tun haben wollte.

»Wie es mir geht, willst du wissen? Hast doch Augen im Kopf, oder?« Eins hatte er begriffen: In einer Zeit, wo die Welt aus den Fugen geriet, war für Quertreiber wie ihn kein Platz, und er wunderte sich, wie er es fertigbrachte, bei der Kripo seinen Mann zu stehen. Im Grunde, das wurde ihm nach reiflicher Überlegung bewusst, hätte er längst Nägel mit Köpfen und sich so unauffällig wie möglich aus dem Staub machen sollen. Aus den Plänen, irgendwo anders neu anzufangen, war jedoch nichts geworden. Warum, das wusste er selbst nicht so genau. An den Ganoven im Braunhemd konnte es jedenfalls nicht liegen, denn die, wie im Übrigen auch ihre Claqueure, hatte er gefressen. Was ein echter Preuße war, als den er sich mit Vorliebe betrachtete, der fiel auf Latrinenparolen nicht herein, egal aus wessen Mund sie kamen.

»Du guckst ja so komisch, Sydow-Schatz, irgendwas nicht in Ordnung?«

»Von Sydow – Ordnung muss ja schließlich sein«, feixte der frischgebackene Kriminalkommissar zurück, an dem ein Raymond Chandler seine helle Freude gehabt hätte, signalisierte dem Barkeeper, dass er am Verdursten sei, und bestellte den dritten Gin in Folge, zum Verdruss der parfümierten Circe, die den markanten Duft von Quelques Fleurs verströmte. »Wie oft soll ich dir das eigentlich noch sagen, oh du blond toupierte Frau meiner Träume!«

»Schön wär’s.«

»Was denn, Süße?«

»Na, das mit der Traumfrau«, mokierte sich Bijou, eine auf Lolita getrimmte Blondine Anfang 20, die mit bürgerlichem Namen Hertha Krause hieß, saugte am Mundstück ihrer Juno, als ob sie seit Wochen keine Fluppe mehr geraucht hätte, und stocherte mit dem Strohhalm in ihrem Cocktailglas herum. Anders als erhofft biss Sydow jedoch nicht an und zeigte der Animierdame die kalte Schulter. »Aber danke für die Blumen, ob du es ernst gemeint hast oder nicht.«

»Keine Ursache, man tut, was man kann.« Wider sonstige Gewohnheiten war er nicht in der Stimmung, Süßholz zu raspeln, und das hatte auch seinen Grund. Im Präsidium war wieder mal die Hölle los gewesen, und nicht nur da, wie er zu seinem Leidwesen konstatierte. Auch in Liebesdingen lief es momentan nicht rund, ein Grund mehr, die Reminiszenzen an der Bar im »Kakadu« zu ertränken. Ein Glas Beefeater oder zwei, und schon sah die Welt wieder anders aus. Letztere war ohnehin schon kompliziert genug, vom Krieg, der nun schon fast zwei Jahre dauerte, nicht zu reden.

Im Gegensatz zu etlichen Kollegen war Sydow von einer Einberufung zwar verschont geblieben, aber damit hatte es sich dann auch schon gehabt. Die Siegeschancen, mit der Meinung stand er nicht allein, waren ohnehin gleich null, und es grenzte an Idiotie, das Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. Was passierte, wenn am Ende auch noch die Amerikaner mitmischten, daran wollte Sydow lieber nicht denken. Er war hier, um sich zu amüsieren, wie so viele, die ahnten, dass ihnen das Lachen bald vergehen würde.

Falls es ihnen nicht schon längst vergangen war.

