Angst in Nastätten

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Aus der Reihe: Blaues-Ländchen-Krimis #2
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8

Nach dem Grillen, bei dem weder über den alten Fall noch über die Briefe geredet worden war, saßen Reiner und Undine allein vor der Remise. Es war immer noch sehr warm. Lene war heimgegangen und Jasmin hatte sich in ihre Wohnung zurückgezogen. Es war dunkel, der Mond schaute hinter dem Nachbarhaus hervor.

„Komm, wir laufen noch ein bisschen an der Bach entlang. Dort ist es nachts kühler.“

Reiner lief hinter Undine her, die leichtfüßig den Weg durch den dunklen Garten fand. Zorro erhob sich und folgte den beiden. Der große Hund hatte begriffen, dass Reiner kein Feind war und hatte sich am Abend ein paarmal streicheln lassen. Jetzt überholte er die Menschen und rannte voraus. Weit und breit war niemand zu sehen und das Schweigen zwischen Undine und Reiner störte gar nicht. Im Gegenteil, sie fanden es sehr angenehm. Sie gingen bis Buch und wieder zurück.

Kurz vor Undines Grundstück fragte sie: „Darf ich dir etwas erzählen, ohne dass du sauer wirst?“

Sie waren stehengeblieben und Reiner ahnte, was kommen würde.

„Ob ich sauer werde, kann ich vorher nicht sagen, aber ich verspreche mal, mich nicht aufzuregen. Was habt ihr angestellt?“

Nun berichtete Undine sachlich von ihren „Ermittlungen“ am Vormittag und schon beim ersten Satz spürte sie, dass es Reiner alles andere als stolz machte. Als sie geendet hatte, zog sie den Kopf ein.

„Und? Bist du jetzt sauer?“

Reiner schniefte und ging einen Schritt rückwärts. Er war nicht so ärgerlich wie er dachte, aber wo sollte das denn hinführen, wenn jeder Detektiv spielte und ihm in den Job fuschte?

Mit ernstem Blick sagte er: „Das ist nicht richtig, Undine. Es ist meine Entscheidung festzulegen, ob es einen Fall gibt und wenn ja, dann bin ich die Polizei, die die Leute befragt. Und woher zum Teufel weißt du, dass ich auch so einen Brief bekommen habe?“

Jetzt wurde Undine klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte Jennifer in Schwierigkeiten gebracht. Wie sollte sie das wiedergutmachen? Reiner würde seiner Kollegin am Montag den Kopf abreißen.

„Ich habe Jennifer damit unter Druck gesetzt. Aber sei nicht böse mit ihr, ich nehme das alles auf meine Kappe.“

„Und du denkst, das ist so einfach? Mann! Was soll der Mist?“

Reiner war nun wirklich wütend, denn er merkte, dass hier alle unter einer Decke steckten und gegen ihn arbeiteten. Wahrscheinlich hatten ihn die Frauen nur zum Grillen eingeladen, um ihn auszuhorchen. Enttäuscht lief er los. Zorro bellte kurz, denn er fühlte wohl, dass Ärger in der Luft lag.

„Warum müsst ihr Weiber euch immer einmischen?“, knurrte er, als er sich noch einmal umdrehte. „Es gibt keinen Fall. Diese Briefe kommen von einem Scherzkeks, der miese Stimmung verbreiten will. Ich hasse es, wenn man mir ins Handwerk fuscht!“

„Wie kannst du dir nur so sicher sein, dass wir keine Angst haben müssen? Und warum haben ausgerechnet diese sechs Leute einen Brief bekommen? Interessiert es dich denn gar nicht?“

„Nein, es interessiert mich nicht. Ich fahre jetzt nach Hause. Wenn ich gewusst hätte, worauf dieser Abend hinausläuft, wäre ich nicht gekommen. Und ihr lasst die Finger von dem Fall!“

Undine konnte sich nicht verkneifen, was sie jetzt sagte: „Ich denke, es gibt keinen Fall?“

Aber das war ein Satz zu viel gewesen. Reiner lief mit Riesenschritten zu seinem Auto und fuhr los, ohne sich zu verabschieden. Traurig ging Undine ins Haus. Hatte er recht? Nein, so eine Drohung musste man ernstnehmen, wenn einem die Menschen in Nastätten am Herzen lagen. Was, wenn wirklich etwas passierte?

