Gschwind

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KAPITEL 2

Während er in seiner Fantasie den dünnen Flugbegleiterinnenhals noch so lange umschlossen hält, bis sich die unangenehme Spannung in seinen Händen zu lösen beginnt, ist seine nervliche Erregung längst in den Ohren angekommen, wo sich nun ein starker Druck ausbreitet und dafür sorgt, dass seine Umgebung nur noch aus einem Rauschen besteht. Gschwind fühlt, etwas ist nicht gesund in ihm, deutlich nimmt er den erhöhten Puls wahr, seine restlos angespannten Nerven. Gschwind sieht, die Flugbegleiterin sagt etwas, Entschuldigungen sind es gewiss, ihr Halsgrübchen bewegt sich, sie bewahrt perfekt Haltung, lässt höflich die Hände durch die Luft gleiten und spricht engagiert. Gschwind steht direkt vor ihr und hört sie nicht.

Um nicht noch länger gehörlos vor ihr zu stehen und um vor sich selber und seiner sonderbaren Anspannung wegzulaufen, bedankt sich Gschwind und geht zurück an seinen Platz. Dort schließt er die Augen, atmet tief ein, atmet tief aus, entspannt seinen Körper, indem er an das betörend schöne Rum Runner denkt, das er bestellt hat und das im kommenden Jahr fertig gebaut sein wird: Eine elegante Wucht von einem Motorboot mit 370 Pferdestärken, gebaut aus den schönsten Tropenhölzern, gefertigt in der Nähe von Luzern in 100 Prozent Schweizer Handarbeit, ein bulliger RollsRoyce auf dem Wasser, das schönste Motorboot auf dem ganzen See wird es sein und er sein stolzer Besitzer – der Gedanke an dieses luxuriöse Boot verringert zuverlässig den Druck auf seinen Ohren, die Herzfrequenz normalisiert sich, der Hörsinn kehrt zurück. Während Gschwind erfreut an den aufsehenerregenden Spezialtransport denkt, der nötig sein wird, um das massige Boot von der Werft am Vierwaldstättersee an den Thunersee zu holen, erreicht sein Nervenkleid allmählich den Normalzustand.

Wenn er sich diesen Rum Runner vorstellt, denkt Gschwind auch an seine Mutter, an seine selbstbewusst auftretende, schon ihr halbes Leben auf dem Thunersee als Kapitänin arbeitende Mutter Barbara. Wenn sie ihn mit diesem imposanten Boot sieht, wird sie verstehen: Er hat was erreicht.

Was die temporären Hörverluste angeht, so versucht seit Jahren ein bunter Trupp unterschiedlichster Spezialisten eine überzeugende Diagnose zu erstellen. Bisher ist nicht klar, was vorliegt. Frau Doktor Lepple vermutet Morbus Menière, aber wenn Lepple ihn untersucht, gerät Gschwind immer ein bisschen durcheinander, denn Lepple zeigt lächelnd ungewöhnlich viel Zahnfleisch, und einmal meinte Gschwind, Blut gesehen zu haben über ihren Schneidezähnen. Was ihn an Frau Doktor Lepple aber vor allem irritiert, ist ihre schwer durchschaubare Neigung, Humorvolles mit Hochernstem zu verquicken. Gleich bei ihrer allerersten Begegnung nannte sie sich Spezialistin für Spezielles, Abteilung Unheilbares, und schaute ihn dabei an, als verstünde sie sich mit bloßem Auge aufs Röntgen.

Bei Morbus Menière handelt es sich um eine situationsbedingte, stressbasierte, oft mit Schwindel einhergehende Verminderung der Hörfähigkeit. Morbus Menière gilt als nicht mit Medikamenten behandelbar und kann zu dauerhaftem Hörverlust und anhaltendem Schwindel führen. Gemäß Lepple hat auch Vincent Van Gogh darunter gelitten – und sich in einem Wahn von Schwindel und Schmerz einen Teil seines linken Ohrs abgeschnitten.

