Verlogenes Versprechen

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Aus der Reihe: Eltville-Thriller #8
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7

Janosch saß bei Konrad Knibbel und erzählte ihm unter Tränen von der Reaktion der Professorin.

„Sie wollte mir nicht helfen, glaube mir, sie war erst freundlich, dann plötzlich unterkühlt.“

„Ach Janosch, sie wird viel Arbeit haben, wenn sie in der Krebsforschung tätig ist. Das heißt doch nicht direkt, dass sie nicht freundlich ist.“

„Doch, ich bin mir ganz sicher, aber ich weiß nicht, wieso sie auf einmal so anders war. Es fühlte sich an, als hätte sie in einem Moment noch Zuversicht vermittelt und auf einmal war ich ihr egal. Kennst du die Frau? Seid ihr euch mal begegnet?“

„Ich kenne ihren Namen, aber begegnet sind wir uns noch nie. Sie soll eine Koryphäe auf ihrem Fachgebiet sein, aber sie ist nicht Gott. Janosch, wenn sie dir nicht helfen kann, dann keiner.“

„Vielleicht mochte sie mich nicht. Aber du … Konrad, du bist ein Arzt, kannst du sie nicht nochmal anrufen und davon überzeugen, dass sie mir hilft?“

Janosch hatte sich die Tränen abgewischt und sah seinen Freund hoffnungsvoll an. Konrad fühlte sich schlecht und unfähig, denn er wusste, dass er seinem besten Freund nicht mehr helfen konnte. Er hatte ihm nie gesagt, dass er sich fühlte, als sei er der Verkünder und gleich auch der Vollstrecker des Todesurteils. Es war, als würde er selbst Hand anlegen und Janoschs Leben beenden. Aber Janosch war in einem schlechten Zustand, da wollte er ihn nicht noch mit seinen Alpträumen belasten.

Wie ferngesteuert und um seinen Freund nicht noch mehr zu enttäuschen griff er erneut zum Hörer. Er horchte ins Telefon, aber niemand meldete sich.

„Sie ist sicher im Institut um diese Zeit. Ich versuche es später noch einmal. Wollen wir heute Abend zusammen essen gehen?“

„Essen? Seit sie mir die Hoffnung genommen hat, bleibt nichts mehr drin. Willst du zuschauen, wie ich auf den Tisch kotze?“

„Ach Janosch, hör auf. Wir sind Freunde und die unternehmen mal was zusammen. Wenn du nicht essen willst, mach einen Vorschlag.“

Janosch schämte sich plötzlich, weil er seinen einzigen Freund vor den Kopf gestoßen hatte und wollte es wiedergutmachen.

„Es tut mir leid, komm doch zu mir, dann schauen wir einen Film oder spielen etwas. Du kannst dir ja eine Pizza bestellen.“

„Gut, also bis später.“

Konrad lächelte und nahm sich vor, gleich noch einmal bei der Frau anzurufen, um sich zu erkundigen, ob sie nicht doch in absehbarer Zeit eine Hilfs­möglichkeit sehen würde, Janoschs Leben zu retten oder wenigstens zu verlängern.

Er stand auf und begleitete Janosch zur Tür. Die Sprechstundenhilfe sah ihn an und wartete auf sein Nicken, dass der Arzt den nächsten Patienten sehen wollte, aber Konrad schüttelte den Kopf und hob die Hand. Er ging zurück ins Behandlungszimmer und drückte die Wahlwiederholung. Dieses Mal ging Prof. Dr. Zackig dran.

Konrad erklärte, warum er anrief.

„Es tut mir sehr leid für Ihren Freund“, sagte Ra­mona und Konrad spürte deutlich ihre Distanz.