Sie nahm sich vor, Jennifer morgen anzurufen und Bescheid zu sagen, dass ihre Woche ungemütlich anfangen würde. Undine machte alle Türen zu, trank noch ein Glas Rotwein und ging dann schlafen.

Reiner war heimgefahren, aber er wollte nicht in seine Wohnung gehen, denn da war es zu warm. So lief er zum Fähranleger und setzte sich dort auf eine Bank. Er war immer noch wütend. Hatte Undine recht? Musste er den Brief ernstnehmen? Hatte er jemandem etwas getan, dass ausgerechnet er so eine Drohung bekommen hatte? Unzufrieden starrte er auf den Rhein, der behäbig dahinfloss. Er ließ alle alten Fälle Revue passieren und überlegte, ob einer der Menschen, die er verhaftet und hinter Gitter gebracht hatte, ein Motiv für den Brief hätte. Aber, dachte er, und das ist noch unlogischer, ich wohne ja gar nicht in Nastätten und fast alle anderen Briefe waren an Personen aus dem Ort gegangen.

„Ich habe früher mal in Nastätten gewohnt. Ich bin dort aufgewachsen. Hat es etwas mit der Vergangenheit zu tun?“

So sehr er auch nachdachte, die Zeit damals sah er nur verschwommen vor sich. Er wusste noch ein paar Einzelheiten, aber das meiste lag in Dunkelheit. Er erinnerte sich, dass seine Kindheit und Jugend un­beschwert waren. Mit seinem Freund Johannes war er immer draußen gewesen. Streit hatte er so gut wie nie gehabt. Er hatte nicht viel mit Mädchen zu tun gehabt, denn seine Interessen lagen woanders. Und er wollte schon immer Polizist werden, allerdings stellte er es sich als Kind noch eher vor wie bei den amerikanischen Cops, die er im Fernsehen gesehen hatte: rasante Autofahrten, Pistolen und Faustkämpfe, dazu eine gehörige Portion Action und am Ende die Welt retten.

Nicht, dass er mit seinem Job unzufrieden war, aber es war doch alles sehr anders als im Fernsehen. Jetzt fiel ihm die alte englische Lady ein, die immer auf eigene Faust ermittelte und schon war er wieder sauer auf Undine.

„Typisch, sie muss ihren Kopf durchsetzen. Ich hatte ihr gesagt, sie sollen die Briefe wegwerfen und nun rennt sie rum und bringt die Leute durcheinander. Und Jennifer kann was erleben.“

Jetzt stand er auf und ging heim in sein Bett, aber er wälzte sich bloß herum. Nicht nur die Hitze, sondern auch die Sache mit dem Brief machte ihm zu schaffen. Um fünf Uhr war er schon wieder auf den Beinen, obwohl Sonntag war, und fuhr ins Büro. Dort gab es wenigstens einen Ventilator, den er nun einschaltete und bald fror er im Luftstrom des sum­menden Gerätes. Er kochte sich eine Tasse Kaffee und setzte sich auf Jennifers Platz.

Als er die Schublade aufgezogen hatte, lag dort der Brief, sauber in einer Plastiktüte verpackt, und starrte ihn weiß und unschuldig an. Er nahm ihn heraus. Irgendwie hatte er gewusst, dass er dort gelegen hatte, denn im Papierkorb, wo er eigentlich sein sollte, hatte er ihn nicht mehr gefunden.

„Wusste ich es doch! Warum sind Frauen immer so dickköpfig?“

Reiner streifte sich Handschuhe über und zog den Brief vorsichtig zuerst aus der Tüte und dann aus dem Umschlag. Nachdem er ihn zehnmal gelesen hatte, wartete er auf eine Idee, aber außer einem Magenknurren kam gar nicht aus ihm heraus.

„Das hört sich alles so sonderbar und unecht an, es kann nur ein Scherz sein! Wer schreibt denn so einen Scheiß, außer er will Chaos und Verwirrung verbreiten? Nastätten … warum will er die Leute dort in Angst sehen?“

Plötzlich wusste er, dass es dem Schreiber nicht darum ging, wirklich irgendwen zu vergiften, das war einfach zu dick aufgetragen und erinnerte ihn an seine geliebten Actionfilme. Nein, hier wollte jemand gezielt Unmut verbreiten und das Vertrauen einer ganzen Stadt zerstören. Und er wusste auch etwas an­deres ganz genau: Man durfte sich nicht von so einer Drohung unter Druck setzen lassen.