Was auch immer es sein mag: Tritt es auf, geht es jeweils rasch vorüber. Aber weil sich die temporären Hörverluste seit zwei Jahren häufen, hat Gschwind auf das Drängen Lepples hin jüngst doch eingewilligt, sich einer MRI-Untersuchung unterziehen zu lassen, die aufzeigen soll, ob sich die Sache allenfalls operativ beheben ließe. Die bereits mehrfach von ihm verschobene Untersuchung flößt Gschwind Angst ein, die Vorstellung, den gesamten Schädel millimetergenau abgescannt zu bekommen, ist ihm höchst unbehaglich. Diese Angst verträgt er meist deutlich besser als den Ärger, den Lepple mit ihrem Privathinweis in ihm ausgelöst hat: Was ich Ihnen persönlich und ganz unabhängig vom Ausgang der Untersuchung empfehle, ist eine Reduktion Ihrer Arbeitsbelastung, eine Reduktion auch der Leistung, die Sie von sich selbst erwarten. Gehen Sie runter auf fünfzig Prozent, schlafen Sie viel und machen Sie lange Spaziergänge im Wald. Denkt Gschwind diesen Lepple’schen Satz, steigt augenblicklich nicht nur der Druck in seinen Ohren, sondern es verstärken sich auch die muskulären Spannungen an Armen und Beinen. Eigentlich, so überlegt Gschwind, würde ihm ein Arzt helfen, der ihm nahelegt, mehr und härter zu arbeiten.

Oder wäre es – um zur Situation im Flugzeug zurückzukehren, – endlich an der Zeit, sich von dieser Abhängigkeit von lokalen WLAN-Netze zu lösen? Gschwind aber hasst Gebühren, und auch wenn er jetzt bei Valnoya so viel verdient wie nie zuvor, auch wenn eine dreistellige Roaming-Gebühr nur wenige Promille seines Monatsgehaltes verschlucken würde – er hasst es, für Dinge zu bezahlen, die in der Regel kostenlos zu haben sind. Weil ihn Geld und Wirtschaft immer fasziniert haben, hat er sich angewöhnt, seine Sparsamkeit als Ausdruck einer gesellschaftlichen, intellektuellen Haltung zu sehen.

Als Gschwind wieder in seiner gewöhnlichen Unruhe angekommen ist, klickt er 42 Mal auf den Verbindungsbutton – und atmet erleichtert auf, als er seine Mails endlich empfangen kann. Hillers schickt ihm einen Link zu einem Artikel, in dem sich Heinz Glomme, Präsident des Wirtschaftsdachverbandes, ganz euphorisch gibt: Dank des spektakulären Fundes im Beatenberg zähle auch die Schweiz nun zu den rohstoffreichen Ländern. Das Land stehe vor einer historischen Chance, die es klug zu nutzen gelte. Der Bundesrat hingegen gibt sich vorsichtig: Es brauche vorerst ein umsichtiges Konzept für einen nachhaltigen, landschaftsverträglichen Abbau.

Hillers schreibt: »Was ich dir schon die ganze Zeit dazu schreiben wollte: Hol’ Schaufel und Pickel aus dem Schrank: Sieht aus, als würden wir demnächst unsere erste Mine in der Schweiz eröffnen. Und wer weiß: vielleicht wird es unsere wichtigste!«

Gschwind fühlt sich geehrt, dass Hillers sich die Zeit genommen hat für einen Spruch kollegialer Art. Aber noch weiß Gschwind nicht, ob er diesen Daniel Hillers für einen Schwätzer halten soll. Für einen, der hoch abhebt, um daraufhin unsanft zu landen. Hillers ist halb Engländer, halb Däne, ein großer und breiter Mann, der nicht so recht zu den Krawatten passen will, die er trägt, der eher so wirkt, als würde er auch mal eine Bierflasche mit den Zähnen öffnen. Immerhin aber leitet Hillers nun schon seit vier Jahren diesen Valnoya-Laden; ein paar Dinge wird er schon richtig machen.

Dass mit Rapacitanium viel Geld zu verdienen ist, weiß Gschwind auch ohne Hillers: Die besten und teuersten der herkömmlichen Autobatterien lassen sich in 20 Minuten auf 80 Prozent ihrer Kapazität laden. Mit den neuen Rapacitanium-Batterien sind in zwei Minuten fast hundert Prozent erreicht. Damit hat Rapacitanium die Elektromobilität global revolutioniert. Nicht nur die Mobilität: Sämtliche Batteriehersteller verlangen jetzt nach Rapacitanium, und die Menschen wollen jetzt ein Telefon, das in zwei Minuten vollständig geladen ist. Dass eine derartige Batterie nach etwa 600 Ladevorgängen mehr oder weniger unbrauchbar wird und sich nicht recyclen lässt, nehmen sowohl Hersteller als auch Konsumenten als vernachlässigbaren Nachteil hin.