„Ich weiß, dass Janoschs Leben bald vorbei sein wird und habe ihn gebeten, noch einmal zu leben und das zu tun, was er immer schon mal machen wollte, aber ich denke, dazu hat er jetzt schon keine Kraft mehr. Bitte, Frau Professor, wenn es auch nur ein Prozent Hoffnung gibt, dann helfen Sie ihm.“

„Ich habe Ihrem Freund schon genauestens geschildert, dass wir kein Mittel haben, das zu seinen Krankendaten passt.“

„Können Sie ihm wenigstens Zeit verschaffen? Einen Aufschub?“

„Gott gibt auch keinen Aufschub, wenn er denkt, dass das Ende kommt, aber ich werde mir noch ein weiteres Mal die Akten ansehen. Ich melde mich bei Ihnen, wenn mir etwas einfällt. Und jetzt muss ich weiterarbeiten.“

Sie legte auf, ohne weiter auf Konrad einzugehen. Nach dem Telefonat war er erschüttert. Genauso wie Janosch hatte nun auch er das Gefühl gehabt, dass er mit einer eiskalten Person geredet hatte. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Wie konnte man als Ärztin so sein? Sie hatten alle einen Eid geschworen, aber der Frau Professor waren wohl Ehrfurcht und Menschlichkeit verloren gegangen. Seufzend beschloss er, Janosch nichts von dem Gespräch zu erzählen, solange sie sich nicht meldete. Er rief in seiner Lieblingspizzeria an und bestellte für halb acht eine große Salamipizza, die sie zu Janosch liefern sollten. Zufrieden, wenigstens den Abend mit seinem Freund verbringen zu können, ließ er den nächsten Patienten aufrufen.

Janosch hatte sich unterdessen auf den Heimweg gemacht. Es war erst Mittag und bis zum Treffen mit Konrad war noch viel Zeit, also beschloss er, zur Villa von Prof. Dr. Zackig zu fahren und sie im Auge zu behalten. Er nahm sein Auto und stellte sich auf ein paar Stunden Beobachtung ein.

Ein winziges Lächeln flog beim Einparken über sein Gesicht, fühlte er sich doch sofort wie ein Detektiv, der eine wichtige Observation durchführte. Er trank einen Schluck Wasser und sah auf das große Tor. Eine Weile passierte nichts, nur ein Eichhörnchen lief emsig hin und her, um für den Rest des Winters vorzusorgen.

„Bald kommt der Frühling … ob ich den noch erlebe?“, murmelte Janosch, als sich plötzlich das Tor öffnete und eine dunkle Limousine herausfuhr.

Er bildete sich ein, Ramona hinter den getönten Scheiben erkannt zu haben. In einem Anflug von Neugier folgte er dem Wagen bis ins Erbacher Indus­triegelände, wo er hinter einem anderen undurchdringlichen Gittertor wieder verschwand. Es war zur Seite gefahren und schloss sich in dem Moment, als Janosch die Handbremse anzog.

Voller Enttäuschung sah er, dass aus dem Auto nicht Ramona ausstieg, sondern ein drahtiger Mitvierziger, der seinen Anzug glattstrich, die Aktentasche unter den Arm klemmte und in einem flachen Gebäude verschwand.

Janosch wusste nicht, wer er war und was er dort tat, also fuhr er zurück zur Villa, um gerade noch zu sehen, dass Ramonas Sohn mit dem Moped auf das Grundstück fuhr. Es war ein Uhr und er schien aus der Schule zu kommen. Janosch starrte Haus und Tor an, aber in den nächsten zwei Stunden kam nur noch die Post und ansonsten passierte nichts. Er wollte eben nach Hause fahren, da traten Ramona und ihr Sohn aus dem Haus, setzten sich ein einen Sportwagen und einen Augenblick später sah er, wie das Fahrzeug durch das Tor rollte. Mutter und Sohn schienen guter Laune, denn er sah, wie sie lachend den Kopf zurückwarf.

Janosch spürte einen Stich im Herzen. Es war Eifersucht - auf das Glück der beiden Menschen, auf ihre Fröhlichkeit, ihre Unbeschwertheit, aber besonders auf ihr LEBEN, das sicher noch lange dauern würde.