Da lobte er sich doch seine Arbeit, die lenkte ihn wenigstens ab. Mit der Fahndung nach dem S-Bahn-Mörder, die bei der Kripo hektische Aktivität ausgelöst hatte, hatte er zwar nur am Rande zu tun, aber das bedeutete nicht, dass er eine ruhige Kugel schob. Entgegen der Behauptung, die Kriminalität stehe vor dem Aus, konnte er sich über einen Mangel an Beschäftigung nicht beklagen. Die Kollegen von der SOKO Werwolf, auf Anordnung von Himmler aus der Taufe gehoben, bliesen ins gleiche Horn wie er. Bei der Fahndung nach dem Mörder drohte ihnen die Puste auszugehen, und wenn das so weiterging, bekäme die Kripo den Wind von vorn. Die Gestapo wartete nur darauf, den Fall an sich zu ziehen, und genau das galt es unter allen Umständen zu vermeiden.

Das Fazit war so unausweichlich wie einleuchtend, auch wenn niemand darüber sprach. Der Rest der Kollegen, vorwiegend jüngere Semester wie er, malochte, was das Zeug hielt. Und das, von amourösen Turbulenzen abgesehen, war auch der Grund, warum Sydow ein Glas nach dem andern leerte. Hin und wieder musste man auch mal auf den Putz hauen, so lautete die Losung für den Tag. Selbst dann, wenn man knapp bei Kasse war.

»Hallöchen, Herr Kommissar – ich rede mit dir. Ein Pfennig für deine Gedanken, schöner Mann!«

»Du wirst es nicht glauben, aber ich höre gut.« Typisch Hertha, sie ließ einfach nicht locker. Dabei wollte er doch nur einen auf Nostalgie machen, ohne Ringelpietz mit Anfassen, bei einem Glas Gin, um ein wenig abzuschalten. Oder bei einem halben Dutzend, je nachdem, welchen Verlauf der Abend nahm. »Und das mit dem schönen Mann will ich nicht mehr hören, kapiert? Wenn schon, dann Mister Universum – alles andere wäre Beamtenbeleidigung.«

»Deine Witze werden immer schlechter, hat dir das schon mal jemand gesagt?«

»Was soll’s, Schwamm drüber. Humor ist, wenn man trotzdem lacht«, gab Sydow zurück, in Gedanken beim nächsten Gin, der in Kürze fällig war. So aufregend wie während seiner Schulzeit, als das Nachtleben auf dem Ku’damm noch Stil hatte, würde der Streifzug durch die Kaschemmen zwar nicht werden, aber was das »Kakadu« betraf, gab es nichts zu meckern. Ein Blick auf die gerahmten Fotos, umgeben vom purpurroten Plüsch der Sitznischen, und alle, die in glücklicheren Tagen für Furore gesorgt hatten, waren wieder da. Fast schien es, als lebe die Zeit vor dem Börsencrash wieder auf, ein Grund mehr, das Hier und Jetzt außen vor zu lassen.

Damals, gerade mal 16 Jahre alt und Fan der Comedian Harmonists, hätte er einen Mord begangen, um an eine Karte für das Konzert im Scala zu kommen. Aber auch so konnte man über einen Mangel an Vergnügungen nicht klagen. Vom Geschmack einmal abgesehen, am Ku’damm kam man nicht vorbei. Dort gab es alles, was das Herz begehrte, von Kabaretts, Weinlokalen, Grillstuben, Austernbuden, Bars und Kinos bis hin zu legendären Treffs, allen voran das Romanische Café, wo sich die Crême de la Crême der Intellektuellen tummelte – oder alle jene, die sich dazu zählten. Cafés gab es dort wie Sand am Meer, auch solche mit Séparée, wie geschaffen für romantische Stunden zu zweit. Ob Josephine Baker, die Attraktion im Nelson-Theater, nur einen Katzensprung vom »Kakadu« entfernt, ob Asta Nielsen, Claire Waldoff, Emil Jannings oder Marlene Dietrich, die, wie könnte es anders sein, von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt war – der Vergleich mit heute fiel vernichtend aus.

