Unfassbar traurig

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Aus der Reihe: Eltville-Thriller #5
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6




Bianca überlegte, ob sie schon Feierabend machen sollte, aber was wollte sie zuhause? Kurz entschlossen zog sie noch einmal die Akte von Karoline zu sich heran. Sie legte ihr Bild neben das von der unbekannten Toten. Die Ähnlichkeit war stark, aber auch wieder nicht.



Alle hatten vor zwei Jahren fieberhaft nach Angehörigen der jungen Frau gesucht, aber ohne Erfolg. Niemand schien sie vermisst zu haben. Karoline lebte jetzt in einem Pflegeheim und saß den lieben langen Tag schweigend in ihrem Zimmer. Man führte sie immer wieder in den Garten, aber kurze Zeit später lief sie zurück ins Haus. Die Psychologin vermutete, dass sie für eine lange Zeit, wenn nicht ihr ganzes vorheriges Leben, irgendwo eingesperrt gewesen war, jedoch war rätselhaft, warum sie keinen Drang verspürte, aus dem Haus zu gehen. Es war, als würde ihr die kleine Welt ihres Zimmers reichen.



Das Telefon klingelte.



„Ja, schicken Sie ihn herunter. Nein, Riva ist schon weg. Sie hat einen Zahnarzttermin.“



Ferdinand Waldhöft war oben und hatte gefragt, ob er noch einmal mit Bianca reden könne. Der Mann war ihr sehr angenehm, denn er schien nicht so aufdringlich und besserwisserisch zu sein wie andere. Außerdem kannte er Nicola. Das fand Bianca eigenartig.



„Hallo, Frau Verskoff“, sagte er, als er den Kopf durch die Tür steckte.



„Kommen Sie herein, Herr Waldhöft“, forderte Bianca ihn auf und bot ihm einen Kaffee an.



„Gerne. Wir haben den Täter, aber der liebe Staatsanwalt will, dass wir den Fall zu den Akten legen.“



„Ohne zu wissen, wer das Opfer ist? Der spinnt wohl?“, platzte es aus Bianca heraus.



Ferdinand lachte und winkte ab.



„Sie kennen ihn doch. Er hat den Fall gelöst, den Täter verhört und weil der ein Geständnis abgelegt hat, ist für ihn alles andere erledigt. Er pfeift auf das Opfer.“



„Ich kenne ihn viel zu gut. So ein Wichser.“



Ferdinand war erstaunt, dass solche Worte aus dem Mund dieser sanften Frau kamen. Der Schmerz in ihren Augen war auch heute wieder sehr präsent und er spürte Schwingungen: Verzweiflung und Resignation. Bianca Verskoff hatte sich hier versteckt, ihren Kampfgeist hatte sie tief in sich vergraben.



„Was denken Sie, woher das Mädchen kam? Der Täter sagte, sie stand einfach nur da. Er war auf einer Party und als er auf den Hof kam, war sie dort. Niemand war weit und breit zu sehen. Sie hat wohl kein einziges Wort gesagt und ist mit ihm in die Weinberge gegangen. Dort wollte er was von ihr und sie ist ausgeflippt. Da hat er sie erwürgt und anschließend vergewaltigt.“



„Er hat sie missbraucht, als sie schon tot war?“



„Ja, das ist besonders abartig. Er ist vorbestraft und als geheilt aus der Therapie entlassen worden, aber jetzt hat er sich doch wieder an einer Frau vergangen.“



„So ein mieses Schwein. Er hätte einfach nur vor Schreck weglaufen sollen, dann wäre es als Affekttat durchgegangen, weil sie so geschrien hat, aber so … ich hoffe, er kriegt lebenslang.“



„Das wird er. Aber ich kann den Fall nicht zu den Akten legen, wenn ich nicht weiß, wer das Mädchen ist.“



„Ich muss immer an Nicola denken“, sagte die Kommissarin plötzlich.



Ferdinand lächelte.



„Ich habe nach Vermissten gesucht, die blonde Haare haben, da kam ich ebenfalls auf Nicola. Sie ist ja noch nicht so lange weg, also waren die wichtigsten Informationen schon im Computer.“



„Sie ist auch blond.“



„Was denken Sie?“



„Wenn es ein Bild geben würde, auf dem sie Zöpfe mit blauen Samtschleifen hat, dann würde ich an­fangen zu denken. Aber ich traue mich nicht nachzuschauen. Wollen Sie das für mich tun?“



Ferdinand kam um den Tisch herum und ließ sich die Richtung des Regals zeigen, wo die Akte von Nicola stehen müsste. Er kam mit einem Ordner wieder an den Tisch.