Irgendwann, lange vor seiner Krankheit hatte er auch mal daran gedacht, eine Familie zu gründen. Heiraten, Kinder kriegen, reisen und leben, das waren seine Träume. Jetzt ging es nicht mehr. Selbst wenn er eine Frau kennenlernen würde, die ihn wollen würde, er könnte es nicht. Niemals würde er einer Frau zumuten, mit seiner Krankheit zu leben. Er wollte kein Mitleid, weil er in der letzten Zeit gelernt hatte, dass es oft nur geheuchelt war. Niemand wollte Geschichten über Schmerzen und Leiden hören. Und er, Janosch, wollte niemandem zur Last fallen. Irgendwann würde er in einem Bett liegen, sabbern, stinken und sterben. Wer, zum Teufel, würde so etwas aushalten?

Kopfschüttelnd startete Janosch den Wagen und fuhr heim. Er war erschöpft, hatte Durst, trank ein großes Glas kaltes Wasser in einem Zug leer und bereute es direkt, denn er musste ins Bad rennen und sich übergeben.

„Scheiße“, stöhnte er und seine Stimme klang merkwürdig dumpf in der Kloschüssel. „Wenn ich nicht am Krebs verrecke, werde ich verhungern.“

Janosch schloss die Augen, legte den Arm auf die Klobrille und den Kopf auf den Unterarm. So saß er fünf Minuten, dann konnte er endlich wieder aufstehen und ins Wohnzimmer gehen. Er legte sich auf die Couch und wartete auf Konrad.

8

Bianca wurde ihr merkwürdiges Gefühl nicht los, dass an Ronald Mickers Verdacht etwas dran sein könnte. Mit Ungeduld hatte sie den Bericht aus der Gerichtsmedizin erwartet. Endlich rief Dr. Jonn an und sie eilte zu ihm. Hannes hatte sich gemeldet, dass er noch in Frankfurt vorbeischauen würde, denn der Pflegedienst hatte dort viele Klienten. Er wollte die Kollegen fragen, ob es dort in der letzten Zeit Beschwerden gegeben hatte.

„Guten Morgen!“, schmetterte Bianca dem Gerichtsmediziner entgegen.

„Du hast ja gute Laune. Sei nur nicht sauer, wenn ich sie dir jetzt verderbe.“

„Warum das? Hast du nichts gefunden? Ist die alte Dame wirklich einfach nur gestorben?“

„So leid es mir tut, es macht den Anschein, als irre sich der Sohn. Sie starb an einem plötzlichen Herzversagen. Jedoch in einem stimme ich ihm zu: Sie war kerngesund, bis auf ihre Knochen, aber das gibt es im Alter öfter. Ihr Herz war in Ordnung, es hat nur aufgehört zu schlagen.“

„Das hört sich an, als wäre es ein schöner Tod, aber es macht mir auch Angst. Ich gehe einkaufen oder ins Kino und dann hört mein Herz auf zu schlagen? Ich kann niemanden auf meinen Tod vorbereiten? Alle trifft es völlig überraschend? Ich kann nicht einmal den Film zu Ende schauen? Und im Supermarkt zwischen der Käsetheke und dem Waschmittel zu sterben, stelle ich mir nicht schön vor.“

„Liebe Bianca, du stirbst nicht. Dass du den Schuss überlebt hast, beweist, dass du noch nicht dran bist. Dennoch kann es jedem passieren. Ohne Vorwarnung. Ohne Ansage vom Meister mit der Sense: Bitte halten Sie sich bereit, Sie sterben in sieben Minuten.“

Ein Schauer lief über Biancas Rücken, denn das Gespräch war für sie alles andere als lustig. Sofort waren die Bilder des einstürzenden Hauses in ihrem Kopf und ihr Gesicht verdüsterte sich. Dr. Jonn wusste, woran sie dachte.

