Gschwind

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Als er diesen Satz sagt, ballt Hillers seine Fäuste wie ein Elfmeterschütze nach einem Torschuss.

»Es ist genau so, wie Tanyeri gestern proklamiert hat«, schließt Hillers und schaut Gschwind dann eindringlich an, neigt sich zu ihm vor und sagt leise und bedeutungsschwanger: »Wir brauchen dieses Land, koste es, was es wolle. Und du wirst es uns unter den Nagel reißen!«

Gschwind, bis eben gerade tatsächlich drauf und dran, Hillers um den Hals zu fallen, weicht unwillkürlich zurück. In seinen Stuhl gelehnt, sucht er in den Augen seines Gegenübers verzweifelt nach einem Hinweis auf Ironie, nach einem wie winzig auch immer ausfallenden Zwinkern, mit dem Hillers signalisieren würde, es sei natürlich Unfug zu glauben, man könne in der Schweiz, was Landnahme angeht, ähnlich vorgehen wie in Afrika.

Aber Gschwind findet auf der Hillers’schen Gesichtsleinwand keinerlei Signale der Ironie, und das nächste, was Hillers in euphorischem Ton von sich gibt, ist die Frage, wann er mit Neuigkeiten von ihm rechnen dürfe. Es gehe ja erst einmal darum, herauszufinden, wem das Land gehöre, unter dessen Boden man das Rapacitanium gefunden habe.

Blockiert durch diesen komplett unrealistischen Auftrag, zweifelt Gschwind kurz an Hillers Intelligenz. Fragend blickt er zu den breiten Wangen, zum kräftigen Unterkiefer, blickt suchend hinein in dieses Bauarbeitergesicht – und hält Hillers für einen umwerfend guten Schauspieler.

Hillers wartet auf seine Replik, und Gschwind nimmt innerlich Anlauf. Er weiß, er wird ein bisschen stottern, seine Anspannung verraten, aber er rafft sich auf zu einem klaren Blick und hört sich sagen: »In acht … acht … 48 Stunden hast du einen ersten Bescheid.«

Hillers hält kurz inne, als sei es nötig, die gestotterten Silben an sich vorbeiziehen zu lassen, dann umfasst er mit beiden Händen Gschwinds Rechte und schüttelt sie so energisch, dass Gschwind befürchtet, er wolle ihn doch vielleicht wachrütteln.

Schließlich erhebt sich Hillers schwungvoll vom Tisch, verzieht seine fleischigen Banditenlippen zu einem Lächeln, wünscht Gschwind Erfolg und eilt energisch davon.

Gschwind atmet aus. Den Satz mit den 48 Stunden hat er vor Jahren in einem Managerseminar gelernt; angeblich klingen 48 Stunden deutlich strebsamer, als wenn man von zwei Tagen spricht.

Gschwind stützt sein Gesicht in die Hände, sammelt sich und lässt die Scham vergehen, die sein Stottern ihm beschert. Dass es in solchen Situationen selten ohne den Sprachfehler geht, kann er sich verzeihen.

Während er das restliche Croissant isst, versucht Gschwind, seine Gedanken zu sortieren. Er ist überzeugt, Hillers versteht durchaus, wie unmöglich es ist, in der Schweiz einen Berg zu kaufen. Hillers weiß aber umso genauer, wie wichtig es ist, nur die tauglichsten Leute um sich zu versammeln. Das allein, so ist Gschwind jetzt überzeugt, erklärt dessen Verhalten.

Gschwind versteht allmählich: Offenbar hätte er sich nicht erlauben dürfen, bei der Zusage durch die Personalabteilung Freude aufkommen zu lassen. Diesen neuen Job bei Valnoya – er hat ihn noch gar nicht. Hillers zeigt ihm, er befindet sich erst in der Probezeit.

Einerseits hält Gschwind Hillers’ Verhalten für höchst manipulativ und verwerflich. Andererseits findet er, dass sich ein Firmenchef, der es zu etwas bringen will, genau so zu verhalten habe.