„So, mal schauen“, sagte er und blätterte. „Das ist das Bild, was wir beide kennen. Hier!“



Aufgeregt zeigte er auf das dritte Bild, das die Mutter der Polizei gegeben hatte, als sie das Kind vermisst gemeldet hatte. Das Mädchen hatte einen Zopf nach vorne über der Schulter liegen und man konnte deutlich eine blaue Schleife erkennen. Es war nicht im Computer, weil diese blaue Schleife wohl nicht relevant dafür war das Mädchen zu finden.



„Oh Mann“, sagte Ferdinand, „Sie können anfangen zu denken.“



Bianca nickte und beide begannen, die Akte ausführlich zu studieren.



Am Ende sagte Ferdinand: „Sie müssen mitkommen und mich beim Staatsanwalt unterstützen. Er denkt, es gibt keinerlei Zusammenhänge.“



„Ich komme nicht mit. Sie schaffen das schon alleine, Herr Waldhöft. Und jetzt gehen wir nach Hause, es ist spät. Sie können sich ja melden, wenn Sie noch etwas erfahren haben.“



Biancas Haltung hatte sich schlagartig verändert, als er sie aufforderte ins Präsidium zu kommen. Ferdinand schluckte eine Bemerkung herunter. Für den Moment gab er sich zufrieden, aber er würde es weiter versuchen, die Frau aus diesem Keller zu holen.



Seufzend war er oben angekommen. Dort grinste der junge Polizist an der Anmeldung.



„Na, auf Granit gebissen?“



Ferdinand stützte sich auf dem Tresen ab und nickte.



„Wir haben einen Fall, bei dem sie uns echt helfen könnte, aber sie will hier nicht raus.“



„Eher friert die Hölle zu, Kollege, als dass diese Frau in ihr Präsidium zurückkehrt.“



„Das wollen wir doch mal sehen“, sagte der Kommissar und machte sich auf den Heimweg.



Auch Bianca räumte auf und fuhr heim. Weil ihr Kühlschrank leer war, holte sie sich eine Pizza und aß sie im Auto, während sie auf dem Parkplatz über Ferdinand Waldhöft nachdachte.



„Warum will er mich denn unbedingt ins Büro locken? Er kann das alles selbst lösen. Außerdem hat er doch eine Partnerin“, sagte sie in den Pizzakarton, aber der antwortete nicht.



Sie klappte ihn zu und legte ihn auf den Beifahrersitz, danach machte sie sich auf den Weg in ihre leere Wohnung, wo sie hinter sich zweimal den Schlüssel drehte.



Das Bild von Michael stand auf ihrem Nachtschrank und sie nahm es wie jeden Abend in die Hand. Mit Tränen in den Augen presste sie ihre Lippen auf das kühle Glas und strich mit dem Finger über sein lachendes Gesicht.



„Schatz, warum hast du mich von dem Haus weggeschickt? Ich könnte jetzt bei dir sein. Wie gerne wäre ich mit dir gestorben, dann müsste ich jetzt nicht ohne dich leben.“



Michael antwortete ebenso wenig wie der Pizzakarton, aber Bianca wusste, was er antworten würde: „Du sollst leben, mein Engel. Ich bin bei dir und wache über dich.“



Sie wollte Ferdinand Waldhöft gerne helfen, aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. Morgen, dachte sie, morgen schaue ich mir nochmal alle Vermisstenfälle an, bei denen Mädchen mit blonden Zöpfen abgebildet sind, egal, wie alt sie jetzt sein würden.





7




Ella saß weinend auf dem breiten Fensterbrett und schaute von oben zu, wie ihre verlorene Liebe die letzte Tasche im Kofferraum verstaute. Sie hatte es tatsächlich wahrgemacht und war gleich weg. Sollte sie hinterherlaufen und sie zurückholen?



„Nein, ich habe auch meinen Stolz“, flüsterte Ella tränenerstickt.



Sie riss sich von dem Anblick los, der ihr nur Schmerzen bereitete und ging unter die Dusche. Ihr Blick war auf den kleinen Schlüsselbund gefallen, den die Freundin dorthin gelegt hatte, ehe sie die Tür hinter sich zugezogen hatte. Sie hatte wahrhaftig gelächelt. Es schien ihr wie eine Befreiung zu sein.



