Baltrumer Dünensingen

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Wir kennen ihn. Das heißt, mein Mann kennt ihn«, sagte Ulf. »Er kommt aus Brake, genau wie wir.«

Daniel Gebert horchte auf. »Die Ärztin ist da. Jetzt treten Sie zur Seite. Genau dorthin!« Er zeigte auf einen schmalen Flur, der vom Büro ausging. »Dort warten Sie auf meinen Kollegen.«

»Geht es auch etwas freundlicher?«, murmelte Ulf und schlurfte ganz langsam die drei Meter Richtung Flur, mit gesenktem Kopf an Sigmar vorbei. Der folgte ihm ohne Widerspruch.

6

Es hatte sich bereits eine sehr interessierte Menschenmenge vor dem großen Schaufenster versammelt, als Röder eintraf. Der Rettungswagen stand vor dem Eingang der Galerie, das hatte die Menschen wohl neugierig gemacht.

Daniel ließ ihn herein und informierte ihn mit knappen Worten über die Lage.

Röder rief Meta an und sie versprach, sofort zu kommen. Dann begrüßte er Ellen Neubert, die Ärztin, und die Rettungssanitäter. »Wie sieht es aus?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht gut. Aber gib uns ein paar Minuten.«

»Wo sind die beiden Männer?«

Daniel deutete in den Flur. »Da stehen sie und warten. Ich habe sie dorthin gebeten, damit sie keine Spuren verwischen und aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwinden. Siehst du?« Jetzt zeigte er nach draußen. »Da hat schon einer sein Handy gezückt und macht Fotos.«

Tatsächlich. Röder konnte es mal wieder kaum fassen. Diese verdammten Gaffer! Er sprang auf, entriegelte die Tür und wandte sich resolut an die Leute, die neugierig in den Laden schauten: »Machen Sie, dass Sie fortkommen. Alle. Jeder Einzelne, der in zehn Sekunden noch hier ist, muss mit einer kräftigen Geldbuße rechnen, verstanden?«

Seine Warnung zeigte Erfolg. Nach kurzer Zeit waren alle, die ihre Nasen neugierig gegen die Scheibe gedrückt hatten, verschwunden.

»So, jetzt können wir.« Röder begrüßte die beiden Männer, fragte sie nach ihren Namen und warum sie auf der Insel waren.

»Unsere Namen haben wir Ihrem Kollegen bereits mitgeteilt. Aber gerne noch einmal: Ich bin Sigmar Benedikt und das ist mein Mann Ulf Martens. Wir sind seit gestern wegen der Partywoche hier und wollten eigentlich ein paar schöne Tage verbringen. Wir wohnen im Haus Emma bei Familie Flegel.«

»Warum waren Sie hier im Laden und was hat sich zugetragen, Herr Benedikt?«

Sigmar lachte. »Was will ich wohl in einer Galerie? Bilder gucken natürlich.«

»Und weiter?«

»Ich ging rein und grüßte. Mehrmals. Es antwortete niemand. Dann fand ich Herrn Wurzellage im Büro, und gleich darauf kam Ulf herein und rief Sie und die Ärztin an. Das war es schon.«

Röder stöhnte innerlich. Es gab Momente im Leben eines Polizisten, die er eigentlich nicht brauchte. »Sie haben meinem Kollegen gegenüber gesagt, dass Sie den Toten kennen, richtig?«, wandte er sich an Martens.

»Das stimmt. Mein Mann hatte, als er noch im Dienst war, eine Auseinandersetzung mit ihm. Beziehungsweise, er wurde von Herrn Wurzellage übelst beschimpft«, erwiderte Martens.

»Stimmt das? Sie kennen ihn?«, fragte er Benedikt.

»Ja. Er hat mich beschimpft. Allerdings wusste ich nicht, dass er hier seine Bilder ausstellte. Und wenn Sie jetzt meinen, ich hätte den Mann wegen seines Auftritts auf meiner Dienststelle umgebracht, irren Sie sich. Dafür hätte ich nicht nach Baltrum fahren müssen, das hätte ich auch in Brake erledigen können. Weniger auffällig.«

Röder war sich nicht sicher, ob diese Theorie greifen könnte. Im Gegenteil. War es nicht eine wunderbare Möglichkeit? Nur Benedikt und der Künstler allein im Laden? Wenn sein Gatte nicht aufgetaucht wäre, hätte kein Mensch erfahren, wie Wurzellage zu Tode gekommen war. Natürlich stand zunächst die Obduktion und damit hoffentlich eine genaue Eingrenzung der Todesursache an.