 

Doch davon ließ sich die illustre Schar nicht unterkriegen. An der Bar, wo kontaktfreudige Nymphen nach Kundschaft lechzten, war kein einziger Platz mehr frei, und wer sich scheute, die Dame seiner Wahl zum Tanz aufzufordern, für den kamen die Tischtelefone wie gerufen. Aber auch Rudi Szabo, seines Zeichens Pianist, jenseits der 60 und Veteran aus der Stummfilm-Ära, die Haarsträhnen triefend vor Pomade, konnte sich über einen Mangel an Arbeit nicht beklagen. Krieg oder nicht, die Nachtschwärmer wollten sich amüsieren, und je länger der Abend dauerte, desto vehementer legte sich der Mann am Klavier ins Zeug. Die Tatsache, dass Rudi und der Saxofonist miteinander verbandelt waren, schien niemanden besonders zu stören, und wenn die beiden richtig loslegten, gab es auf der Tanzfläche aus Spiegelplatten kein Halten mehr.

»Na, dann mal prost, so jung wie heute kommen wir nicht mehr zusammen.« Zum Feiern war Sydow eigentlich nicht zumute, trotz der Beförderung, mit der er nicht im Traum gerechnet hatte. Aber besser hier, sagte er sich, das mittlerweile vierte Glas Gordon’s in der Hand, als in seiner Junggesellenbude zu versauern. Im Beisein der Berliner Halbwelt, wo jeder beinahe jeden kannte, lebte es sich angenehmer als da draußen, fast wie unter Freunden, genau das Richtige für ihn. Die wahren Verbrecher, das wusste Sydow aus berufenem Munde, tummelten sich woanders, und wenn die Gerüchte stimmten, hatte Heydrich auch hier die Hand im Spiel. Die oberen Chargen, so wurde hinter vorgehaltener Hand kolportiert, verkehrten in speziell für sie eingerichteten Etablissements, in die normale Sterbliche keinen Fuß setzten. Verdiente Parteigenossen, Industrielle und hin und wieder Diplomaten, eine Mischung so recht nach dem Geschmack des RSHA, das die verwanzten Zimmer nach Belieben abhören und die Betroffenen bei Bedarf in die Enge treiben konnte.

Und das nannte sich dann Geheime Reichssache.

Al Capone und Konsorten ließen grüßen.

Eins stand somit fest: Hier, in der vermeintlichen Höhle des Löwen, hatte man sich zumindest einen Rest von Anstand bewahrt, was man von der Behörde, für die Sydow arbeitete, selbst unter Zuhilfenahme von Scheuklappen nicht sagen konnte. Die Tage eines Ernst Gennat, wo die Kripo aus integren Mitarbeitern bestand, waren unwiderruflich vorbei. Ohne Heydrich, Himmlers rechte Hand, rührte der Polizeipräsident keinen Finger, und ohne die Gestapo, die ihre Nase in alles hineinsteckte, was sie einen feuchten Schmutz anging, lief so gut wie überhaupt nichts mehr. Wie viele Spitzel sich in den Reihen der Mordinspektion tummelten, wollte Sydow lieber nicht wissen.

Ein Grund mehr, mit Verve über die Stränge zu schlagen.

Bijou, die ihn mit verzückter Miene musterte, schien dies nicht zu stören, zumindest tat die talentierte Süßholzraspel so. »Eine Ausstrahlung wie Valentino – und noch immer nicht unter der Haube, das soll mal einer verstehen.«

»Und das ist auch gut so, Schätzchen!«, gab Sydow im Brustton der Überzeugung zurück, bestellte sich das nächste Glas und betrachtete sein Konterfei im Barspiegel, der über die gesamte Breite des Tresens reichte. »Ich und verheiratet, das fehlte gerade noch!«