Voller Wut auf diesen Hillers und ihn gleichzeitig bewundernd, wischt sich Gschwind mit einer Serviette den Mund ab und steht auf.

Im Zimmer, wo er sich frisch macht und seine Sachen packt, begegnet er kurz seinem Spiegelbild, dem er vorwirft, doch ein dummer romantischer Kerl zu sein. Geschwind fühlt, er will nicht nur diesen Job, er will auch die Freundschaft von Hillers.


KAPITEL 5

Zwei geräumige Sitzplätze kann Gschwind auf diesem Flug für sich allein beanspruchen; Tanyeri, der hätte mitfliegen sollen, musste kurzfristig nach Mosambik, Hillers reist mit seiner privaten Maschine via Gstaad nach Singapur, alle anderen verteilen sich über den gesamten Globus. Gewiss hätte er Tanyeri Erhellendes über die hierarchisch geordneten Verästelungen innerhalb der Geschäftsleitung entlocken können, und vielleicht hätte Gschwind gar den Mut aufgebracht, Tanyeri zu fragen, ob Hillers dafür bekannt sei, neue Mitarbeiter mit unmöglichen Aufträgen unter Druck zu setzen. Gut möglich aber, dass die kulturellen Unterschiede zwischen ihm und Tanyeri zu groß sind; helfen würde ihm sein Kommentar wahrscheinlich nicht.

Gschwind bestellt bei der Flugbegleiterin einen zweiten doppelten Espresso und fragt sich, wer ihm wohl in der Angelegenheit behilflich sein könnte. Gerne möchte er seiner schöngelockten Rina alles erzählen, aber seit geraumer Zeit will es ihm nicht mehr gelingen, bei ihr für seine beruflichen Themen Interesse zu wecken.

Ein Anruf unterbricht ihn; Bahnsen ist am Apparat, der Fondsmanager seiner Privatbank. Bahnsen gibt Gschwind die neuesten Entwicklungen durch, nennt Zahlen und Risiken, erwähnt kurz die Hintergründe. Heute steht die anhaltende Trockenheit in der Schweiz im Mittelpunkt der Kalkulationen; sie zeigt wirtschaftlich erste Folgen, der Wert der Wasserkraft sinkt. Gschwind nickt, denkt nach und begrüßt den ihm vorgeschlagenen Investitionskurs.

Kaum ist das Telefonat beendet, passiert, was in letzter Zeit immer häufiger passiert, nachdem Fondsmanager Bahnsen angerufen hat: Gschwind wird bewusst, dass er von Bahnsens Talent, klar, positiv und überaus schnell zu sprechen, mitgerissen worden ist in so etwas wie einen Strudel an Zuversicht. Weil Bahnsen extrem schnell spricht, sich kaum erlaubt, die Wortendungen auszusprechen, scheint es unmöglich, sich für eine wohlüberlegte Antwort Zeit zu lassen. Überhaupt hat er inzwischen den Eindruck, sämtliche Telefonate mit Bahnsen müssten, da dieser ansonsten extrem Wichtiges an der Börse verpassen könnte, so kurz wie nur irgend möglich gehalten werden, und erst jetzt, nach dem erfolgten Gespräch, stellt sich bei Gschwind das Gefühl ein, er hätte sich die soeben erhaltenen Informationen mit einer App auch selbst besorgen können. Mit einer App, die wesentlich günstiger arbeitet als der rasante Bahnsen. Dass der Kurswert von Wasserkraftwerken sinkt, wenn es nie regnet, würde doch auch einer App in den Sinn kommen. Was Gschwind besonders ärgert, ist der Umstand, dass der steigende Gewinn seines Portfolios auch das Honorar Bahnsens in die Höhe treibt – obwohl dieser ja kaum mehr Arbeit verrichtet. Er nimmt sich vor, diese Sachlage baldmöglichst zu ändern.