Ella ging unter die Dusche, schrubbte ihren Körper, bis er rot war und irgendwie fühlte sie sich, als hätte sie ein wenig von den Verletzungen ihrer Seele mit weggeschrubbt. Sie zeigte sich nach außen immer als harte und durchsetzungsfähige Frau, aber in ihrem Inneren war sie weich und sehnte sich nach Liebe.



Als sie ins Handtuch gewickelt aus dem Bad kam und den Schlüssel erneut ansah, griff sie danach und schleuderte ihn wütend gegen die Tür.



„Dann bleib doch, wo der Pfeffer wächst! Ich komme auch ohne dich klar. Ferdinand hat recht: In unserem Job sind Beziehungen scheiße.“



Sie zog sich an, wuschelte die roten Haare zurecht und setzte sich vor den Fernseher, um kurze Zeit danach wieder aufzuspringen. Sie hatte plötzlich Hunger und machte sich auf den Weg in die nächste Pizzeria. Sie aß die heiße Pizza direkt aus dem Karton, nachdem ihr am Tresen der Duft in die Nase gestiegen war.



„Sie könne auch einen Teller bekommen“, sagte die Bedienung.



„Kein Ding“, erwiderte Ella mit vollem Mund und sah über den Stehtisch hinweg zu dem Pärchen an der Theke.



„Was möchtest du, Schatz?“



Sie himmelte ihn an und sagte: „Es ist mir egal, Hauptsache, du bist bei mir.“



Pah, dachte Ella, noch ist die Liebe frisch, aber wartet mal, wenn euch der Alltag eingeholt hat. Am liebsten wäre sie zu den jungen Leuten hinübergegangen, um sie über das Leben aufzuklären, doch die bezahlten und gingen mit ihren zwei Kartons hinaus.



„Schlechte Laune?“



Ella sah auf und der Bedienung direkt in die blauen Augen. Sie schüttelte den Kopf und schluckte das letzte Stück Pizza hinunter.



„Nein, es geht mir super.“



„Ich bin Romi. Wenn du reden willst …“



„Ich will nicht reden. Und schon gar nicht mit einer Frau.“



Sie ließ den Karton liegen und lief eilig zur Tür. Dort begriff sie, wie blöd sie sich gerade verhalten hatte und kam zurück.



„Sorry, mir geht es mies. Meine langjährige Freundin, wegen der ich von Berlin hergekommen bin, hat mich eben verlassen. Ich wollte nicht so unhöflich sein.“

 



„Kein Problem. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend.“



Nun machte sich Ella auf den Heimweg, lehnte sich an die geschlossene Wohnungstür und rutschte weinend an ihr herunter.



Am nächsten Morgen fuhr sie sehr früh ins Büro, nachdem sie um fünf Uhr aus einem Alptraum hochgeschreckt war und nicht wieder einschlafen konnte. Sie hatte geträumt, dass man ihr bei der Bewerbung zur Polizistin gesagt hatte, sie solle sich von ihrer Familie verabschieden und sich von ihrer Frau trennen, denn es würde keinen Sinn machen. Dabei standen hundert Frauen mit dem Gesicht ihrer Freundin um sie herum und nickten mitleidig.



Ella schüttelte sich kurz, als sie an ihrem Schreibtisch an den Traum dachte. Sie würde sich nie wieder verlieben. Das hatte sie sich ganz fest vorgenommen. Mit einem bösen Grinsen fuhr sie den Computer hoch.



Sieben E-Mails waren heute Morgen schon angekommen. Eine enthielt mehrere Ergänzungen zum Obduktionsbericht. Dort stand, dass das Opfer in den Weinbergen sich regelmäßig gesund ernährt und ausreichend Wasser getrunken hatte. Ella fragte sich, woher die das wissen konnten.



Außerdem hieß es, dass sie gepflegt war, keinerlei Schäden an den Zähnen und sich niemals etwas gebrochen hatte. Ihr waren vor drei Wochen die Haarspitzen geschnitten worden. Das einzig Auffällige war die blasse Haut.



Hinter ihr ging die Tür auf und Ferdinand betrat das Büro. Er stutzte. Seine Kollegin war sonst nie vor ihm da.



„Nanu?“



Ella winkte ab.