KAPITEL 3

Schon fast dunkel ist’s, als Pascal Gschwind am Flughafen der kleinen Insel in ein Taxi steigt, sich hineinbegibt in den dämmrigen, nach Duftbäumchen stinkenden Bauch des Wageninneren und sich dahinschaukeln lässt. Um seine Müdigkeit vor sich zu rechtfertigen, zählt Gschwind die Stunden, die seit seinem Aufbruch in Mufulira vergangen sind, zählt und rechnet, beginnt nochmals von vorn, und weil er die Sache aufgrund der Zeitzonen nicht klar zu fassen bekommt, fühlt er sich zusätzlich berechtigt, hundemüde zu sein.

Nochmals Nachrichten überfliegend, Sätze aufschnappend über die anhaltende Trockenheit in der Schweiz, über leere Stauseen, sonnenversengtes Gemüse, wassersparende Maßnahmen in der Industrie und über die Diskussion, wann aus einer anhaltenden Trockenheit eine Dürre wird, merkt Gschwind, wie wenig er noch aufzunehmen vermag, wie schwer seine Augen bereits sind, wie er ganz Passagier wird; seinetwegen könnte ihn der Chauffeur jetzt nach Hause fahren, egal, wie lange das dauerte, in die Schweiz, nach Oberhofen an den Thunersee, zu seiner Rina, die er mit einem Mal schmerzlich vermisst, zu seiner Rina, mit der er sich nun gerne vernachrichtlichen würde, wie sie das nennt. Verliebte Zeilen möchte er hin und her schieben, ihr einen schriftlichen Kuss auf den Bildschirm und in den Nacken legen, sie fernschriftlich umgarnen, an seine Seite und an seine Haut holen. Wahrscheinlich sitzt sie behaglich in ihrem Korbsessel, auf ihrem Lieblingsplatz, den Blick in einem Buch und zwei, drei Finger in den Locken. Katzengleich in ihren Korbsessel geschmiegt, wo er sie gerne küssen und in ihren Wintergartlichkeiten zärtlich unterbrechen möchte.

Jetzt, übermüdet in der Krippe der Taxirückbank liegend, regt sich in seinem Mund, regt sich in seiner Mitte eine dunkle Sehnsucht nach ihrem Körper, nach ihrer zart küssenden Zunge; eine gute Portion Rinalismus wäre nun das Richtige. Während seiner Zeit bei der Suissecom war das schon so und ist es auch jetzt, da er für Valnoya permanent reisen muss: Es bietet sich ihnen nur selten Gelegenheit für Erotisches. Dass sie sich im Alltag kaum sehen, betrachtet er jedoch als anziehungserhaltenden, als eheverlängernden Kollateralnutzen seines Jobs. Er schaut sie gerne an, hat sie gerne vor sich, in Kleidern oder nackt, die Unterarme schamvoll beschützend vor ihren Brüsten, die Hände vor dem Schlüsselbein; er liebt es, wenn sie in Erregung gerät, wenn sie ihn herausfordert.

 

Aber sein Kopf fühlt sich leer an, sein Sprachzentrum verdorrt, es bleibt bei der Sehnsucht, auf der Rückbank des Taxis ihre körperliche Nähe zu fühlen, ihre Haut, ihre Fingerspitzen, ihre lasziven Lippen, wie sie sie nennt in selbstbewussten Momenten, ihre Luxuslippen (les deux), in anzüglichen Momenten.

Rinalismus aber ist keiner möglich auf dieser Taxirückbank und deswegen schließt Gschwind die Augen und berührt zärtlich seinen Ehering, benetzt mit seiner Zungenspitze die Lippen.

Wiegengleich schaukelt das Taxi durch die Vorortsstraßen. Mehrmals nickt Gschwind ein, wobei sich sein Mund öffnet, Arme und Beine leicht zucken, mehrmals erwacht er, etwa wenn es im Taxi an einer Ampel still wird, die Schläfe an der Scheibe, einen Traumfetzen hinter den Lidern. Gerne möchte er sich darüber beschweren, dass er auf der Rückbank sein Telefon nirgends aufladen kann, aber er will sich beim Fahrer für dessen Schweigen bedanken, indem er selber schweigt.

Der nächste Traum schickt ihn in eine Situation mit seinem Sohn Levin, der sich ein Baumhaus baut und nicht mehr herunterkommen will. Pascal sieht den 18-Jährigen glücklich im Baumhaus, ärgert sich aber über dessen Erklärung, er habe, hier oben, jetzt alles, was er benötigt, und werde nie mehr runterkommen. Nie mehr. Es vergehen Stunden, Tage gar, aber egal, wie sehr sich Pascal auch bemüht, wie innig er auch, unter dem Baumhaus stehend, bettelt und wirbt und erklärt, mit der Feuerwehr droht und mit der Polizei: Sein Levin bleibt oben und glücklich. Er sagt, er brauche keine Schule, kein Essen, schon gar keinen Vater; er habe alles Nötige in seiner Baumkronenwelt, und er, Gschwind, schaut zu Levin hoch und erkennt, sein Sohn hat recht.