Zerstreut überfliegt Gschwind nun ein paar Nachrichten, bleibt kurz bei einigen Zeilen zu den Finanzmärkten in Asien hängen, wo der in die Höhe geschnellte Ölpreis angeblich eine gefährliche Inflationsspirale in Gang gesetzt hat, dann wischt er die Nachricht weg, die über die großen, von einer deutschen Firma ins Auge gefassten Lithiumvorkommen in Bolivien berichtet. In der Schweiz hingegen ist offenbar – abgesehen vom neuen Rapacitanium – nach wie vor nichts interessanter als das Wetter: Es wird berichtet, das Land erlebe den heißesten und trockensten September seit Beginn der meteorologischen Aufzeichnungen, es heißt, die Schweiz erlebe eine Dürre. Gschwind will sich schon über diese Wortwahl ärgern, als ihn mit einem feinen Ton eine neu eintreffende Mail ablenkt; sie ist unwichtig, bringt ihn aber zu den übrigen Mails, die ihn daran erinnern, wie viel zu dem Thema Peru noch zu erledigen ist.

Er fragt sein Team an der Schutzengelstraße, ob taugliches Bildmaterial vorhanden sei über die Mine im peruanischen Cerro de Pasco. Für die Website benötige er unbedingt Bilder zufriedener Arbeiter, zufriedener Stadtbewohner, Bilder auch von der extra von Valnoya für die vertriebenen Familien gebauten Siedlung, mit Krankenhaus und Schule. Gschwind ist überzeugt, dass niemand, der das sieht, noch behaupten könne, Valnoya nutze die indigene Bevölkerung aus: Klar ist doch, diese Menschen wären ohne Valnoya arbeitslos, hätten kein Geld, kaum eine medizinische Versorgung und müssten in völliger Armut in lausigen, von Abfall umgebenen Bretterhütten wohnen.

Unsicher, ob die Leute an der Schutzengelstraße überhaupt verstehen, wie wichtig die Angelegenheit ist, sucht Gschwind selber nach Bildern. Eine neue Mail trifft ein; nochmals darf er Lorbeeren ernten für seinen Sambia-Besuch mit Bundesrat Gadellier. Er löscht die lobende Nachricht nicht.

Pascal Gschwind ist froh, dass dieser Flug nur zwei Stunden dauert, froh, dass die Internetverbindung stabil ist. Zufrieden stellt er fest, dass er dank der Zeitzonen eine Stunde Arbeitszeit gewinnt. So sollte es möglich sein, heute noch fünf Stunden im Büro zu verbringen. Die Sache mit dem schweizerischen Rapacitanium erlaubt keinen Aufschub. Abermals überblickt er kurz die neuesten Nachrichten: Die helvetische Politik, der Bundesrat und die Öffentlichkeit, die Wirtschaftslobby und die Umweltschützer – hitzköpfig debattiert die ganze Schweiz darüber, was nach dem spektakulären Fund des Rapacitaniums getan oder unterlassen werden sollte.

Online studiert Gschwind die Karten, die das Gelände des Beatenbergs zeigen: Ein hübscher Berg, gelegen am Nordufer des Thunersees; gleich hinter der Beatenbucht steigt der Berg steil und dicht bewaldet an, geht 400 oder 500 Höhenmeter später über in etwas flacheres Gelände und eine Streusiedlung, die erschlossen wird von einer Standseilbahn, und oben, auf über 2000 Metern Höhe, wird der Berg von einem felsigen, sich weit hinziehenden Grat gekrönt.

Anschließend schaut sich Gschwind Karten der Beatushöhlen an und versucht zu verstehen, welche Parzellen des Dorfes direkt über den Höhlen liegen. So schwierig abzuschätzen ist das nicht; die Parzellen sind relativ groß. Wem das direkt über den Beatushöhlen gelegene Land gehört, kann Gschwind jedoch nicht in Erfahrung bringen. Klar ist allein, es handelt sich um landwirtschaftlich genutztes Land: die Satellitenbilder zeigen weidende Kühe.