 

„Das kam auch unerwartet, aber es ist ähnlich einem plötzlichen Herzversagen. Wir können nie wissen, wann er uns holt.“

Jetzt musste die Kommissarin an den Mann vom Rheinufer denken und erzählte dem Gerichtsmediziner davon.

„Das finde ich noch schlimmer.“

„Man weiß nicht, ob man den nächsten Tag überlebt.“

Bianca nickte.

„Du gehst abends ins Bett und bist nie sicher, ob du an nächsten Morgen wieder aufstehst. Und dann ist der Mann allein. Nicht, weil er ein Einsiedler ist, im Gegenteil, er hätte schon gerne Menschen um sich, doch er will sie nicht belasten. Die Familie weiß nicht, wie sie mit der Krankheit umgehen soll. Darum meldet sich seine Schwester auch so wenig wie möglich. Ihre Kinder könnten ja Fragen stellen und sie selbst müsste sich mit dem nahenden Tod ihres Bruders auseinandersetzen. Ich möchte solche Gedanken auch gerne verdrängen.“

„Das kann ich gut verstehen. In meinem Job wäre das nur ungünstig.“

Sein Lächeln vertrieb die bösen Gedanken, es war voller Wärme, und das war in Anbetracht der kühlen, sachlichen Umgebung schon eine Leistung. Bianca fand den Weg zurück zu Rotraude Micker.

„Dann bleibt es beim natürlichen Tod, obwohl ich ein ungutes Bauchgefühl habe.“

„Ja, aber du kannst trotzdem ein bisschen nachforschen, vielleicht wurde doch nachgeholfen. Die Unterlagen sind schon in der Staatsanwaltschaft. Euer Exemplar liegt auf deinem Schreibtisch, wenn du wieder im Büro bist.“

Bianca nickte erneut und verließ die Gerichtsmedizin. Sie machte sich entschlossen auf den Weg zur Staatsanwaltschaft, um zu schauen, wer für den Fall zuständig war. Eric war nicht erreichbar, aber sie hatten am Abend zuvor schon geklärt, dass es nicht sein Fall war.

Am Empfang erfuhr sie, dass sich eine neue Staatsanwältin damit beschäftigte. Die Kommissarin lief durch die Flure, bis sie vor einer offenen Tür stand. Am Schreibtisch saß eine umwerfend schöne Frau Anfang vierzig und wollte gerade einen Stapel Akten zum Regal bringen.

Auf einem Schild neben der Tür stand: Violetta Cherney-Ströckwitz. Das Blut fror in Biancas Adern und sie hörte auf zu atmen. Die Frau mit den wallenden blonden Locken hatte sie noch nicht gesehen, also ging die Kommissarin einen Schritt zurück. Sie zitterte.

Konnte das möglich sein? War das tatsächlich Erics Frau? Hatte sie sich nur verlesen oder eine Fata Morgana war ihr erschienen? Wusste Eric davon?

Bianca schüttelte sich, holte tief Luft und schaute noch einmal auf das Schild. Es war keine Fata Morgana. Der Name stand dort in schwarze Buchstaben gemeißelt und es zerriss ihr das Herz. Wie konnte sie gegen eine solche Frau gewinnen? Dass hier gar kein Spiel gespielt wurde, fiel ihr in dem Moment nicht ein. Unerbittlich klopfte ihr Herz und sie fühlte sich klein und hässlich.

Sie trat erneut einen Schritt zurück und rief sich zur Ordnung. Es würde eine ganz einfache Erklärung dafür geben, dass sie ausgerechnet jetzt vor ihrem lebendig gewordenen Alptraum stand. Mit erhobenem Kopf klopfte sie und die Frau am Schreibtisch sah sie freundlich an.