„Ich konnte nicht schlafen, also bin ich aufgestanden und zur Arbeit gegangen.“



„Wie geht es dir?“



„Was denkst du denn? Soll ich jetzt sagen, es geht mir super? Gestern ist meine Freundin endgültig aus meinem Leben verschwunden, aber das macht ja nichts. Ich habe jetzt endlich wieder richtig Zeit zum Arbeiten. Toll, oder?“



Ferdinand ging zu seinem Schreibtisch, setzte sich, stand wieder auf, brachte die Kaffeemaschine in Gang und lehnte sich ans Fensterbrett.



„Ella, es tut mir leid. Ich wollte nur höflich sein. Es ist mir schon klar, dass du traurig bist, aber lass es bitte nicht an mir aus. Wir haben einen Fall, der gelöst werden muss und darauf sollten wir uns konzentrieren. Das lenkt dich vielleicht auch ein bisschen ab.“



Die Kommissarin hätte jetzt einlenken können, aber sie wollte sich nicht entschuldigen. Stattdessen provozierte sie weiter.



„Wir haben keinen Fall, mein Lieber. Er ist abgeschlossen.“



Ferdinand schwieg jetzt, goss sich eine Tasse Kaffee ein und verließ das Büro. Er ging die Treppe hinauf und klopfte bei Falk Pern von der Spurensicherung an.



„Hallo, Kollege“, sagte er entspannt, nachdem Falk ihn hereingebeten hatte.



„Hallo, Ferdinand, wie ich sehe, muss ich dir keinen Kaffee kochen. Na, wie steht es? Was sagst du dazu, dass der Fall abgeschlossen ist? Wo ist Ella?“



„Hör mir mit der auf! Die zickt mich den lieben langen Tag nur an. Es ist nicht auszuhalten, darum bin ich eben auch geflüchtet.“



„Was hat sie denn?“



„Ihre Freundin hat Schluss gemacht und ist zurück nach Berlin. Sie ist traurig und sauer, aber das muss sie doch nicht an mir auslassen. Ich wünschte, ich hätte so eine Kollegin wie Bianca Verskoff.“



Falk blickte auf und sah seinen Kollegen neugierig an.



„Du hast sie getroffen?“



„Ja, ich musste im Archiv etwas klären und sie bearbeitet die uralten Vermisstenfälle. Wir haben in etwa die gleiche Wellenlänge und sie weiß, wie man an so einen Fall herangehen muss. Aber eins ist pro­blematisch: Sie kommt nicht aus dem Keller heraus.“



„Das hätte ich dir gleich sagen können. Ich habe schon oft mit Jürgen über sie gesprochen.“



Die Tür wurde aufgerissen und Tine stürmte ins Zimmer.



„Guten Morgen!“, rief sie mit einem strahlenden Lächeln.



Falk lachte und sagte zu Ferdinand: „Wenn du magst, leihe ich dir mal meine Praktikantin. Sie hat immer gute Laune und bringt Schwung in die Bude.“



Tine blieb stehen, warf ihrem Chef eine Tüte vom Bäcker hin, die er geschickt auffing.



„Und sie geht morgens zum Bäcker. Aber nur, weil sie nebenan wohnt.“



„Und du bezahlst es ja. Sonst würde ich das auch nicht machen. Was machst du hier?“, fragte sie Ferdinand.



„Ich wollte mal mit jemandem reden, der gute Laune hat.“



„Wieso? Hat Ella keine? Sie ist doch sonst so lustig?“



„In der letzten Zeit nicht. Sie ist verlassen worden. Von der Frau, wegen der sie extra hierhergezogen war. Die ist gestern endgültig zurück nach Berlin.“



„Autsch“, sagte Tine, setzte sich und öffnete nun ihrerseits eine Bäcker-Tüte.



Sie bot Ferdinand ein belegtes Brötchen an, aber der lehnte ab.



„Nein, danke. Gut, Falk, jetzt geht es mir besser. Ihr habt meinen Morgen gerettet. Ich werde mich mal in den Computer vertiefen. Wenn der Rosenschuh denkt, ich gebe auf, dann hat er sich geschnitten.“



„Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst. Wo willst du ansetzen?“



„Frau Verskoff und ich …“



„Frau Verskoff? Die Frau Verskoff?“, unterbrach ihn Tine.



„Ja, DIE Frau Verskoff und ich denken, dass es weitere Fälle gibt.“



Falk rief erstaunt: „Wie das? Das ist ja interessant.“



Ferdinand gab wieder, was er von Bianca erfahren hatte und Falk erinnerte sich an den Fall, als das fremde Mädchen mitten in Eltville gestanden hatte.