 

Gschwind verzichtet darauf, die Gemeindeverwaltung anzurufen. Niemand soll Verdacht schöpfen. Er will persönlich hingehen, möglichst rasch. Und wer weiß, vielleicht wird der Bergbauer sein Land ja verkaufen wollen, wenn er hört, dass genau dort, wo jetzt seine Kühe grasen, bald schon Fördertürme stehen und Lastwagen lärmen werden. Valnoya wird die Sache aus der Portokasse finanzieren, und er, Gschwind, wäre vorerst einmal der rechtmäßige Besitzer – und sichert sich damit bei Valnoya seinen Job.

Diese Überlegungen gefallen Gschwind. Gefallen ihm immer besser. Er fühlt sich bereit, auch herkulische Aufgaben anzunehmen. Egal wie, es wird machbar sein. Er wird Hillers und die anderen vom Business Board nicht enttäuschen. Erst recht nicht sich selbst.

Abermals bestellt er einen doppelten Espresso und blickt zuversichtlich hinab auf die Wolken, diese zarten Hindernisse, die das Flugzeug genial locker hinter sich lässt.


KAPITEL 6

Gschwind sieht es an den von Hillers und von dessen Assistentin Camille de la Rochefoucauld weitergeleiteten Mails: Die Nachricht, die Schweiz verfüge über qualitativ hochwertiges Rapacitanium, schlägt auch in der internationalen Rohstoffszene ein wie eine Bombe: Alle warten darauf, dass die Schweiz ihren neuen Rohstoff liefert. Zahlreiche Handelspartner wollen wissen, wann damit zu rechnen sei, von der Schweiz als Alternative zum chinesischen Rohstoff ein erstklassiges und umweltverträglich produziertes Rapacitanium angeboten zu erhalten.

Während die Valnoya-Aktie steigt und steigt, diskutieren alle zuständigen und weniger zuständigen Ämter des Kantons Bern über ein abgekürztes Bewilligungsverfahren zu möglichen Sondierungsbohrungen. Dies ruft den Schweizerischen Erdbebendienst auf den Plan, der derartige Tiefenbohrungen grundsätzlich als problematisch einstuft. Gschwind überlegt, wieso ihm Fondsmanager Bahnsen nicht empfohlen hat, unverzüglich mehr Valnoya-Aktien zuzukaufen.

Er erstellt sich Notizen, kippt einen weiteren doppelten Espresso, scrollt sich ungeduldig durch Bilder aus Peru, greift dann erneut in die Hirschledermappe zu seinem Telefon: Die Financial Times berichtet über transparente Lieferketten und sich allmählich etablierende Standards für umweltverträglichen Rohstoffabbau; auch die Automobilhersteller seien, so heißt es, bemüht, ihre Ressourceneffizienz zu verbessern. Im Fokus stünden auch hier die für die Batterie notwendigen Seltenen Erden, allen voran Rapacitanium. Das Handelsblatt erwähnt den markanten Anstieg der russischen Stromproduktion aus Kohle, die von einer immer noch zunehmenden Elektromobilität profitiere.

Als er einen im Manager Magazin publizierten Kommentar liest, in dem eine Journalistin behauptet, die Sensibilisierung von Konsumenten für die sozialen und ökologischen Folgen des Rohstoffabbaus nehme zu, ärgert sich Gschwind. Aussagen wie diese hält er für eine typisch journalistische Nebelmaschine: Wie, bitteschön, ist es der Journalistin über Nacht gelungen, Sensibilitäten zu messen? Angesichts ihres Verhaltens ist es den Konsumenten noch immer das Wichtigste, ein schönes und leistungsstarkes Auto zu fahren – das erkennt Gschwind an sich selbst und seinem Tesla am besten.

Gschwind ist erleichtert, als er vier, fünf Meldungen später in demselben Magazin vom ökologischen Problem lesen kann, dass just dann, wenn die meisten Elektroautos aufgeladen werden, nämlich nachts, Kohle als Stromlieferant viel besser dastehe als die alternativen Energien: Nachts scheint die Sonne nicht, die Winde sind flau.