„Guten Morgen, man sagte mir, dass sie die zuständige Staatsanwältin im Fall Rotraude Micker sind.“

„Ja, das bin ich. Kommen Sie bitte näher“, sagte eine sanfte Stimme, die vor Gericht sicher jeden aus dem Konzept brachte. „Wer sind Sie denn?“

„Ich bin Bianca Verskoff von der Kripo Eltville.“

Die Augen der Frau wurden für einen winzigen Moment schmaler, aber dann lächelte sie wieder. Bianca spürte, wie starr und angespannt sie sein musste und sah sich im Büro um. Alles war ordentlich und sauber, die Einrichtung neutral, ohne Schnörkel. Eine einzige große Grünpflanze schaukelte neben dem gekippten Fenster im Luftzug. Violetta trug ein dunkelblaues Kostüm, eine weiße Bluse und Schuhe mit halbhohen Absätzen.

„Ich bin Violetta Cherney-Ströckwitz. Bitten nehmen Sie doch Platz.“

Hatte sie den Namen Ströckwitz extra betont? Bianca setzte sich an die andere Seite des Schreibtisches. Sie konnte sich nicht wehren: Sie mochte diese Frau. Eine unglaubliche Welle von Sympathie durchflutete ihren Körper.

„Sie sind Erics Freundin, nicht wahr?“, sprach die sanfte Stimme und zeigte eine Reihe wunderbarer weißer Zähne. „Ich bin mit ihm verheiratet.“

Das war alles so unwirklich, dass es Bianca schwindelig wurde.

Ohne Ankündigung wechselte die Staatsanwältin das Thema: „Sie kommen wegen der Anzeige, die Ronald Micker gemacht hat, in der er behauptet, dass seine Mutter eines nicht natürlichen Todes gestorben ist und dafür soll der Pflegedienst verantwortlich sein.“

„Ja“, antwortete Bianca mit kratziger Stimme. „Ich habe mir seine Beweggründe angehört und fand seinen Verdacht durchaus glaubwürdig.“

„Das finde ich ganz und gar nicht.“

„Ach …“

Bianca wusste nicht, was sie sagen sollte. Wenn Dr. Rosenschuh gegen sie gearbeitet hatte, war in ihr stets der Kampfgeist erwacht, aber hier, vor Erics Ehefrau, war sie kleinlaut und hasste sich dafür.

„Frau Verskoff, es gibt ein gerichtsmedizinisches Gutachten, dass die natürliche Todesursache bestätigt. Also gibt es keinen Fall. Ich habe ihn bereits zu den Akten gelegt. Sie müssen sich nicht weiter bemühen.“

Biancas Sympathie begann zu bröckeln und machte Platz für Widerstand.

„Es könnte doch sein, dass jemand der alten Dame, die vollkommen gesund war, ein falsches Medika­ment verabreicht hat, was man nicht mehr nachweisen kann.“

Violetta setzte ein strahlendes Gönnerlächeln auf.

„Frau Verskoff, man kann nie sicher sein. Aber hier ist die Beweislage klar. Sie haben bestimmt noch andere Fälle, die auf Sie warten. Der Fall Micker ist keiner mehr. Ich danke Ihnen, dass Sie hergekommen sind und finde es schön, dass wir uns mal persönlich treffen konnten. Vielleicht können wir mal zusammen essen gehen. Eric und ich müssen viel besprechen, bitte grüßen Sie ihn ganz lieb von mir.“

Die Welle der Sympathie war in sich zusammengefallen und am Strand ins Nichts gelaufen. Bianca lächelte so gut wie möglich und verließ das Büro. Am liebsten hätte sie jetzt die Laufschuhe angezogen und wäre bis zum Mond gerannt, aber mit dem Ende der Welle war ihr Kampfgeist wieder aufgetaucht.

„Du bekommst ihn nicht“, flüsterte sie vor der Tür, doch der Schmerz brannte in ihrer Seele.

9

Hannes runzelte die Stirn, als er Bianca im Büro vor dem Fenster stehen sah. Ihre Haltung machte den Eindruck, als hätte sie eine schwere Last zu tragen. Als sie sich umdrehte, war sie blass und ihre Augen waren vom Weinen gerötet.