„Was hat dieser Mensch in Nastätten erlebt, dass er sich auf diese Weise an den Leuten dort rächen will?“

Entschlossen sprang Reiner auf und fuhr nach Na­stätten.

9

Undine war früh aufgestanden, weil es noch nicht so warm war, und mit Zorro nach Buch gelaufen. Sie sah, dass vor Reginald Woeckmanns Haus ein großer Transporter stand. Neugierig trat sie näher und grüßte freundlich.

„Ihr zieht wohl um?“

Cathrin hatte Zorro, der zu ihr gelaufen war, gestreichelt und trat jetzt zu Undine.

„Reginald hält es hier nicht mehr aus. Wir gehen nach Berlin, dort fühlt er sich wohler. Wir sind noch einmal gekommen, um den Rest zu holen.“

„Und du fühlst dich da ebenso wohl?“

„Tja, Undine, wenn man sich liebt, dann hält man zusammen, auch wenn es mal schwierig ist. Wie ich gehört habe, triffst du dich mit dem Kommissar?“

„Woher weißt du denn das schon wieder?“

„In der Stadt wird geredet, nicht nur über euch und die Familie Liekos. Es ist gut, dass Henner seine Strafe bekommt. Ob sie sich mal geliebt haben?“

„Karla und Henner?“

Cathrin nickte.

„Nein“, sagte Undine nachdenklich, „ich glaube, Karla hat immer nur Jonas geliebt, aber sie schaut jetzt nach vorn. Was gibt es noch für Neuigkeiten? Anscheinend habe ich etwas verpasst.“

„Es soll Drohbriefe geben, das haben sie gestern beim Metzger erzählt.“

Oh Mann, dachte Undine, es ist tatsächlich schon in aller Munde. Sie ließ sich nichts anmerken und stellte sich dumm, fragte aber nach.

Cathrin sah zur Tür, ob Reginald kam und sie weiterarbeiten musste, aber er war nicht zu sehen.

Sie beugte sich zu Undine und flüsterte: „Jemand will Nastätten in die Luft sprengen.“

„Ach, weißt du auch, wer so eine Drohung erhalten hat?“

„Nicht genau, der Bäcker soll einen Brief bekommen haben.“

„Was sagen denn die Nastätter?“

„Er hat angeblich seine Frau betrogen und das mit einer verheirateten Frau. Deren Mann rächt sich jetzt.“

„So ein Quatsch. Das glaubst du doch wohl nicht?“

„Was weiß ich. Ich hätte auch nie gedacht, dass Henner Liekos ein Mörder ist.“

 

Undine fühlte sich plötzlich fehl am Platz. Sie wollte das Gerede, dass es in der Stadt gab, heute Morgen nicht hören.

„Cathrin, ich muss weiter, grüß Reginald von mir und besucht uns mal, wenn ihr in Nastätten seid.“

Die beiden Frauen umarmten sich und in diesem Moment rief der Fotograf aus dem Inneren des Hauses nach Cathrin.

Undine lief zurück zum Hof und war erstaunt, dass ein fremder Mann mit dichtem Bart und Glatze gelassen auf der Bank vor der Remise saß und die Augen geschlossen hatte. Er öffnete sie, als Zorro kurz knurrte. Undine rief den Hund zu sich und trat neugierig näher.

„Sie haben es schön hier“, sagte der Mann und setzte sich gerade hin.

„Ja, das finde ich auch. Wer sind Sie denn bitte, wenn ich fragen darf?“

„Ich bin Frank Keusert, der Mann von Anna.“

„Schön Sie kennenzulernen. Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?“

„Nein danke, lieber etwas Kaltes. Es kühlt gar nicht mehr ab, oder?“

„Die Nachrichten sprechen von einem Jahrhundertsommer. Ich habe Wasser ohne und mit Sprudel oder alkoholfreies Bier.“

„Wasser mit Sprudel bitte.“

Undine ging ins Haus und kam mit einem Korb wieder, in dem sich Getränke und Gläser befanden. Sie stellte alles in die kühle Remise und brachte Frank ein Glas Wasser. Erneut verschwand sie durch die Tür und ließ einen Augenblick später einen Eiswürfel, den sie mit einem großen Löffel vor sich her balancierte, in das Wasser fallen.