Gschwind denkt an Deutschland, das sich seines Erachtens mit einer verfrühten Energiewende wirtschaftlich arg ins Hintertreffen gebracht hat, und hält die an ihren fossilen Rohstoffen festhaltenden Russen für schlau, deren Wirtschaft Jahr für Jahr besser brummt.

Das macht Gschwind Mut. In seinem Kopf reihen sich diese Nachrichten wie Güterwaggons hinter eine mächtige, auf sicheren Gleisen in eine bestimmte Richtung fahrende Diesellok: Hin zu einer Schweiz, die dank eines auf dem Weltmarkt stark nachgefragten Rohstoffes auch in 50 Jahren zu den reichsten Ländern der Welt gehört. Zu jenen Ländern, die dank ihrer wirtschaftlichen Leistung genügend Mittel haben für einen effizienten Umweltschutz. Die Schweiz wird ihm für sein Engagement in jener Sache keine Medaille um den Hals hängen, auch Hillers wird keine erhalten – aber es wird befriedigend sein, in zehn, 15 Jahren zu fühlen, dass sie diese Medaille im Grunde verdienten.

Dann erreicht ihn eine Nachricht von seiner Frau. Dass ihm Rina um diese Uhrzeit schreibt, ist ungewöhnlich. Normalerweise erlaubt sie sich private Kommunikation erst abends. Kurz blitzt in Gschwind die Hoffnung auf, Rina habe ihm eine erotische Nachricht geschickt, habe wie nebenbei ihre Luxuslippen erwähnt, (les deux), auch weil sie vielleicht darunter leidet, so wenig Zeit mit ihm zu verbringen. Aber die Neuigkeiten, von denen sie berichtet, haben anderes zum Inhalt: Levin hat sich offenbar entschieden, dem Gymnasium fernzubleiben. Seit drei Tagen wohne und lerne er in einer Waldhütte, die er zu einem Schulhaus umfunktioniert habe; er habe selber eine Schule gegründet, sie heiße Back to the fruits. Es sei idiotisch, sage Levin, schreibt Rina, freitags für das Klima zu demonstrieren, den Rest der Woche aber kohlenstoffbasiert zu leben. Mit der neuen Dürre habe der Klimawandel definitiv auch die Schweiz erreicht, und er ertrage es nicht länger, am Gymnasium auf ein Berufsleben vorbereitet zu werden, das allein in einer am Wachstumsgedanken festhaltenden Welt funktioniert. Es brauche einen radikalen Wandel, und mit Back to the fruits werde ein Weg für diesen Wandel beschritten. Vorbei die Zeit, da man Jugendliche auf eine Schule schicken konnte, die nicht auf die Zukunft ausgerichtet ist.

Pascal Gschwind liest diese Zeilen gleich zweimal, um sie überhaupt zu begreifen. Er ist höchst besorgt; besorgt auch über den gelassenen Ton, den seine Rina anschlägt. Da sie derart ausführlich formuliert, klingt es, als stecke sie mit Levin unter einer Decke, als habe sie sich diese Nachricht von Levin diktieren lassen.

Gestern dachte Pascal voller Sehnsucht an seine Rina, jetzt scheint sie ihm fremd.

Seinen Ehering betrachtend, als könnte er dort eine Erklärung finden, fragt sich Gschwind, ob seine Rina zu viel Yoga mache, ob sie vergessen habe, dass Levin in neun Monaten mit dem Gymnasium fertig sein wird. Dass er ein sehr kluger Junge ist, der sich mit pubertären Ideen dieser Art die Aussicht auf eine Karriere kaputtmacht. Auf eine Karriere, die es auch in einer hin und wieder von Dingen wie einer Dürre heimgesuchten Schweiz noch geben wird.