»Michael, wir sind durch.« Ellen Neubert deutete auf das Büro.

Röder stand auf und folgte der Ärztin zur Ladentür. »Wie ist deine Einschätzung?«, fragte er leise.

Sie zuckte mit den Schultern. »Er lebt nicht mehr. Klar. Aber aus welchem Grund, da lege ich mich nicht fest. Also haben wir eine ungeklärte Todesursache. Ein Genickbruch liegt ziemlich sicher vor. Woher die Verletzung stammt, sollen die Kollegen herausfinden. Ich für meinen Teil habe festgestellt, dass kein Leben in dem Mann ist.«

»Danke. Ich melde mich, wenn wir euch brauchen.« Röder nahm sein Handy und unterrichtete seinen Chef in Aurich von der Lage. Der versprach, umgehend den Kriminaldauerdienst auf die Insel zu schicken. Außerdem teilte Müller ihm mit, dass sich die Suche nach dem Brandstifter erledigt hatte. Er war auf frischer Tat beim Anzünden von Strohballen in einer Scheune in Dornum vom Bauern erwischt worden. Der Inselpolizist wandte sich wieder den beiden Männern zu. »Ich habe weitere Fragen an Sie. Ich muss Sie zu 16 Uhr auf die Wache bitten. Es wäre sinnvoll, wenn Sie dort erscheinen und nicht etwa auf den Gedanken kommen, die Insel zu verlassen. Mein Kollege wird Fingerabdrücke nehmen. Es ist nützlich, wenn Sie sich kooperativ zeigen.«

Martens verdrehte die Augen. »Herr Kommissar, wir haben verstanden. Allerdings – eigentlich brauchen Sie nur die von Herrn Benedikt, oder? Ich bin erst später erschienen.«

»Von Ihnen beiden«, erwiderte der Inselpolizist nur und nahm seine Kamera aus dem Spurensicherungskoffer. Es war sicher nicht verkehrt, schon einmal ein paar Eindrücke festzuhalten, auch wenn seine Kollegen vom Festland die Lage genauestens untersuchen würden. Doch ehe er mit der Arbeit beginnen konnte, hörte er einen spitzen Schrei.

Meta Paulsen war da und starrte auf Sigmar Benedikt. »Was hat das zu bedeuten? Sigmar, was machst du denn hier?«, fragte sie ungläubig.

»Sie kennen sich?«

»Ja, von früher. Wir haben uns heute auf der Feier des Heimatvereins wiedererkannt. Hast du etwa …?«, wandte sie sich an den Mann, der zusammengesunken an der Wand lehnte.

»Ich habe den Mann gefunden, nicht umgebracht. Trotzdem gelte ich offensichtlich als Hauptverdächtiger. Die nehmen sogar meine Fingerabdrücke!«

Beinahe hätte Röder Einspruch erhoben, doch er beschloss spontan, dass es dazu keinen Grund gab. Benedikt konnte trotz seines Protestes durchaus schuld am Tod des Mannes sein. Ebenso wie der andere, der kein Problem damit gehabt hatte, seinen Gatten mit einem Motiv auszustatten. Er bat Meta, einen Blick in den Laden zu werfen, ob ihr Ungewöhnliches auffiele, und sie deutete auf drei Pappröhrchen, die auf dem Fußboden lagen.

»Das war heute Morgen sicher nicht da. Und der Staub drumherum auch nicht.«

Das waren Böller, so viel konnte Röder erkennen. Wie kamen die hierher? Und warum lagen die dort? Der Kriminaldauerdienst würde sich darum kümmern. Die beiden Polizisten entließen Martens und Benedikt, nicht ohne an den Termin auf der Wache zu erinnern. »Weißt du, ob der Mann Familie hat, die wir benachrichtigen können?« Röder hoffte auf eine positive Antwort von Meta, doch er sah sich enttäuscht. Sie wusste nur, dass der Mann in ihrer kurzen Bekanntschaft weder Frau noch Kinder erwähnt hatte. Allerdings hatte sie eine Adresse in Brake vorliegen.