„So, jetzt sagen Sie mir noch, was Sie bei mir wollen und ich schaue mal, was ich für einen Mann aus Holzhausen tun kann.“

„Danke für das Wasser. Ich wohne zwar in Holzhausen bei Anna, aber eigentlich stamme ich von außerhalb“, sagte Frank und nippte. „Wie Sie vielleicht schon gehört haben, gibt es hier einen neuen Frauenarzt. Ich bin für die technische Ausstattung der Praxis zuständig, aber weil wir uns gut verstehen, der Henrik und ich, helfe ich ihm auch sonst noch ein bisschen. Jetzt sind wir bei der Innenausstattung. Er hat keine Zeit, sonst wäre er selbst gekommen. Ich soll ein paar schöne Vasen kaufen. Und es ist ihm dabei sehr wichtig, dass die Sachen von heimischen Künstlern stammen. Anna hat gesagt, ich kann auch sonntags bei Ihnen anläuten.“

„Aha, das ist eine gute Nachricht. Dann trinken Sie Ihr Glas aus und wir schauen uns in meinem Verkaufsraum um. Ich könnte dem Herrn auch ein paar Teile auf Wunsch und nach seinen Vorstellungen anfertigen.“

„Ich richte es ihm aus. Er braucht außerdem ein komplettes Kaffeeservice für seine Wohnung über der Praxis.“

Frank leerte sein Glas in einem Zug und folgte Undine, die voranging. In dem kleinen Raum waren die Regale voll von bunten Keramiken, es gab alles, was das Herz begehrte: Tassen, Teller, Schalen, Schüsseln, Kannen und Vasen. Frank stand unentschlossen in der Mitte des Raumes und seufzte.

„Ich kann Ihnen helfen bei der Auswahl. Welche Farben sind denn vorrangig in der Praxis zu finden, eher hell oder dunkel? Sollen die Vasen auf dem Boden oder auf einem Möbelstück stehen?“

„Hm, ich finde die Räume hell und freundlich. Der vorherrschende Farbton ist ein kräftiger Ockerton, mit weiß abgesetzt.“

Wie scheußlich, dachte Undine, ließ sich aber nichts anmerken. Sie ging zu einem Regal und entnahm ihm eine dickbauchige hohe Vase in einem schimmernden braun-grünen Farbton. Sie hielt sie in die Höhe.

„Das könnte passen“, sagte Frank zögernd.

„Wissen Sie was? Wir suchen jetzt das Kaffeeservice aus und wegen der Vasen komme ich persönlich vorbei. Passt es Ihnen morgen Vormittag?“

„Morgen ist Montag, da ist Henrik erst ab mittags im Haus. Gerne können Sie vorher kommen und sich ein Bild machen.“

„Sehr gut, dann lasse ich Sie mal ein bisschen stöbern.“

Undine verließ den Raum und rief Lene an.

„Lenchen, wir haben morgen einen Termin bei dem neuen Frauenarzt.“

„Aber ich …“

„Kein Aber. Wir lassen uns nicht untersuchen, sondern schauen uns die Praxis an. Dann trödeln wir so lange, bis der Mann dazukommt und so wissen wir schon mal, wer er ist und ob er nett ist.“

Lene versprach morgens zu kommen und sie legten auf. Als Undine wieder nach Frank Keusert sah, hatte er Tassen und Teller auf dem Tisch gestapelt. Grelle, fröhliche Farben machten gleich gute Laune, wenn man von so einem Geschirr sein Frühstück einnahm.

„Das ist eine gute Wahl. Wollen Sie die Sachen gleich mitnehmen oder soll ich die morgen mitbringen?“

„Ich nehme alles gleich mit, dann kann ich es noch Anna zeigen. Sie hat mir zu viel Farbe geraten. Ich bin ja mehr der Handwerker, aber wenn etwas mit Geschmack her muss, dann frage ich meine Anna.“

„Ja, Frauen haben da oft bessere Ideen. Das soll jetzt aber nicht heißen, dass Sie keinen Geschmack haben.“

Die beiden lachten, dann holte Undine einen Karton und wickelte das Geschirr in Zeitungspapier. Eng ineinander geschoben klapperte nichts und konnte auch nicht kaputtgehen.