Der Vergleich mit Valentino hinkte, das war dem 28-Jährigen nur zu bewusst. Sydow war über 1,90 Meter groß, breitschultrig, stoppelbärtig und das exakte Gegenteil von einem Schönling, wie er auf der Leinwand oder im Varieté gang und gäbe war. Beinahe alles an dem gebürtigen Neuruppiner war markant, angefangen bei der Kinnpartie, in der sich eine gehörige Portion Sturheit widerspiegelte, die vor den Höhergestellten im Präsidium nicht Halt machte. Markant, um nicht zu sagen ungewöhnlich, waren auch die weit auseinanderliegenden Wangenknochen, die ungewöhnlich breite, mit Sommersprossen besprenkelte Stirnpartie und die opulenten rotblonden Brauen, Erbteil seiner englischen Mutter, mit der er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Opulent und nach Meinung seiner Vorgesetzten entschieden zu lang war auch die rotblonde und nach hinten gekämmte Mähne. Sydow, auf die A-Promis in der Chefetage nicht gut zu sprechen, hörte darüber hinweg. Am nachhaltigsten, weil überaus einprägsam, wirkten die hellblau schimmernden Augen. Der Grund, weshalb auch Bijou alias Hertha Krause einen Narren an ihm gefressen hatte. »Und was wäre daran so schlimm, mein rotblonder Recke?«

»Tu dir das nicht an, Süße!«, wehrte der Kripobeamte mit erhobenen Händen ab, leerte das Glas und strich dem Fräuleinwunder über die Wange, auf der sich ein mit Hand aufgetragener Schönheitsfleck befand. Bijous geschlitzte Glitzerrobe, die an dem auffallend hageren Körper herumschlackerte, warf lange Falten, und er fragte sich, wie lange sie den Fummel wohl schon spazieren führte. »Du weißt nicht, wovon du sprichst.«

»Und ob ich das weiß«, gurrte Bijou alias Hertha Krause zurück, das für sie typische Lilian-Harvey-Lächeln und reichlich Rouge auf der bleichen Wange, mit dem sie die Spuren ihres Kokainkonsums kaschierte. »Mit Männern kenne ich mich aus, mein Schatz, das kannst du mir getrost glauben.«

»Allein schon von Berufs wegen, was?«, konterte Sydow, dessen Humor nicht jedermanns Sache war. Auch jetzt, mit reichlich Gin im Blut, konnte er den Scherzbold im Polizisten nicht verleugnen, im Verein mit seiner Berliner Schnauze die Gewähr, über kurz oder lang ins Fettnäpfchen zu treten. »Apropos, wo steckt denn eigentlich dein Zu… äh … Sorry, Zuckerpüppchen, ist mir nur so rausgerutscht. Wo steckt denn eigentlich dein Beschützer, wenn man fragen darf?«

»Der kann mich mal, falls du es genau wissen willst!«, fuhr die Nachtschwärmerin ihren sichtlich angeheiterten Konversationspartner an, der sich das Schmunzeln nur mit Mühe verkniff. »Aber wenn wir gerade dabei sind, mit Ava und dir ist doch alles in Ordnung?«

»Klar. Wieso fragst du?«

»Na, warum wohl – weil du einen Gin nach dem anderen kippst«, gab Bijou zurück, deren Mutterinstinkt die Oberhand über das Geschäftsgebaren gewann. »Liebeskummer hoch zehn, oder sehe ich das falsch?«

»Deine Anteilnahme in Ehren, Hertha – aber findest du, das geht dich etwas an?«

»Klar«, ahmte die Animierdame Sydow nach, nahm ihm das Glas aus der Hand, in das er sich gerade nachschenken ließ, und beförderte es außer Reichweite, bevor sie einen erneuten Anlauf nahm. »Und ob mich das etwas angeht. Irgendjemand muss ja auf dich aufpassen, sonst kommst du auf die schiefe Bahn.« Bijou kicherte lasziv in sich hinein. »Aber jetzt mal im Ernst, Tom: Das mit dir und Ava, das konnte einfach nicht gutgehen. Eine Varietétänzerin und ein Polyp von Adel, das passt wie die Faust aufs Auge. Weißt du, was ich denke?«

»Habe ich gerade richtig gehört: Du denkst?«

»Werd mir bloß nicht frech«, ließ sich die Provinzvenus nicht aus dem Konzept bringen, hob tadelnd den Zeigefinger und wedelte vor Sydows Gesicht herum. »Oder glaubst du, ich weiß nicht, wie wir Frauen ticken?«