In einer kurzen Textnachricht will er von Rina wissen, was sie zu unternehmen gedenkt, um Levin zur Vernunft zu bringen. Ehe er den Zweizeiler losschickt, liest Gschwind ihn nochmals, bemerkt den vorwurfsvollen Ton, ändert die Formulierung. Mehr Achtsamkeit im sprachlichen Umgang hatte sich Rina kürzlich gewünscht; das nervt ihn zwar, aber er möchte das gerne einhalten.

Rina antwortet umgehend. Sie schreibt, sie unternehme derzeit nichts, Levin lasse sich sowieso nicht aufhalten. Schon gar nicht von seinen Eltern; damit müssten sie sich abfinden. Im Übrigen sei sie der Meinung, Levin werde mit seinen radikal-ökologischen Ideen entweder grob auf die Nase fallen – oder aber richtig erfolgreich sein.

Pascal liest auch diese Zeilen mehrmals, doch das hilft nichts. Gut möglich, dass Rinas sprachlicher Umgang ein achtsamer ist, aber Gschwind fühlt sich unverstanden und übergangen. Ihr Sohn schmeißt das Gymnasium, und seine Frau denkt, er werde erfolgreich?

Dass seine Rina vom Yoga so ungemein ausgeglichen und offenbar für nichts zu kämpfen bereit ist, geht Pascal entschieden gegen den Strich.


KAPITEL 7

Als die Flugbegleiterin die Passagiere auffordert, sich für den Landeanflug vorzubereiten und alle elektronischen Geräte auszuschalten, starrt Pascal Gschwind auf den Cursor: Jedes Blinken ein mögliches Wort, eine verpasste Chance für einen weiteren Gedanken. Misslaunig klappt er den Laptop zu; nie wird er verstehen, weshalb die Minuten zwischen Anflug und Landung nicht auch Arbeitsminuten sein dürfen.

An Back to the fruits denkend fragt er sich, wie sich sein Sohn von Dummheiten dieser Art fernhalten ließe. Kaum befasst er sich mit Levin, füllen sich seine Ohren mit dem ihm bekannten Rauschen; in seinen Armen kribbelt und zieht es; gerne würde er minutenlang etwas zerknüllen, beschädigen und zerstampfen. Und gerne würde er seinem Sohn seine aktuelle Lohnbescheinigung unter die Nase halten, damit dieser sähe, wie sehr sich Bildung auszahlt.

Der schmale, einen dunklen Dreitagebart tragende Australier kommt ihm in den Sinn, mit dem er auf einem staubigen Parkplatz in Mufulira gesprochen und der ihn gefragt hatte, ob er das auch kenne: Nur zufrieden zu sein, wenn er mehr geleistet habe, als er von sich erwarte. Was natürlich ein bisschen mehr sei, als das, wovon er glaubt, es werde von ihm erwartet, wobei diese eingeschätzte Fremderwartung wiederum ein bisschen höher liege als die tatsächliche – nur, um im Nachhinein zu begreifen, dass der Preis für diese dergestalt um vier Stufen erhöhte Leistung vielleicht doch ein bisschen hoch sei, ein bisschen gesundheitsschädigend?

Vier Stufen: Gschwind fragt sich, ob diese auch jetzt am Werk sind, da er an seinem üblichen Pflichtenheft vorbei als Strohmann für Valnoya landwirtschaftlich genutzte Flächen auf dem Beatenberg kaufen soll.

Durch sein Fenster kann Gschwind die unwirklich scheinenden, schneebepuderten Bergspitzen sehen, über denen das Flugzeug erst eine leichte Schrägstellung einnimmt, bevor es dann deutlich in den Sinkflug geht, während der dunkle Zürichsee und die von schwachen Lichtern übersäte Limmatstadt in sein Blickfeld gelangen. Gut möglich, dass die Landschaft unter ihm tatsächlich ein bisschen weniger grün, ein bisschen weniger saftig aussieht als gewöhnlich. Vielleicht ist an dieser Dürre doch etwas dran.