„Wir haben damals die Kleidung akribisch untersucht, aber es gab nichts Auffälliges. Es war ganz normale Kleidung, nur ein bisschen altmodisch.“



„Wir sind auf blaue Samtschleifen an blonden Zöpfen gestoßen.“



„Ja! Die Tote trug auch eine blaue Schleife im Haar. Oh mein Gott, ihr denkt wirklich, es gibt noch mehr vermisste Mädchen?“



Ferdinand nickte.



„Und darum wollte ich Frau Verskoff aus dem Keller locken. Wir haben ganz zufällig genau das gleiche vermisste Mädchen in den Akten gefunden: Nicola. Sie ist blond, hat blaue Augen und auf einem Foto hat sie blaue Samtschleifen im Haar.“



„Darf ich mit, wenn du das nächste Mal zu ihr fährst?“, fragte Tine plötzlich.



Ferdinand und Falk sahen sie an und grinsten. Dann schüttelte der Kommissar den Kopf.



„Ich bin ja schon froh, dass sie überhaupt mit mir redet. Sei nicht sauer, aber da will ich nicht mit einer Fremden bei ihr auftauchen.“



Nun lachte Tine und winkte ab.



„Es war ja nur eine Frage. Ich gehe jetzt mal und hole die Fotos von dem Tankstellenbesitzer.“



„Ah ja, das ist gut“, sagte Falk und erzählte Ferdinand vom Einbruch letztes Wochenende.



„Und ich gehe mal nachsehen, ob sich Ella wieder abgeregt hat.“





8




Am späten Nachmittag hatte Riva noch einmal bei Bianca ins Büro geschaut, um sich zu verabschieden.



„Feierabend, meine Liebe. Sag mal, warst du eigentlich schon am Rhein?“



„Nein, ich hatte noch keine Zeit.“



„Dass ich nicht lache. Du kneifst! Bianca, du hast es mir versprochen und seine Versprechen muss man halten.“



Bianca seufzte und zuckte mit den Schultern.



„Ja, ich weiß. Aber ich kämpfe jeden Tag mit mir. Und dann schaffe ich es doch nicht.“



„Heute Abend! Ich weiß, dass du es kannst. Du musst dir nur einen Ruck geben. Einfach nur mal langlaufen und dich für einen Moment auf eine Bank setzen.“



„Ich versuche es“, sagte Bianca leise.



Nun kam Riva näher, denn sie hatte gesehen, dass ihre Kollegin Tränen in den Augen hatte. Sie zog sie von ihrem Sessel hoch und hielt sie an den Schultern fest.



„Süße, schau mich an!“



Bianca hob den Kopf.



„Bitte mach Feierabend und geh eine halbe Stunde am Rhein spazieren. Und genau da, wo du jeden Abend mit Michael gelaufen bist. Heute. Jetzt sofort.“



Bianca nickte und schluckte.



„Gut. Ich werde es tun. Heute werde ich es tun.“



Riva küsste sie auf die Wange und verließ den Raum. Bianca blieb zitternd vor Aufregung zurück. Sie wusste, dass ihre Kollegin recht hatte und heute würde sie sich dem Ganzen stellen. Sie konnte den Spaziergang ja immer noch abbrechen.



Als das Telefon klingelte, sah sie es an, zuckte mit den Schultern und machte sich auf den Heimweg. Sie wollte jetzt nicht drangehen, denn es war bestimmt etwas, das sie von ihrem Vorhaben abbringen würde. Das musste jetzt warten.



Ohne noch an einem Supermarkt zu halten, fuhr Bianca nach Eltville, stellte ihr Auto vor dem Haus ab und wollte schon nach oben gehen. Nein, dachte sie dann jedoch, ich muss sofort loslaufen, wenn ich erst in meiner Wohnung bin, schaffe ich es nicht mehr. Sie legte die Handtasche in den Kofferraum, schloss ab und steckte den Autoschlüssel in die Hosentasche. Schritt für Schritt kam sie dem Rhein näher und ihr Mund wurde immer trockener. Das Atmen wurde immer schwerer. Die feuchten Hände wischte sie sich an der Hose ab. Sie bekam kaum noch Luft. An der letzten Hausecke, die den Blick auf den Fluss verdeckte, blieb sie stehen. Der Boden schwankte unter ihren Füßen und ihre Knie waren weich. Sie hielt sich an der rauen Mauer, die die Wärme des Sommers aus­strahlte, fest und versuchte tief und gleichmäßig zu atmen. Ein Schritt. Noch ein Schritt. Sie schloss die Augen, um sie gleich darauf wieder zu öffnen.