»Dann lass mal hören, Hertha, ich bin ganz Ohr. Wer weiß, vielleicht lerne ich noch was dazu.«

»Regel Nummer eins: So wie du rumläufst, kannst du keinen Blumentopf gewinnen, schon gar nicht bei einer Dame, die etwas auf sich hält.«

»Klingt logisch.« Das Sakko von anno dazumal, die Krawatte zerknittert, um nicht zu sagen unansehnlich, der Hemdkragen offen und nicht gebügelt, weil er keinen Nerv für derartige Kinkerlitzchen hatte. Irgendwie hatte Bijou ja recht. »Und was, bitte schön, gibt es sonst noch an mir rumzumeckern?«

»Wer meckert denn an dir rum?«, entrüstete sich Bijou, schüttelte den Kopf und warf einen schicksalsergebenen Blick an die Decke, verziert mit einem künstlichen Sternenhimmel, der im Licht eines Kaleidoskops erstrahlte. »Also wirklich, mit euch Männern ist doch wirklich kein Staat zu machen!«

»Nimm dich in Acht, Hertha, sonst bekommst du es mit dem Führer zu tun. Du weißt ja, über Abstinenzler macht man sich nicht lustig. Was das betrifft, versteht die Gestapo keinen Spaß.«

Die Zigarettenspitze in der rechten Hand, die sie vor Schreck beinahe fallen ließ, rang die Nachtschwärmerin nach Worten. »Den meine ich auch nicht – und das weißt du ganz genau. Oder denkst du, ich habe Lust, im KZ zu landen? Anschaffen steht unter Strafe, dir als Bullen muss ich das nicht sagen.«

»Tut mir leid, Süße. War nicht so gemeint.«

»Du wirst lachen, das glaube ich dir sogar. Weißt du, was ich an dir so schätze, Süßer?«

Sydow atmete mit schicksalsergebener Miene aus. Er ahnte, was als Nächstes kommen würde, aber da er keinen Wert auf Lobeshymnen legte, hob er begütigend die Hand. »Versteh das bitte nicht falsch, Hertha, aber wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich jetzt gern meine …«

Sydow kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden.

»Na, ihr zwee Turteltäubchen, so weit allet in Ordnung?« Erna Pommerenke, resolute Besitzerin des Kakadu und halb liebevoll, halb flapsig »Tante Lola« genannt, drückte den zerfledderten Rest ihrer Havanna aus, zog Sydow am Ohr und fügte mit rauchigem Timbre hinzu: »Mit dir stimmt doch wat nich’, Jungchen, kann det sein? Wie sagte mein Oller doch jleich? Haste Liebeskummer, bring ’ne schnelle …«

»Schönen Dank auch, Tante Lola, das baut mich wieder auf«, fuhr Sydow dazwischen, setzte ein Lächeln auf, wie es künstlicher fast nicht ging, und wartete ab, bis der Raucherhusten, vom dem die Maitresse de Plaisir geschüttelt wurde, wieder abgeklungen war. »Weißt du was? Wenn ich dich nicht hätte, könnte ich einpacken.«

»Dit haste aber schön jesagt«, gab die Betreiberin des Amüsierbetriebs zurück, über deren Werdegang die wildesten Gerüchte kursierten. Sie selbst, Ufa-Sternchen der ersten Stunde, hüllte sich wider sonstige Gewohnheiten in Schweigen. Die Vorboten des Alters, allen voran die tief liegenden Augenhöhlen, waren dennoch nicht zu übersehen. Auch die eingesunkenen Wangen, mit reichlich Rouge übertüncht, sprachen eine deutliche, von einem Leben mit Höhen und Tiefen zeugende Sprache. Einzig der wohlwollende, gleichwohl wachsame Blick, mit dem sie ihre Kundschaft im Vorbeigehen musterte, zeugte davon, dass sie den Ruf, der ihr vorauseilte, nicht zu Unrecht besaß. Erna Pommerenke, passionierte Kettenraucherin mit einer Vorliebe für Cognac aus dem Hause Courvoisier, hielt im Milieu die Fäden in der Hand, und wer klug war, rührte nicht daran. »Komm her, lass dir knuddeln, du langer Lulatsch. Den Schwitzkasten haste dir verdient.«