Gschwind schaut auf seine Patek Philippe und schätzt, es sollte gerade noch reichen für den 32er-Zug zum Zürcher Hauptbahnhof. Falls der Pilot nicht trödelt.

Der schmale Australier: Gschwind hatte ihn gefragt, ob er Psychologie studiert habe; der Australier hatte behauptet, er sei mittendrin. Weil Gschwind nicht bei Laune war, mit einem Typen zu reden, der womöglich das Kunststück fertigbrachte, nebenberuflich einem Studium nachzugehen, hatte er ganz einfach zu fragen verzichtet, ob er das ironisch meinte. Deswegen weiß Gschwind bis heute nicht, ob der Australier wirklich Vorlesungen besucht. Er weiß bloß, dass es nicht möglich ist, einmal gefasste Erwartungen zu senken.

Es dauert, bis sie am Flughafen das vorgesehene Gate erreichen; immerhin darf Gschwind, während der Airbus auf dem Gelände herumrollt, seine Geräte wieder einschalten. BMW hat mit Amperex, dem chinesischen Hersteller von Hochleistungsbatterien, der seit einigen Jahren auch in Erfurt produziert, einen Liefervertrag im Umfang von vier Milliarden Euro abgeschlossen. Woher Amperex Rohstoffe bezieht, wird nicht erwähnt. Die neuen Nachhaltigkeitsstandards könnten BMW aber dazu bringen, kein chinesisches Rapacitanium mehr zu akzeptieren. Diesen Satz lesend klatscht Gschwind begeistert in die Hände und fügt die Nachricht zu seinen Favoriten. Alles, was darauf hindeutet, dass einem zwar kostspieligen, sozial und ökologisch aber positiv konnotierten Rapacitanium die Zukunft gehört, findet den Weg in seine Sammlung.

In den Innenräumen des Flughafens fühlt sich Gschwind spröde und erschöpft. Erstaunlich warm ist es, seine Augen brennen, er hasst die künstlich anmutende Luft von Flughäfen. Außerdem will es ihm nicht gelingen, Geräusche richtig zu filtern. Er erwägt, gleich ins Büro zu gehen, noch zwei, drei Stunden zu arbeiten, die Nacht im Büro zu verbringen und sich bei Rina so zu melden, als befände er sich noch auf der Isle of Man.

 

Da, wo sich Flughafen- und Bahnbetrieb die Hand reichen, stellt Pascal Gschwind verärgert fest, dass der 32er-Intercity schon abgefahren ist. Er muss 19 Minuten auf die nächste Verbindung warten.

Am Kiosk überprüft Gschwind den Preis eines Torino-Schokoladenstängels und fühlt sich besser, als er denselben Stängel in einem nahegelegenen Supermarkt zu einem um fast 30 Prozent günstigeren Preis findet. Einsparungen, egal wie gering, erfüllen ihn mit einer kindischen Zufriedenheit.

Gschwind macht sich jedoch, die Torinos betreffend, auch Vorwürfe. Nie hat er abgeklärt, ob sich große Mengen zu einem vernünftig herabgesetzten Preis beziehen ließen. Davon abgehalten hat ihn hauptsächlich eine Stimme seines Gewissens, die ihm immer wieder mitteilt, seine Lust auf diese außergewöhnlich feine Schokolade sei im Grunde verwerflich. An seinem Körper hat sich in den vergangenen zwei, drei Jahren etwas gebildet, was seine Rina liebevoll Schokoladenkränzlein nennt. Der im Hintergrund stets vorhandene Wunsch, mit dieser Gewohnheit zu brechen und für Rina wieder ein knackigerer Liebhaber zu sein, hindert Gschwind daran, nach Wegen zu suchen, die Schokolade zu einem möglichst niedrigen Stückpreis zu beziehen. Gleichzeitig erlaubt er sich nicht, ohne Rücksicht auf den Preis ein Einzelstück zu kaufen. Sein Wunsch, weniger Schokolade zu essen, zwingt ihn also paradoxerweise dazu, mehr Geld und Zeit für Schokolade auszugeben. Er fragt sich, ob sich bei Valnoya ähnliche Mechanismen finden ließen.