»Sie liegt bei mir im Wohnzimmer. Ich hole sie.« Meta wollte gehen, dann drehte sie sich um. »Es war so ein verdammt schöner Tag. Die Gäste waren gut drauf und haben ordentlich gekauft, gegessen und getrunken, der Auftritt der Gitarrengruppe war ein voller Erfolg, und das Wetter gab sein Bestes. Warum musste er so enden? Zumindest für mich. Die anderen feiern ja weiter.«

»Wann hast du die Galerie verlassen?«

»So gegen 10 Uhr. Als ich ging, war der erste Kunde bereits im Laden. Mehr weiß ich nicht.« Sie verschwand und kam kurz darauf mit einem Zettel wieder. »So, hier ist die Adresse. Ich glaube nicht, dass er verheiratet war. Er war ein wunderbarer Künstler, aber als Mensch? Man brauchte schon starke Nerven, um es dauerhaft mit ihm auszuhalten. Bei mir hat er sich einigermaßen vernünftig benommen. Schließlich wollte er, dass seine Bilder hier ausgestellt werden. Aber als wir über die Preise sprachen, konnte er nicht genug bekommen. Meine Bildpreise dürfen ein oberes Limit nicht übersteigen, und wenn ein Künstler damit nicht einverstanden ist, muss er gehen. Da hatte Wurzellage echt dran zu knabbern. Beinahe hätte er alles wieder eingepackt. Doch er blieb und hat in den paar Tagen bereits einige Bilder verkauft.«

»Wohnte er bei dir?«, fragte Röder.

»Ja, die meisten Aussteller machen das. Ich habe oben ein kleines Zimmer, das ich kostenlos zur Verfügung stelle. Er hat bei dem Angebot nicht nein gesagt.« Sie lächelte. »Nein gesagt hat er allerdings, als ich ihn darauf hinwies, dass es hier so etwas wie Kurtaxe oder Fremdenverkehrsabgabe gibt, die eventuell zu zahlen wäre. Das ginge ihn nichts an, meinte er. Schließlich würde er die Insel bereits mit seinen Bildern bereichern.«

»Meta, du lässt den Laden heute Nachmittag geschlossen und rührst hier unten und in seinem Zimmer erst einmal gar nichts an, bis wir und der Kriminaldauerdienst neue Erkenntnisse bezüglich Wurzellages Tod haben. Sobald wir hier durch sind, werden wir die Bilder des Toten sicherstellen«, erklärte Röder. Er hatte das Gefühl sich in einem Nachkriegstheaterstück wiederzufinden. Meta stand vor ihm in ihrer Tracht mit dem Charme der 60er-Jahre, als ob sie auf ein Stichwort von ihm wartete.

Sie schaute auf die Uhr. »Meine Mitstreiter beim Heimatverein brauchen dringend Hilfe. Herbert hat versprochen, meine Karten zu verkaufen. Wir waren am gleichen Tisch. Er hat Bernstein angeboten. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, dort wieder aufzutauchen. Es hat sich bestimmt schon rumgesprochen, was passiert ist.«

»Davon kann man ausgehen«, sagte Röder. »Bei der Beantwortung von Fragen seitens Neugieriger solltest du dich zurückhalten. Noch wissen wir nichts.«

 

»Meinst du, ich gehöre hier zu den Tratschtanten?« Empört schlug sie mit der Faust auf den Tisch. »Da solltest du mich besser kennen!«

»Beruhige dich. Habe ich nicht so gemeint. Aber du weißt, dass es hartnäckige Menschen gibt.«

»Ich weiß«, seufzte sie, »aber darum ist es umso wichtiger, dass ich mich dort blicken lasse, um Änne aus dem Schussfeld zu nehmen. Die wird bestimmt mit Fragen überhäuft und weiß gar nicht, worum es geht.« Wieder schaute sie auf die Uhr. »Wie gut, dass mein Neffe Johannes heute kommt. Der kann uns unterstützen.«

Der Inselpolizist war sich nicht sicher, ob diese Aussage seine Zustimmung fand. Trotzdem nickte er. »Geh und kläre die Lage. Herr Gebert bleibt hier, während ich die Kollegen vom Flugplatz abhole. Komm bitte so schnell wie möglich wieder. Wir brauchen hier deine Anwesenheit.«

Er kannte Ännes Sohn Johannes kaum. Der Mann hatte bereits die Insel verlassen, als er, Röder, seine Arbeit auf der Insel angetreten hatte. Das Einzige, was er kannte, war dessen Akte. Johannes Paulsen war vorbestraft. Er hatte, nach seiner Aussage, jemanden bei einem Einbruch erwischt und aufgehalten. Allerdings konnte dem Opfer der Einbruch nie nachgewiesen werden, und das Aufhalten hatte so ausgesehen, dass Paulsen dem Mann einiges an Schlägen verpasst hatte, bevor er von zwei Kumpels zurückgehalten worden war. Es war das erste Verfahren gegen ihn, daher war die Strafe relativ glimpflich ausgefallen. Dass Paulsen jedoch gerne mal wütend reagierte, besonders, wenn Alkohol im Spiel war, war auf der Insel bekannt. Und auch, dass sowohl Änne, seine Mutter, als auch Meta eisern zu ihm hielten. Wehe, wenn einer was Böses über Johannes sagte, dann war es vorbei mit der Freundschaft.