„Was ist passiert?“

„Sie hat den Fall zu den Akten gelegt.“

„Wer?“

„Die neue Staatsanwältin.“

„Oh, wir haben eine neue Staatsanwältin?“

„Jetzt tu nicht so, als hättest du es nicht gewusst. Du bist Erics bester Freund.“

Hannes ging zu Bianca, sah sie direkt und offen an.

„Ich verstehe nur Bahnhof. Was hat das mit mir und Eric zu tun?“

„Die neue Staatsanwältin ist Erics Ehefrau.“

Das Schweigen hing über ihnen wie eine schwarze Wolke, aus der sich im nächsten Moment ein Gewitter stürzen würde.

„Ich verstehe nicht …“

„Sie ist hier. Und sie will Eric.“

Hannes setzte sich an den Schreibtisch und raufte sich die Haare.

„Das kann nicht sein. Sie ist doch an der Nordsee.“

„Nein, Hannes, sie ist hier. Ich bin eben ein klein wenig gestorben.“

Bianca fasste die Begegnung in der Staatsanwaltschaft kurz zusammen und setzte sich ihrem Kollegen gegenüber.

„Du wusstest nichts davon?“

„Nein, ich schwöre es dir. Vielleicht weiß Eric auch nichts.“

Bianca sprang auf und stemmt die kleinen Fäuste auf den Schreibtisch.

„Wie sollte er das nicht wissen? Sie arbeiten zusammen Tür an Tür. Er hat mir nichts erzählt. Warum auch immer!“

„Was willst du tun?“

Bianca setzte sich wieder.

„Erstens werde ich weiter ermitteln. Zweitens werde ich Eric heute Abend zur Rede stellen. Was dann kommt, entscheide ich aus dem Bauch heraus. Ende.“

„Ende? Willst du Schluss machen?“

„Das meine ich doch gar nicht. Aber er muss schon eine sehr gute Erklärung bringen. Diese Frau will ihn zurück und für so ein Theater bin ich mir zu schade.“

Jetzt traten abermals Tränen in Biancas Augen, aber sie wischte sie weg. Sie wusste noch nicht, wie sie mit ihren chaotischen Gefühlen umgehen sollte und beschloss, sich mit Arbeit abzulenken.

„Ich möchte nicht mehr darüber reden, also lass uns den Fall besprechen.“

„Den Fall, der keiner ist. In Ordnung. Ich habe mit Ferdinand telefoniert. Bienenfleiß heißt dieser häusliche Pflegedienst. Ferdinand hat mit seinem Arzt die Undercover-Aktion besprochen, aber der will nur zustimmen, wenn er ein Schreiben von der Staatsanwaltschaft mitbringt.“

„Scheiße. Entschuldige, aber dieses Schreiben können wir vergessen. Es muss anderes gehen. Ob wir sowas fälschen können?“

„Bianca, Bianca, ich staune. Nein, wir fälschen da nichts. Ferdinand wird schon was einfallen, vielleicht ist mit Geld ein Auftrag möglich.“

„Gut, aber wir fahren da jetzt trotzdem hin und fragen ein bisschen herum.“

Hannes nickte und folgte Bianca zum Auto. Ihn ließ die Neuigkeit, die Eric ihm verschwiegen hatte, auch nicht los und er würde seinen Freund ebenfalls zur Rede stellen. In seinem Inneren brodelte es, denn er hatte echte Angst um Bianca, weil er Violetta nur zu gut kannte. Sie würde alles daran setzen, um Eric zurückzugewinnen.

Eine Biene mit Schwesternhaube und Stethoskop lächelte sie vom riesigen Banner über dem Tor an. Die Leitstelle des Pflegedienstes war in Erbach im Indus­triegebiet am Ortsrand. Zahlreiche Parkplätze, die leer waren, zeugten davon, dass sie gut zu tun hatten. Nur drei Kleinwagen mit dem Bienen-Logo standen vor dem flachen Haus.