In den USA will eine Firma flächendeckend Ladestationen für Automobile errichten, die mit leistungsstarken Rapacitanium-Batterien ausgerüstet sind. Ein marktausweitender Vorgang, der sich, so sieht es Gschwind voller Glück, bald schon überall auf der Welt abspielen wird.

Was aber nichts daran ändert, dass er am Beatenberg ein großes Stück Land kaufen muss, von dem er noch nicht einmal weiß, wem es gehört.

Während der Zucker des Torinos seinen müden Kopf etwas weckt, findet Gschwind auf der Website des Bundes die den Kauf und Verkauf von landwirtschaftlichem Land in der Schweiz regelnden Gesetze. Solches Land, so liest er, könne grundsätzlich nur von einem sogenannten Selbstbewirtschafter, einem diplomierten Landwirt gekauft werden.

Gschwind hält inne: Falls ein diplomierter Landwirt ein Mensch ist, der ein landwirtschaftliches Diplom herzeigen kann, und falls dieses Diplom tatsächlich so ergreifend schlicht gestaltet ist, wie alle jene, die er im Netz findet, wäre es, überlegt Gschwind, nicht besonders schwierig, aus einem Senior Chief Business Network Communications mittels Computer und Farbdrucker einen Landwirt zu machen.

Mit dem Fieber eines künftigen Betrügers schaut sich Gschwind im Internet Berufsdiplome an, fühlt still den kollegialen Beifall Hillers, setzt den Timer auf 21 Minuten, startet die Gestaltungssoftware und beginnt mit einem Entwurf. Er recherchiert nach Berufsschulen, die er besucht haben könnte. Immerhin: Mit 18, zwischen Gymnasium und Studienbeginn, kurz bevor er sich in seine Rina verliebte, war er für ein halbes Jahr in Australien und arbeitete dort auch zwei Wochen lang bei einem Rinderzüchter. Auf einer staubigen Ebene, halb so groß wie die Schweiz, wurden 3000 Rinder gehalten. Gschwind erinnert sich an die Fahrten durchs Gelände, an die Kadaver und Skelette: verendete Kühe, ein Teil der Herde. Das kümmerte den australischen Bauern wenig. Es herrschte da draußen das Gesetz der Natur; Zeit, sich um schwache Tiere zu kümmern, gab es keine.

Der Zug fährt ein und Gschwind hat kurz das Gefühl, der Boden unter ihm würde schwanken. Er kennt das und mag jetzt nicht an seinen MRI-Termin denken. Ein kleiner Schwindel ist nicht leistungsrelevant.

Als Gschwind den Waggon betritt, umfasst ihn eine schwüle Hitze; die Klimaanlage ist ausgefallen. Der Timer zeigt noch 17 Minuten. Als Gschwind bei der Schaffnerin aufgrund der schweißtreibenden Unannehmlichkeit um eine Fahrpreisreduktion bittet, blinzelt diese seine Frage charmant weg und bedankt sich für sein Ticket. Ein Ärger kocht in ihm hoch, aber der Timer meldet das Verstreichen der 15-Minuten-Marke; Gschwind sammelt sich.

Australien: An seine damaligen Eindrücke erinnert sich Gschwind zum ersten Mal seit langer Zeit, und es ist ihm ein Rätsel, wie er damals mit fast endlos viel freier Zeit hat umgehen können. Was seinen Arbeitseinsatz betrifft, so ist er der Meinung, damals in zwei Wochen so viele Kühe gesehen zu haben wie ein Schweizer Bergbauer in zwei Jahrzehnten nicht zu sehen bekommt. Das spornt ihn an, die Gestaltung seines Diploms weiter zu verfeinern. Ehe der Timer auf null läuft, will er damit fertig sein. Schließlich verlangt der Sustainability Report noch viel Arbeit.


Weitere Bücher von diesem Autor