Um aus dem Traum zu finden, konzentriert sich Gschwind während mehrerer Minuten auf den Verkehr, auf das Vorwärtsgleiten des Taxis.

Gschwind ist zum ersten Mal auf dieser Insel. Er versteht nicht, inwiefern sie britisch sein soll, ohne zu Großbritannien zu gehören. Was Gschwind deutlich besser einleuchtet, sind die zahllosen Tochtergesellschaften von Valnoya, die auf der Insel angemeldet sind: Steuern für Firmen sind hier niedrig bis inexistent. Und Hillers hat hier, Gschwind hat sich das jüngst erzählen lassen, seinen neuen Privatjet angemeldet. Angeblich kam Hillers aus den USA geflogen und hätte in Douglas ordentlich Steuergelder abdrücken müssen für die Einfuhr dieses Jets in den Luftraum der EU. Direkt am Flughafen aber gründete er mit seinem Jet eine Fluggesellschaft, bei der er nun für jeden Flug ein fiktives Ticket kaufen muss. Da Firmengründungen auf der Isle of Man steuerlich stark begünstigt werden, hat Hillers nun 4,6 Millionen Euro gespart. Und er stellt sich seither gerne als Chef einer Fluggesellschaft vor.

Das Taxi hält; der Chauffeur gibt Gschwind zu verstehen, dass sie angekommen sind. Gschwind schält sich aus dem Halbschlaf und drückt dem Fahrer, was er sonst in Taxis nie macht, ein Trinkgeld in die Hand. Leute, die einer schlechtbezahlten Arbeit nachgehen, so Gschwinds Meinung, sollten nicht durch Trinkgelder verführt werden, länger bei ihrem Job zu bleiben.

Schief und verknittert steht Gschwind in der warmen Abendluft, mit kleinen Augen schaut er sich um: die Hauptstadt der Isle of Man ist ein Dorf. Verglichen mit Sambia, wo er sich eben noch durch die dichtesten Menschenansammlungen hat drücken müssen, wirkt das hier wie ein Freilichtmuseum nach Besuchsschluss.

KAPITEL 4

Das lediglich von vier Sternen gewürdigte Hotel Sefton macht auf Gschwind durch seine Lage direkt am Meer und durch seine prunkvolle Fassade einen luxuriösen Eindruck.

Nun, da er auf den Eingangsstufen zu sehen ist, da sich beobachten lässt, wie er die Lobby durchquert, soll die Frage erlaubt sein, ob Gschwind nicht vielleicht ein bisschen hinkt. Aber es ist einfach das eine Bein, das nicht jenen Schwung entwickelt, der im anderen Bein zuhause ist. Und Augenblicke später, da er sich an der Rezeption meldet, seinen Namen nennt und nach der für Valnoya reservierten Bar fragt, müsste sich die Frage anschließen, ob er nicht etwa stottere. Aber es ist schlicht sein Mund, der, wenn Gschwind müde ist oder nervös, ganz rasch zwei- oder dreimal jene Silben wiederholt, mit denen ein Satz beginnt.

Gerne möchte Gschwind kurz in seinem Zimmer verschwinden, den Timer auf 90 Sekunden stellen und sich mit einem Power nap von der Reise erholen, ehe er sich ins Meeting wirft. Allerdings vernimmt er schon an der Rezeption stehend eine bunte Mischung ihm bekannter Stimmen: Gleich im Raum neben der Lobby hat sich das Board of Directors von Valnoya versammelt; es sind auch ein paar Valnoya-Figuren eingeladen, die nicht zum Verwaltungsrat zählen, so wie Gschwind, und es ist erwartungsgemäß Hillers’ Stimme, die sich am besten heraushören lässt.

Als Gschwind die Bar betritt, wird er feierlich empfangen; aufgrund des Schweizer Rapacitaniums herrscht ansteckende Euphorie. Es ist das erste Mal, dass Gschwind den seiner körperlichen Fülle zum Trotz doch auch sportlich wirkenden Hillers in angeheitertem Zustand vor sich hat, mit Schweißperlen auf der breiten Stirn, es ist auch das erste Mal, dass er von ihm mit einer Umarmung begrüßt wird.