»Du bist so gut zu mir, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll.« Kein Freund von Gefühlsbekundungen, fügte sich Sydow ins Unvermeidliche. »Und wie sieht’s aus, Tante Lola – so weit alles in Butter?«

»Igitt, dit kratzt ja wie der Teufel, könntest dir ruhig mal wieder rasieren! So kannste bei die Mädels hier nich landen, lass dir dit jesagt sein.«

»Muss auch nicht sein, hab auch so schon genug am Hals.«

»Jetzt tu mal nich so, so viel Zeit wirste ja noch haben.« Tante Lola richtete sich kopfschüttelnd auf. »Ob alles in Butter is, willste wissen? So ziemlich, würde ick sagen. Wäre der Krieg nich, würde es noch viel besser laufen. Du weeßt ja, wie dit mit den Nazis ist. Für die sind wir der letzte Dreck, dabei habense selbst genug davon am Stecken. Unsereins als Volksschädlinge hinstellen, die haben es jerade nötig. Gegen die sind wir die reinsten Waisenknaben, lass dir dit jesagt sein. Beispiel gefällig, Herr Kommissar?«

»Ich bitte darum, Frau Wirtin.«

»Ick weeß dit nur über fünf Ecken, aber ick bin mir sicher, an den Gerüchten is wat dran.«

»Betreffs wen?«

»Vergiss es, Schätzchen – Namen kriegste von mir nich zu hören.« Auf der Hut vor Lauschern, beugte sich Tante Lola über den Tresen, winkte Sydow zu sich heran und zischte: »Ick weeß ja nich, wie viel davon bis zu de Kripo durchjedrungen is, aber wat man aus Polen so zu hören bekommt, dit hält man einfach nich für möglich.«

»Die Zustände sind nicht so, wie sie sein sollten – ich weiß.«

»Gelinde ausjedrückt. Mit anderen Worten, die Parteibonzen raffen allet zusammen, was nich niet- und nagelfest is. Schließlich möchte man den Gattinnen wat bieten, denn wer will schon jern im Generalgouvernement versauern. Krakau soll ja ’ne schöne Stadt sein, aber damit ist es bekanntlich nich jetan. Du verstehst, wat ick damit zum Ausdruck bringen will?«

Und ob Sydow verstand. Gerüchte, die Frau des Generalgouverneurs schwelge geradezu im Luxus, waren von Krakau bis ins Präsidium vorgedrungen. Sogar Parteigenosse Himmler, so wurde kolportiert, sei mittlerweile hellhörig geworden, und das wollte bekanntlich etwas heißen.

 

»Wie schön.« Die Lebedame lächelte süffisant. »Und jetzt kommt ausgerechnet dieser Goebbels daher und stellt uns hin, als ob wir hier der Abschaum der Menschheit wären. Volksschädlinge, Gewohnheitsverbrecher, Kriegsgewinnler, Profiteure, Saboteure an der Heimatfront: Nich jerade schmeichelhaft, oder wat sagt der Herr Kommissar dazu?«

»Dem bleibt die Spucke weg, je älter er wird, desto mehr.«

»Mir auch, stell dir vor. Das bisschen Schwarzhandel, ick bitte dir! Davon kann man doch nich reich werden. Wat kann ick denn dafür, wenn die Fressalien rationiert worden sind. Doch wohl überhaupt nüscht, oder? Hätten die da oben nich mit allen Zores angefangen, könnten wir de Bezugsscheine einmotten. Aber nee, der Führer kriegt den Kanal ja nich voll, legt sich neuerdings auch noch mit dem Iwan an. Das soll mal einer verstehen, icke jedenfalls nich. Und wat die Tommys anjeht, eins lass dir jesagt sein: Zappenduster is bei denen noch lange nich, einer wie Churchill lässt sich so schnell nich unterbuttern. Die Retourkutsche kommt bestimmt, machen wir uns nüscht vor. Und dann gnade uns Gott, dann wird hier keen Stein mehr auf dem andern bleiben. Das mit den Angriffen auf London, das werden uns die Tommys nich verzeihen. Die haben ein gutes Jedächtnis, wenn es drum jeht, offene Rechnungen zu begleichen. Die sind verdammt zäh, aber wem sage ick das.«