Bianca und Hannes traten ein und wurden von einer freundlichen Dame im Hosenanzug per Handschlag begrüßt. Sie führte die Kommissare in ein klimatisiertes Besprechungszimmer, bot ihnen etwas zu trinken an und setzte sich. Ihr Lächeln hing wie festgetackert auf ihrem makellosen Gesicht. Ihre gepflegten Hände lagen locker auf der Tischplatte, ihre Haltung war gerade und stolz.

„Ich möchte mich zuerst einmal vorstellen. Mein Name ist Cornelia Plienick, ich leite diese Einrichtung seit fünf Jahren. Wir haben einen großen Betreuungsradius, er reicht vom Rhein-Main-Gebiet bis zum Mittelrheintal. Ich kann mich über einhundert Mitarbeiter freuen. Meine Mitarbeiter sind kompetent und sehr gefragt. Besonders in der Kurzzeitpflege sind wir auf Platz eins.“

Bianca dachte: Platz eins … von was? Ist das hier ein Wettbewerb? Geht es nicht hauptsächlich um Menschlichkeit und Soziales?

Cornelia Plienick hatte die Gedanken der Kommissarin erraten und fuhr fort.

„Natürlich stehen wir in Konkurrenz zu anderen Pflegediensten, denn wir finanzieren uns nicht über den Staat, sondern ausschließlich über Spenden und natürlich zahlen die Klienten einen geringen Eigenanteil. Den gibt es auch bei staatlichen Einrichtungen. Es ist kein Spiel, aber wir geben jeden Tag unser Bestes, um auch morgen noch den Bedürftigen zur Verfügung zu stehen. Das heißt: Nur, wer Bestleistungen bringt, kann in diesem Bereich überleben. Helfen ist alles andere als eine romantische Vorstellung.“

Bianca war nachdenklich geworden. Diese Frau hier war eloquent und verkaufte sich und ihre Firma in einer Perfektion, die schon unheimlich war. In ihrem Bauch grummelte es, denn irgendetwas war faul an der schönen Saubermann-Fassade. Dieses Gefühl hatte sie schon einmal gehabt: Ludger von Etzelsbach und dessen Machenschaften, die ebenfalls durch eine soziale Ader getarnt und schöngeredet worden waren. Sie beschloss: Nun erst recht! Sie würde ein wenig herumstochern.

Höflich erklärte sie: „Uns liegt eine Anzeige vor, in der Herr Micker den Pflegedienst für den Tod seiner Mutter verantwortlich macht. Ich würde mich gerne mit Ihnen über den Sachverhalt unterhalten.“

„Aber ja, gern. Ich kann Ihnen versichern, dass die Mutter des Mannes eines natürlichen Todes gestorben ist. Es nimmt uns immer sehr mit, wenn uns ein Klient oder eine Klientin auf diesem Wege verlässt. Wir haben dem Mann unsere Unterstützung zugesichert. Ich kann gern in der Akte nachschauen, wie alles geplant war.“

 

„Tun Sie das, Frau Plienick“, sagte Hannes, der Biancas Anspannung beinahe körperlich spürte.

Er wusste, dass etwas dran war, wenn Bianca sich so verhielt. Sie hatte nun mal ein Gespür dafür, wenn jemand log oder auch nur unsicher war. Die Pflegedienstleiterin machte einen durchaus kompetenten Eindruck, doch das konnte auch nur der schöne Schein sein.

„Ach, das habe ich Ihnen ja noch gar nicht erzählt und ich hoffe, das bleibt unter uns. In der Polizei scheint man auch nicht sehr sorgsam mit den Mitarbeitern umzugehen. Da muss sich ein angeschossener Polizist tatsächlich selbst um eine Betreuung kümmern und es aus eigener Tasche bezahlen. Das tut mir sehr leid.“

Bianca und Hannes war sofort klar, dass sie Ferdinand meinte. Hatte er es doch wirklich geschafft, einen Pfleger zu beauftragen. Innerlich grinsten sie, äußerlich waren sie ganz cool.