Während einer gar nicht so kurzen Weile steht Gschwind im Mittelpunkt; alle loben ihn für den von Bundesrat Gadellier aus Mufulira abgesandten Tweet, alle beglückwünschen ihn, den Bundesrat derartig um den Finger gewickelt zu haben, und Hillers schwingt sich gar mit rudernden Unterarmen zu der Behauptung auf, Gschwind habe damit mehr für das weltweite Ansehen Valnoyas erreicht als die seit zwei Jahren forcierte Nachhaltigkeitskampagne.

Pascal Gschwind fühlt sich hineingetauft in eine Gemeinschaft von Auserwählten. Ihm wird warm, er wischt sich Schweiß aus dem Gesicht, die lobenden Worte dringen tief in ihn ein.

Es beglücken Gschwind diese Komplimente auch deshalb besonders, weil ihn die neue Anstellung bei Valnoya häufig stark belastet; wieder und wieder hat er in den ersten Wochen geglaubt, er sei seiner Aufgabe möglicherweise nicht gewachsen. Verglichen mit dem, was bei Valnoya von ihm erwartet wird und was insgesamt auf dem Spiel steht, war sein vormaliger Job bei der Suissecom nichts als ein Sandkastenspiel. Die Suissecom, so denkt er heute, gab sich nach außen hin stets ungemein dynamisch; die Geschäftsleitung setzte sich aus blasierten Schönrednern zusammen, die mit ihrem Gebaren und mit großen Worten davon abzulenken versuchten, dass die Suissecom faktisch noch immer ein Staatsbetrieb ist, ein von Ambitionslosigkeit geprägter Laden mit gesetzlich garantierter Monopolstellung. Bei Valnoya hingegen ist überhaupt nichts staatlich, und wenn irgendwo auf Sumatra 50 Asiaten in einer heruntergekommenen Mine, die sich mit einem vernünftigen Aufwand nicht besser organisieren lässt, verschüttgehen, wenn irgendwo im Norden Kanadas Leitungen vereisen und infolge dessen 300 Arbeiter eine halbe Woche lang gelangweilt in ihren Baracken hocken und dennoch entlohnt werden müssen, oder wenn im Kongo bürgerkriegsbewegte Guerilla-Soldaten eine Mine überfallen, weil sie Mittel benötigen für neue Waffen, dann zeigt sich das Risiko, das Valnoya einzugehen bereit ist. Ein brutal großes Risiko, das im besten Fall mit einem fantastischen Gewinn honoriert wird.

Diese geschäftlichen Risiken, mit denen der breitschultrige Hillers jeden Tag zu tun hat, berauschen Gschwind; jetzt derart deutlich zu fühlen, dass er Teil von Valnoya geworden ist, erfüllt ihn mit Stolz. Tatsächlich hat er bereits vergessen, dass er seit mehr als 24 Stunden ohne Schlaf ist. Er spürt nur noch, dass er sich zugehörig fühlen darf, er fühlt, Hillers wäre wohl nicht abgeneigt, ihn mit einer Lohnerhöhung zu adeln.

Mufulira ist für den Rest des Abends kein Thema mehr, denn bald drehen sich die lauter werdenden Gespräche nur noch um das am Nordufer des Thunersees entdeckte Rapacitanium. Alle sind sich einig, allein die Aufspürung der Seltenen Erde gleiche einem Märchen: Da finden zwei Hobbyhöhlenforscher per Zufall einen speziellen Stein, überreichen ihn einer befreundeten ETH-Geologin, worauf ihn diese erst in ihrer Wohnung herumliegen lässt, immer wieder erwägend, ihn in den Vorgarten zu schmeißen. Wochen später erst entscheidet sie, ihn petrochemisch untersuchen zu lassen – und glaubt erst an einen Irrtum, als das Labor hohe Anteile von Rapacitanium ausweist, jenem Seltene-Erde-Metall, das für den Bau rasch aufladbarer Batterien unentbehrlich geworden ist.

Diese Geologin, Gabriela Hollenstein, behält die Sensation vorerst für sich, schickt Wissenschaftler in die Beatus-Höhlen – und kommt erst jetzt, zwei Jahre später, mit Fakten an die Öffentlichkeit: Das Gestein dieses unscheinbaren Berges am Thunersee enthält Rapacitanium von einer Qualität, die jene der vom Weltmarktführer China gehandelten Ware deutlich in den Schatten stellt.