Plötzlich lag der Rhein ruhig und unschuldig vor ihr. Er schien sich nicht verändert zu haben, das Wasser floss noch in dieselbe Richtung, der Weg war immer noch bevölkert von Touristen, die Bänke besetzt wie vor drei Jahren.



„Was habe ich denn erwartet?“, flüsterte sie heiser.



Endlich fasste sie Mut und lief das letzte Stück hinunter bis zur Promenade. Dort reihte sie sich in den Menschenstrom ein, der den Abend bei angenehmen Temperaturen genoss. Sie konnte den Blick nicht vom dahinziehenden Wasser lassen, das behäbig und sanft seinen Weg nahm. Auf der Bank unter den Platanen saß nur eine einzelne Frau. Dorthin setzte sich auch Bianca und sah nach links und rechts. Niemand starrte sie an. Niemand würde kommen und mit ihr reden.



Hier hatte sie oft mit Michael gesessen. Die großen Platanen spendeten Schatten. Hier im Wasser hatte der Obdachlose gelegen, den Alexander von seinem Leid erlöst hatte. Beim Gedanken an Alexander kam das Zittern zurück und ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken. Alexander war wahnsinnig und in seinem kranken Kopf davon überzeugt, es wäre für jeden Menschen viel besser tot zu sein, als irgendwelche Probleme zu haben. Er hatte getötet und viel Leid über die Hinterbliebenen gebracht.



„Warum können die Leute nicht einfach mal vernünftig über ihre Sorgen reden?“



Sie meinte, sie hätte dieses Satz nur gedacht, aber anscheinend hatte sie ihn laut ausgesprochen, denn jetzt wandte die Frau, die am anderen Ende der Bank saß, ihr mit einem Lächeln das Gesicht zu. Sie hatte lange blonde Haare und schien in Biancas Alter zu sein. Ihre blauen Augen blickten die Kommissarin wach und freundlich an.



„Die Menschen haben verlernt, über ihre Sorgen und Probleme zu reden“, sagte sie mit einer samtweichen Stimme, durch deren Klang sich Bianca sofort angezogen fühlte.



„Entschuldigung, ich war der Meinung, dass ich das nur gedacht habe.“



„Das geht mir auch manchmal so. Ich führe oft Selbstgespräche. Das ist normal, wenn man viel allein ist.“



„Sind Sie viel allein?“, fragte Bianca. „Haben Sie schon einmal den wichtigsten Menschen in Ihrem Leben verloren?“



„Ja“, sagte die Frau leise, „ich habe das verloren, was mir am meisten bedeutet hat. Es ist schon sehr lange her. Eine Ewigkeit.“



„Hört der Schmerz irgendwann auf?“



Die Frau schien zu überlegen. Dann schüttelte sie den Kopf.



„Niemals. Er hört niemals auf. Man muss lernen, ihn zu ertragen, sonst geht man kaputt.“



„Wie haben Sie das geschafft?“



„Mit viel Geduld habe ich immer wieder versucht, mein Leben neu zu gestalten. Ich bin schon oft an meine Grenzen gestoßen und hätte so manches anders gemacht, aber ich denke, ich habe einen guten Weg gefunden. Wen vermissen Sie denn?“



„Meinen Mann. Und unseren besten Freund. Sie sind vor drei Jahren ums Leben gekommen. Ich war schon ein Jahr lang nicht mehr auf dem Friedhof, weil ich einfach nicht dorthin gehen konnte. Denken Sie, er wird mir verzeihen?“



„Ich denke schon. Gehen Sie zu ihm und erklären Sie ihm, warum Sie nicht kommen konnten. Seien Sie froh, dass Sie wenigstens ein Grab zum Trauern haben. Ich muss jetzt gehen. Danke für das Gespräch. Es wird nie aufhören, aber es wird leiser. Glauben Sie mir.“

 



Sie nickte und ging davon. Bianca saß noch eine Weile dort, dann lenkte sie ihre Schritte nach Hause. Es hatte sie nicht umgehauen, am Rhein zu laufen. Sie musste nicht weinen. Im Gegenteil, es hatte sich nach den Worten der fremden Frau gut angefühlt, dort unten zu sitzen und zu reden. Michael wäre stolz auf sie.



Das Bild auf dem Nachtschrank lächelte sie zufrieden an. Bianca nahm es in die Hand und küs

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