»Eben. Hab ja selbst ein bisschen davon abgekriegt.«

»Aber nur ein bisschen, deinem alten Herrn sei Dank!«, flachste Sydows Gesprächspartnerin zurück, stets mit von der Partie, wenn es darum ging, sich um Kopf und Kragen zu reden. »Kriegswirtschaftsdelikte, wenn ick das schon höre. Ick will dir mal wat flüstern, Süßer: Wenn die da oben so weitermachen, jehen wir alle miteinander die Spree runter.«

»Ich fürchte, da kann ich dir nicht widersprechen.«

»Und deshalb: Wat die Leute nich kriegen, um sich ein paar schöne Stunden zu machen, dit bekommen sie von uns. Wo, bitte schön, liegt denn das Problem? Und jetzt tun die Nazis so, als ob sie die Ehrlichkeit mit der Muttermilch einjesogen hätten, machen einen auf Hilfssheriff und wollen mir weismachen, dass Tauschhandel strikt geahndet werden muss. Als ob wir nich schon jenuch Probleme an der Backe hätten. Von wegen Verstoß gegen die Rationierungs- und Bewirtschaftungsvorschriften, dass ick nich lache. Ick sag dir eens, Schätzchen: Seit die dran sind, geht es mit dem Land bergab. Unsereinem steigen sie in die Hacken, und woanders hat die SS keine Skrupel, unschuldige Menschen über die Klinge …« Im Begriff, mit der geballten Faust auf die Theke zu hauen, brach die ungekrönte Königin der Halbwelt ab. »Aber wat soll’s, ick will mir nich beklagen«, fuhr sie nach einem kräftigen Schluck aus dem Cognacschwenker fort, beinahe schon kleinlaut, wie Sydow nach einem unauffälligen Rundblick registrierte. »Ick will es mal so sagen: Solange mir deine Kollegen von der Sitte nich auf die Bude rücken, solange läuft der Laden weiter. Lief schon mal besser, da verrate ick dir keen Jeheimnis.«

»Und sonst – irgendwas in petto für mich?«

»Drücken wir’s mal so aus, im Westen nichts Neues«, gab Erna Pommerenke zurück, richtete sich zu voller Größe auf und justierte das weinrote Stirnband, in dem eine lackierte Zierfeder steckte. »Und bei euch am Alex, auch dort allet in Butter?«

»Schön wär’s.«

»Mit anderen Worten, dit Dreckschwein läuft immer noch frei rum.«

»Falls du den S-Bahn-Mörder meinst – leider ja.« Sydow atmete nachdenklich durch. »Vier Morde in Folge, das macht ihm so schnell keiner nach.«

»Da haste recht, schlimmer jeht es wirklich nich.«

»Ach, weißt du, Tante Lola, da gibt es noch ganz andere. Falls du verstehst, was ich meine.«

»Darf ick dir einen mütterlichen Rat geben, Jungchen?«

»Du doch immer.«

»Wenn du nich in der Plötze landen willst, reiß dir nach Möglichkeit am Riemen. An mir solltest du dir keen Beispiel nehmen, ick kann einfach nicht anders. Aber du, junger Mann, du hast dein Leben noch vor dir, du kannst es zu wat bringen. Wenn ick dir also einen Rat geben kann, trau niemandem über den Weg, die Gestapo ist überall. Besonders da, wo du sie nich vermutest.«