„Ja, es ist oft schwer“, sagte Hannes sachlich, „aber das ist ein Thema, über das wir in der Öffentlichkeit nicht reden sollen. Das bleibt bitte auch unter uns.“

„Natürlich, ich bin verschwiegen“, flüsterte Cornelia und zwinkerte. „So, hier ist die Akte. Ich hoffe nochmals auf Ihre Verschwiegenheit, denn das sind Daten, die Sie eigentlich nicht sehen dürften.“

Bianca nickte, nahm die Akte und begann zu lesen. Hannes sah ihr über die Schulter.

„Rotraude Micker bekam nur ein leichtes Schmerzmittel?“

„Ja, denn sie war noch sehr fit.“

„Sie hatte Hilfe beim Aufstehen, bei der Morgen- und Abendtoilette und ab und zu bei Gängen außerhalb des Hauses?“

„Wenn es dort eingetragen ist, war das auch so.“

„Wie erklären Sie sich dann den plötzlichen Herzstillstand?“

„Es ist Schicksal. Ich weiß, es klingt herzlos, aber alte Menschen sterben. Vielleicht hat sie sich über irgendetwas aufgeregt oder geärgert, aber das hat mit hundertprozentiger Sicherheit nichts mit den Dienstleistungen meiner Bienen zu tun.“

„Passiert das öfter?“

„Was bitte?“

„Dass ein Mitarbeiter morgens kommt und dann der Klient ist tot?“

„Selten, aber es kommt vor. Die meisten gehen leise.“

Das war ein schönes Bild, aber Bianca ließ sich nicht davon täuschen.

„Wie oft?“

„Einmal bis dreimal im Monat. Es gibt aber auch Monate, wo niemand stirbt.“

„Gut, kommen nur Ihre Mitarbeiter in Kontakt zu den Menschen?“

„Viele haben ja gerade deshalb einen Pflegedienst, weil sie allein sind. Sie haben wenig Kontakte nach außen. Manchmal haben die Familien keine Zeit, aber oft ist es auch so, dass sie mit den Krankheiten ihrer Familienmitglieder nichts zu tun haben wollen. Da erleichtern die Kosten für den Pflegedienst das Gewissen.“

„Danke für Ihre Offenheit. Wenn Ihnen noch etwas zu Ohren kommt, melden Sie sich bitte.“

Cornelia nickte und setzte wieder ihr Lächeln auf. Mit großen Gesten komplimentierte sie die Kommissare aus der Tür. Bianca schnaufte, als sie im Auto saß.

„Die ist aalglatt. Hinter ihre Fassade kann niemand schauen. Wir müssen irgendwie an ein paar Klienten rankommen und sie befragen.“

Hannes wusste, dass Bianca weiter ermitteln würde, doch er fürchtete sich vor den Konsequenzen. Er kannte Violettas Ruf und die Staatsanwältin würde einer uneinsichtigen Kommissarin wie Bianca das Leben zur Hölle machen. Er seufzte.

Bianca, die wusste, was er dachte, sagte: „Ich mache das allein, dann bekommst du keinen Ärger. Tu ein­fach so, als wüsstest du von nichts. Außerdem haben wir ja einen super Undercover-Klienten, der die Leute aushorchen kann, im Einsatz.“

Sie grinsten und freuten sich auf Ferdinands Nachrichten. Nach Feierabend begann Bianca sich vor der Aussprache mit Eric zu fürchten. Als sie zuhause die Mailbox abhörte, hatte der Staatsanwalt ihr eine Nachricht hinterlassen: „Habe noch einen Termin in Frankfurt und bleibe im Hotel, weil ich morgen direkt ins Gericht muss. Wir sehen uns dann abends. Gehen wir schön essen?“

Bianca verdrängte den Gedanken aus ihrem Kopf, dass er womöglich bei IHR sein konnte.

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