Die Schweiz muss demnach ein paar Kapitel ihrer Erdgeschichte neu schreiben. Wesentlicher aber ist, dass sie ihre wirtschaftliche Zukunft neu schreiben kann: Das kleine Land in der Mitte Europas zählt nun zu jenen Ländern, die über einen international stark nachgefragten Rohstoff verfügen.

Das Valnoya-Board diskutiert hitzig über die wirtschaftlichen Chancen, die das helvetische Rapacitanium eröffnet. Vor allem der schwer schwitzende, blitzschnell denkende Hillers kann sich kaum bremsen und hört nicht auf zu schimpfen über die lahmen Politiker, die nun Angst hätten, ihre latent grün denkende Wählerschaft zu verlieren, und er hört nicht auf, all jene zu loben, die im Windschatten des Wirtschaftsdachverbandes fordern, so rasch wie möglich mit dem Abbau des Rapacitaniums zu beginnen.

Andere Verwaltungsratsmitglieder schlagen in die gleiche Kerbe: Sie ärgern sich über Geologin Gabriela Hollenstein, die überall von der großen Verantwortung schwafle, welche der Schweiz nun aufgebürdet sei, sie ärgern sich über die Medien, die nicht müde würden, Hollensteins oft wiederholte Aussage zu verbreiten, der wichtigste Rohstoff der Schweiz bleibe ihre Natur, ihre intakte Landschaft.

Je länger sich der Abend hinzieht, je länger die Männer über die globale Rohstoffsituation sprechen, über verschiedene, sich auch im Rohstoffsektor langsam durchsetzenden Ökolabels, über den öffentlichen Druck einer zunehmend ökologisch bewusst handelnden Gesellschaft, desto deutlicher versteht auch Gschwind, wie bedeutsam der Umgang mit dem helvetischen Rapacitanium für die Geschäfte von Valnoya werden wird.

Die Runde ist längst beim Cognac angekommen, als Ulo Tanyeri, ein sonst eher zurückhaltender, sich mit afrikanischen Zinkminen bestens auskennender Gentlemen aus Johannesburg, laut auf den Tresen klopfend vorschlägt, Gschwind solle doch – als einziger gebürtiger Schweizer der Runde, als Einziger mit lokalem Wissen – möglichst umgehend den gesamten Beatenberg kaufen, damit Valnoya später, falls sich zeige, dass der Berg wirklich auch genügend Rapacitanium hergeben werde, seine Mine unter günstigen Bedingungen aufbauen könne.

Die Runde verstummt, alle Augen richten sich auf Gschwind.

Gschwind hat von dieser Praxis gehört: Man schickt in ein wertvolle Rohstoffe enthaltendes Gebiet einen unscheinbaren Strohmann, lässt ihn, mit welchen vorgeschobenen Interessen auch immer, das Land kaufen, und ein, zwei Jahre später, wenn das Projekt reif ist, kauft Valnoya das Land dem Strohmann zu einem Spottpreis ab und beginnt zu baggern. Auf diesem Weg spart sich Valnoya Kosten und vor allem juristischen Ärger.

Gschwind nimmt zwar wahr, wie alkoholisiert Tanyeri ist, dennoch irritiert es ihn zu sehen, dass dieser Kollege allen Ernstes annimmt, eine Geschäftspraxis wie diese funktioniere auch in der Schweiz. Gschwind fühlt seinen Puls steigen und hofft, dem hierarchisch höherstehenden Tanyeri, immerhin Mitglied des Verwaltungsrates, nicht erklären zu müssen, dass es in der Schweiz durchaus ein paar Gesetze gibt, die das Papier wert sind, auf dem sie gedruckt stehen.

Erwartungsvoll blickt Gschwind zu Hillers, dessen rhetorisches Geschick Abhilfe schaffen könnte. Hillers aber schweigt, lässt dann sein schweres, schweißnasses Haupt ein Nicken andeuten, verengt wie immer, wenn er sich Wichtiges zu sagen anschickt, die Augen zu schmalen Schlitzen, und gibt nach einer bedeutungsschweren Pause, in der sich Gschwinds Ohren bereits mit einem Rauschen füllen, mit alkoholverziertem Schwung Tanyeri recht und behauptet, das sei die Idee des Abends: »Jawohl, Gschwind kauft für Valnoya den Beatenberg! Und legt damit den Grundstein für einen erfolgreichen Abbau des schweizerischen Rapacitaniums.«

 