»Wem sagst du das.« Sydow lächelte gequält. »Vier Morde, in immer kürzeren Abständen. Wenn das so weitergeht, nimmt uns niemand mehr für voll.«

Die mütterliche Ratgeberin pflichtete ihm bei. »Da kannste recht haben, Süßer. Wäre ick ein Bulle, ick käme mir total bescheuert vor. Vier Morde, einer brutaler als der nächste. Und der Irre läuft immer noch frei rum. Von einer Spur oder einem Verdächtigen nich zu reden. Effektivität gleich null, trotz Großaufgebot der Polente.« Die Patin der Kleinkriminellen winkte ab. »Der Dreckskerl macht anscheinend, wat er will, so wat hältste ja im Kopf nich aus.«

»Wie wahr, Tante Lola«, erwiderte Sydow gedehnt, kurz davor, ein weiteres Glas Beefeater zu bestellen. »Wie wahr.« Wider Erwarten blieb die Order jedoch aus, nicht etwa aufgrund mangelnder Kondition, sondern aus Unlust der speziellen Art. Der Spaß am Trinken war dahin, kein Wunder, wenn man so viele Promille intus hatte wie er.

Eins aber stand für Sydow fest, ob man es wahrhaben wollte oder nicht. In der an Skandalen nicht eben armen Kriminalhistorie von Berlin hatte sich die Kripo einmal mehr nicht mit Ruhm bekleckert. An der Erkenntnis, so schwer sie ihm auch fiel, kam er auch heute nicht vorbei. »So gern ich es täte, aber in dem Punkt hast du recht.«

»Ick weeß.«

Es war wie verhext. Anders konnte man es nicht sagen. Nach Monaten intensiver Fahndung befand sich der Mörder immer noch auf freiem Fuß. Wobei die Chancen, dass sich daran etwas ändern würde, so gut wie gegen null gingen. Das Phantom, hinter dem sie herjagten, konnte schalten und walten, wie es wollte. Das und manch anderes, was die Fahndung nach dem S-Bahn-Mörder betraf, war nicht von der Hand zu weisen. »Aber wenn wir gerade über den Phantom-Killer reden, ich bin für jeden Hinweis dankbar. Diskretion Ehrensache, das weißt du ja.«

»Tut mir leid, mein Junge, aber ick fürchte, ick kann euch da nich weiterhelfen.«

»Hand aufs Herz, Tante Lola: Kannst du nicht oder willst du nicht?«

»Mit Wollen hat das nüscht zu tun, fürchte ick.« Erna Pommerenke, für Sydow eine Art Mutterersatz, tat so, als habe sie die Veränderung in seinem Tonfall nicht bemerkt. »Sondern damit, dass die Jungs und icke im Dunkeln tappen. Janz ehrlich, wir haben keenen blassen Schimmer, um wen es sich bei dem Perversling handelt. So leid es mir für dich tut, mehr kann ick dazu nich sagen. Apropos, wenn wir gerade dabei sind: Für meine Leute lege ich die Hand ins Feuer, die tun so wat nich. Wehrlosen Frauen auflauern und wie ein Tier über sie herfallen, das ist ja wohl das Letzte. Damit möchte ick nüscht zu tun haben – und die Mitglieder im Klub der Volksschädlinge auch nich. Die Jungs und ich, wir alle stehen vor einem Rätsel, das kannst du mir getrost glauben.«

»Die Kollegen und ich auch. Das ist ja gerade das Problem.«

»Siehst du, dann haben wir ja wat gemeinsam«, platzte die Grand Dame des Milieus heraus, urplötzlich von einer dichten Nebelwand verschluckt, die von einer angerauchten Havanna stammte. Die Ärzte hatten ihr zwar geraten, kürzerzutreten, aber darüber konnte die Kettenraucherin nur lachen. »Tante Lola und die Kripo im selben Boot, wer hätte das gedacht. Dass ich das noch erleben durfte, in meinem vorgerückten Alter. Aber Scherz beiseite, ich werde tun, was ich kann. Versprochen, Herzchen, ich kümmere mich darum.«

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