Undine begleitete Frank zum Tor, trug ihm Grüße an Anna auf und schaute dem Auto nach, das in Richtung Holzhausen die Oberstraße hinauffuhr. Wieder im Haus holte sich Undine eine Tasse Kaffee und setzte sich mit einem Knäckebrot, das sie trotz Reiners Kritik selbst herstellte, in den Schatten.

„Reiner“, seufzte sie, „was der wohl gerade macht?“

10

Es war fast zehn Uhr, als Reiner durch Undines Garten kam. Sie saß immer noch im Schatten und las die Zeitung von gestern, die Jasmin ihr gerade gebracht hatte. So war es immer: Jasmin studierte die Zeitung am Samstag, Undine am Sonntagmorgen und am Nachmittag beim Kaffee besprachen sie die Ereignisse, die sie interessierten.

Jetzt schaute Zorro hoch und lief zu Reiner. Undine faltete die Zeitung zusammen und sah den beiden gespannt entgegen. Der Kommissar setzte sich neben sie.

Nach einer Weile, in der beide geschwiegen hatten, sagte er: „Es tut mir leid, dass ich so schnell weg bin gestern.“

„Ah ja. Und jetzt?“

„Jetzt wollte ich mich entschuldigen.“

„Angenommen.“

„Und … ich …“

Er zögerte.

„Willst du mir etwa sagen, dass du den Fall nun doch untersuchst?“

„Ja, das will ich dir sagen. Aber ich glaube immer noch, dass es sich um einen Scherz handelt. Verstehst du das?“

Undine nickte.

„Gut, du denkst, es ist ein Scherz und ich denke, es ist ernst gemeint. Aber es ist trotzdem ein Fall.“

„Genau. Ich werde ermitteln, aber nicht, weil ich glaube, dass jemand Nastätten in die Luft jagt, sondern weil er Unruhe verbreitet und mit etwas droht, was Mist ist.“

„Dann sind wir uns ja ein Stück nähergekommen. Sehr gut. Wo fangen wir an?“

Undine sah, dass sich Reiner zusammenriss, denn sie wusste schon, dass er nicht mit ihr zusammenarbeiten würde. Doch sie wollte ihn noch ein bisschen ärgern, weil er einfach so weggerannt war, statt sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das musste er lernen, wenn die Sache mit ihnen eine Chance haben sollte.

„Erstens ermittle ich, zweitens frage ich dich, wenn ich deine Hilfe möchte.“

Das war ein Zugeständnis, mit dem Undine gut leben konnte. Zufrieden lehnte sie sich zurück.

„Bekomme ich auch einen Kaffee?“, fragte Reiner grinsend.

„Gerne, komm mit rein. Da ist es kühler.“

Er folgte ihr ins Haus und setzte sich im Wohnzimmer an den Tisch. Es gibt keinen einzigen Balken, der gerade ist, dachte er, als Undine die Tasse vor ihm absetzte.

„Möchtest du ein Stück Knäckebrot?“

„Diese Pappscheiben ohne Geschmack? Wenn es sein muss, aber nur mit viel Honig.“

Undine lachte, denn Reiner war wirklich reumütig zurückgekehrt, wenn er sogar ihr Backwerk essen wollte. Sie kam mit einem Teller Kekse, die sie für Gäste bereithielt, aus der Kochecke zurück und setzte sich zu ihm an den Tisch.

„Ich schaue mir morgen mit Lene den neuen Frauenarzt an. Er richtet seine Praxis und die Wohnung ein und möchte bei mir etwas Keramik kaufen.“

„Du hast sicher Verständnis dafür, dass ich da nicht hingehen werde.“

„Das ist ja klar, was sollst du auch beim Frauenarzt. Aber es ist wichtig für Nastätten, dass es einen guten gibt. Morgen schauen wir uns mal die Praxis an und helfen Frank beim Einrichten.“

„Frank?“

„Frank Keusert, der Mann von Anna aus Holzhausen.“

„Ah, die vorlaute Lehrerin.“

„Genau die. Frank ist Techniker und hilft dem Mann auch sonst, weil sie sich gut verstehen. Das hat er gesagt, als er vorhin hier war und ein bisschen Geschirr mitgenommen hat.“

„Sie müssen sich sehr gut verstehen, wenn er das an einem Sonntag für ihn tut.“

Undine sah Reiner nachdenklich an.