Endlich im Bett, es ist bereits tiefe Nacht, gleitet Gschwind in einen überdeutlichen Traum: Er muss sich aufgrund seiner Ohren einer komplizierten Untersuchung unterziehen. Die Ärzte zeigen sich überrascht vom Resultat. Derart überrascht, dass sie erst gar nichts sagen wollen. Sie lassen ihn lediglich wissen, es sei die Untersuchung zu wiederholen, womöglich liege ein technisches Problem vor. Und schieben ihn ein zweites, ein drittes Mal durch die Röhre. Generalstabsmäßig stramm steht Frau Doktor Lepple da und lächelt zahnfleischrot ihr schiefes, überlegenes Lächeln. Gschwind weiß genau, es liegt überhaupt kein technisches Problem vor, auch ist es überhaupt nicht meistens reine Interpretationssache, nein, es liegt eine Absonderlichkeit vor, und diese befindet sich in seinem Hirn. Etwas nie Gesehenes ist dort entdeckt worden, und nachdem man ihn ein viertes Mal durch die Röhre geschickt hat, sieht Gschwind triumphierende Ärztegesichter: Sie haben in seinem Schädel, gleich hinter den Ohren, Rapacitanium gefunden. Am nächsten Tag steht es in allen Zeitungen, alle Sender berichten von diesem sensationellen Fund, und der schwitzende, breitschultrige Daniel Hillers erklärt in einem Interview auf zugängliche, sympathische Weise, es sei dies ein Glücksfall für eine Rohstofffirma, und er wäre erfreut, auch bei anderen Mitarbeitern im Hirnareal Rohstoffe zu finden.

Darauf angesprochen, dass es gewiss nicht einfach werde, das Rapacitanium aus dem Schädel herauszubekommen, ohne den Mitarbeiter zu verletzen, antwortet Hillers, er vertraue auf die Möglichkeiten der zeitgenössischen Medizin. Übrigens handle es sich bei Gschwind um einen überaus loyalen Mitarbeiter; er zweifle keinen Augenblick, dass Gschwind alles tun und geben werde, damit Valnoya an sein Rapacitanium gelange. Aufgrund bereits bestehender Komplikationen im Gehör des Mitarbeiters werde es für diesen eine Erleichterung sein, sich die Ohrmuschel, die man sich wie eine verwachsene, ins Hirn eindringende Höhle vorzustellen habe, operativ verändern zu lassen.

Gschwind erwacht verstört, reibt sich den Kopf, betastet seine Ohren. Er benötigt eine Weile, um sich von den Traumgespinsten zu lösen und in seinem steril wirkenden Hotelzimmer anzukommen; er fühlt sich matt und entkräftet. Ihm ist, als wäre im Schlaf etwas Ungehöriges mit seinem Hirn geschehen. Einmal mehr fühlt er sich leise dazu gedrängt, an seiner psychischen Gesundheit zu zweifeln, und er vermutet, es bedeute nichts Gutes, derart intensiv zu träumen.

Zackig steht er auf, um Distanz zu schaffen zu diesem Traum.

Vier Stunden hat er sicher geschlafen, vielleicht sogar fünf, und zusammen mit dem restlichen Alkohol pulsieren noch die Komplimente vom Abend durch Gschwinds Blutbahnen. Am liebsten würde er Hillers gleich anrufen, diesen betrunkenen Hillers, der sich wünscht, er, Gschwind, würde den Beatenberg kaufen. Gschwind ist klar, der nüchterne Hillers wird ganz anders über die Sache denken.

Willensstark absolviert Gschwind 25 Liegestützen und stellt sich unter eine eiskalte Dusche; eine zuverlässige Methode, nach schlechten Nächten wach zu werden.

Blass im Gesicht, im weitläufigen Frühstückssaal des Hotels sitzend, kaut Pascal Gschwind an einem welken, nach Verpackungsindustrie schmeckenden Buttercroissant. Das Messer in der Hand, den zweiten doppelten Espresso in der Tasse, liest er erneut über die anhaltende Trockenheit, unter der die Schweizer Landwirte angeblich zu leiden haben. Er liest, dass Helikopter Wasser hochfliegen zu den Alpweiden, damit das Vieh nicht verdurste, er liest von Ertragsausfällen und starkem Schädlingsbefall bei Gemüse und Getreide, er liest von sinkenden Seespiegeln, trockenen Mooren und sterbenden Amphibien; angeblich alles Folgen der fortschreitenden Klimaerwärmung.

Was ihn deutlich mehr interessiert, ist die Nachricht von japanischen Wissenschaftlern, die auf dem Boden des Pazifischen Ozeans Rapacitanium entdeckt haben. Die Forscher schätzen den Umfang des Vorkommens auf ungefähr 100 Milliarden Tonnen. Das begehrte Metall soll sich in einer Tiefe von 3500 bis 6000 Metern befinden, in internationalen Gewässern, östlich und westlich von Hawaii und östlich von Tahiti. Ob sich das Rapacitanium tatsächlich aus dem Meeresboden holen lasse, sei unsicher. Zwar ließen sich die Vorkommen mit Säure aus dem Boden waschen, doch dafür müsste der Schlamm hochgepumpt werden. Ob dies technisch möglich und wirtschaftlich tragbar sei, bleibe fraglich. Zu den ökologischen Folgen der Gewinnung von Rapacitanium machten die Wissenschaftler keine Angaben.

Zufrieden lässt Gschwind die Meldung eine Weile auf dem Display leuchten: Zu wissen, dass das im Beatenberg liegende Rapacitanium einfacher und ökonomisch sinnvoller zu gewinnen sein wird, macht ihm gute Laune. So einfach, wie Tanyeri sich das vorstellt, wird es allerdings nicht gehen.

Gschwind blickt auf seine in Platin gehaltene, leider keinen Schleppzeiger aufweisende Patek Philippe, beißt nochmals in das entkräftete Croissant und sinniert darüber, dass Hillers keinen Begriff von den Schweizer Verhältnissen hat. Abgesehen davon, dass er in Gstaad eine vielleicht zwei Mal jährlich für zwei Wochen bewohnte Villa besitzt, wo er mit seinem Privatjet bis fast vor die Haustür fliegen kann, und abgesehen davon, dass er sich hin und wieder im Hauptsitz seiner Firma blicken lässt, damit dort nicht vergessen werde, wer der Chef ist, hat Hillers kaum etwas mit der Schweiz zu tun, bewegt sich ausschließlich auf dem internationalen Parkett und kennt eigentlich kein anderes Gesetz als das des Kapitals.

Kaum hat Gschwind diesen Gedanken halbwegs vollzogen, taucht am Frühstücksbuffet tatsächlich Daniel Hillers auf, und Gschwind muss unwillkürlich an einen Rinderzüchter denken, während er Hillers robuste Lederstiefel betrachtet. Als er seinen am Buffet stehenden und das Angebot prüfenden Chef mustert, wandern seine Gedanken vom Rinderzüchter zu einem sympathisch-altmodischen Banditen, der mit der Kraft der eigenen Hände und mit ein wenig Grips aus dem Knast getürmt ist und sich nun, euphorisiert von der selbst errungenen Freiheit, in wilde Taten stürzt.

Dem Buffet den Rücken kehrend, steuert Hillers unvermittelt auf Gschwinds Tisch zu. Gschwind fühlt sich ertappt. Nicht nur, weil er das Gefühl hat, Hillers habe bemerkt, dass er ihn beobachtet und in Gedanken wahlweise als Rinderzüchter oder Banditen diffamiert hat, sondern vor allem, weil er vermutet, Hillers würde glauben, es sei arbeitsfaul, derart lange zu frühstücken.

Eilends streckt Gschwind seinen Rücken durch und befürchtet, noch Schlaf in den Augen zu haben, da steht Hillers bereits vor ihm. Hillers begrüßt ihn auf das Freundlichste, setzt sich gut gelaunt an seinen Tisch und verbindet sich mit ihm durch einen aufmunternden Blick. Gschwind wischt die Scham weg, seinem Chef zerknittert gegenüberzusitzen. Er fühlt, Hillers ist voller Wohlwollen, und die eben noch in Gschwind wirksame Anspannung verwandelt sich umgehend in eine angenehme Neugierde.

Euphorisch schildert Hillers, er habe vergangene Nacht von einem Mittelsmann zur ETH erfahren, das Rapacitanium im Beatenberg erreiche in allen bisherigen Proben einen Anteil von bis zu 17 Prozent im Muttergestein. Deutlich mehr als in den besten Minen Chinas.

Hillers strahlt derart, dass Gschwind für einen Moment glaubt, er warte nur darauf, von ihm umarmt zu werden.

»Und noch wichtiger«, fährt Hillers etwas lauter fort: »Die Proben, das hat die vertrackte Hollenstein bisher verschwiegen, sind über insgesamt vier Quadratkilometer verteilt entnommen worden, und jede einzelne Probe weist Rapacitanium auf. Die Mine wird also nicht klein sein, im Gegenteil: Es sieht schwer danach aus, als könnten wir den ganzen Berg abbaggern!«

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