„Hast du sowas wie einen Freundeskreis?“

„Nein, schon lange nicht mehr. Als ich noch verheiratet war, gab es ein paar Leute, mit denen wir uns getroffen haben, aber nach meiner Scheidung bin ich weg aus Nastätten und damit hatte sich das auch erledigt. Sie waren wohl eher die Freunde meiner Frau gewesen. Ich habe meinen Job, der nimmt genug Zeit in Anspruch.“

„Warum hast ausgerechnet du einen Brief bekommen? Du wohnst nicht mal hier.“

Reiner war aufgestanden und stand nun am Fenster. Dieser Gedanke war auch ihm immer wieder gekommen, aber er wusste keine Antwort.

„Ich habe schon viel darüber nachgedacht. Der Grund muss in der Vergangenheit liegen. Aber eigentlich habe ich keine Ahnung.“

Jetzt setzte sich Reiner wieder und klopfte nervös auf die Tischplatte. Es musste so sein, nur so machte das Ganze einen Sinn.

Undine erklärte sachlich: „Der wusste ganz sicher nicht, dass du aus Nastätten weg bist. Also muss es jemand sein, der in die Zeit vor deiner Scheidung gehört. Wen hast du denn da verärgert?“

Nun mussten die beiden lachen, denn Undine konnte sich vorstellen, dass mit Reiner nie gut Kirschen essen gewesen war. Wenn sie daran dachte, wie ihre erste Begegnung abgelaufen war, ahnte sie, dass er ein alter Sturkopf war, dem man besser aus dem Weg ging. Dagegen war er jetzt sanft wie ein Lamm.

„Ich lege eine Liste an. Oder besser, ich schreibe ein Buch.“

Er lachte immer noch, als ihm Undine allen Ernstes einen Schreibblock und einen Kugelschreiber hinlegte.

„Was soll das denn? Ich muss erstmal nachdenken.“

„Na, beim Nachdenken helfen ein Zettel und ein Stift immer, denn man kann die Gedanken, die einem in den Sinn kommen, sofort festhalten. So verschwinden sie auch nicht wieder in den tiefen Höhlen der Vergesslichkeit. Schließlich sind wir beide in einem gewissen Alter, da kann das mal passieren.“

Reiner nahm den Stift und zog den Block zu sich heran.

Er dachte laut: „Wenn ich an meine Fälle denke, die in Nastätten waren, dann sind das nur Kleinigkeiten, dafür droht man nicht mit Bomben. Diebstahl, Einbruch, Schlägereien, Betrug. Ein Mord. Häusliche Gewalt.“

„Wem bist du denn privat auf den Schlips getreten?“

„Weißt du, Undine, da gibt es einen riesengroßen Denkfehler.“

„Welchen?“

„Die Verbindung meiner Fettnäpfchen mit denen der anderen Briefempfänger. Was zum Beispiel sollte ein Mensch, der mich hasst, mit Jasmin oder Lene zu tun haben?“

Jetzt war Undine überrascht, denn Reiner hatte recht. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht.

„Dann fangen wir doch mal bei den Gemeinsamkeiten an, die euch alle verbinden.“

„Wer sagt dir denn, dass es nicht noch mehr Briefe gibt?“

„Wer sagt dir denn, dass der Briefschreiber nicht mächtig alt ist und ihr an sich gar nichts dafür könnt, sondern eure Eltern einen Fehler begangen haben?“

Die beiden schwiegen, denn je mehr sie nachdachten und nach Erklärungen suchten, desto mehr Fragen warfen sie auf. Einige hatte Reiner auf dem Block notiert.

„Dann müssen wir zuerst herausfinden, ob es bei allen noch Eltern gibt und was diese über die Briefe denken“, sagte Undine.

„Gut, in diesem Falle darfst du mir helfen, jedoch einfach nur, weil du hier so viele Leute kennst. Es wird keine Befragung der halben Bevölkerung von Nastätten durch dich geben. Das ist mein Job, in Ordnung?“

Undine seufzte, sagte aber zu. Reiner lächelte freundlich.

„Und jetzt lade ich dich auf ein Eis ein. Mittagessen braucht bei der Hitze kein Mensch. Hast du Lust?“

„Gerne, wir laufen aber zum Eisladen.“

Sie machten sich auf den Weg und als sie im Eiscafé saßen, musste Reiner an ihre letzte Verabredung denken.

 

„Hoffentlich kommt jetzt nicht wieder Günther um die Ecke.“

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