Er winkte Daniel zu und stieg auf sein Rad. Sein Chef hatte zugesagt, dass die Kollegen in Kürze eintreffen würden. In gut zwei Stunden sollten dann Benedikt und Martens auf dem Revier erscheinen. Er war gespannt, was sie zu sagen hatten. Und dann? Ja, dann war bald schon Abend und es stand Boogie -Woogie auf dem Programm. Bis vor ein paar Tagen hatte er sich nicht einmal darüber Gedanken gemacht, wie weit sich eine Hüfte zum Takt der Musik schwingen ließ. Jetzt wusste er es. Ziemlich weit. Zumindest so weit, dass die Tanzlehrerin ihm am ersten Abend einen bewundernden Blick zugeworfen hatte, als Sandra und er die Tanzfläche dominiert hatten. Er grinste. Vielleicht hatte er den Blick aber auch verkehrt verstanden und es war doch mehr Mitleid gewesen. Mitleid mit Sandra. Sein Muskelkater am nächsten Tag zeugte jedoch davon, dass er sein Bestes gegeben hatte. Und genau das würde er heute Abend wieder machen, weil er einfach nicht drumherum kam. Wenn nicht, ja, wenn nicht dringende Ermittlungen sein Erscheinen erforderten. Außerdem – was war mit seinem Knöchel? Zu seinem Bedauern schmerzte er nicht mehr, also fiel dieser Grund für einen Rückzieher aus. Aber das konnte Sandra schließlich nicht wissen.

Er holte die Wippe, die neben dem Gartenhäuschen links von der Wache auf ihren Einsatz wartete, und fuhr weiter zum Flugplatz. Gerade stieg eine einmotorige Maschine auf. Es war erstaunlich, wie sich die Menge der Starts und Landungen in den letzten Jahren vervielfacht hatte. Im Sommer war es inzwischen völlig normal, dass bis an die 20 Maschinen neben dem Rollfeld standen, während die Piloten sich am Strand oder in einem der Cafés tummelten. Wiederholt hatte es bereits Proteste seitens der Anwohner gegeben, aber bis jetzt gab es keinerlei Einschränkung des Flugbetriebes. Er stellte sein Rad ab und ging zu dem Container, der als Tower diente.

Melanie, die für den reibungslosen Ablauf auf dem Rollfeld verantwortlich war, empfing ihn freundlich. »Zehn Minuten, dann ist er da. Was ist passiert?«

»Ein Todesfall, der näher untersucht werden muss«, sagte er. Mehr musste sie nicht wissen. Sie fragte nicht weiter nach. Er verließ den Tower, setzte sich auf die Bank und ließ sich die Sonne auf die Nase scheinen. So viel Zeit musste sein. Als der Hubschrauber landete, wäre er am liebsten sitzengeblieben. Aber seine Kollegen warteten.

Martin Brinkmann und sein Kollege Lars Haltegrund begrüßten ihn freundlich. »Ist es wieder mal soweit? Was liegt an? Wieder ein Toter auf dem Friedhof?«

»Gemach, liebe Freunde. Nein, diesmal liegt ein toter Künstler in einer Galerie und wartet auf eure Begutachtung. Schön, dass ihr so schnell kommen konntet«, sagte Röder.

»Reiner Glücksfall«, erklärte Brinkmann. »Wir kamen von einem anderen Einsatz auf eurer Nachbarinsel. Wir saßen im Hubschrauber und sind gleich weitergeschickt worden.«

Sie packten ihren Untersuchungskoffer in die Wippe. Auf dem Weg zur Galerie berichtete der Inselpolizist, was es an Erkenntnissen gab. »Wir haben den Fundort so weit wie möglich unberührt gelassen. Wenn ihr fertig seid, veranlasse ich, dass der Leichnam ans Festland kommt.«

»Gut, dann man los.« Martin Brinkmann zog seine Jacke aus. »Ganz schön warm hier. Auf Norderney war es kälter.«

»Übernachtet ihr hier? Dann muss ich ein Zimmer besorgen.« Röder überlegte, ob sie auf dem Weg zum Einsatzort beim Hotel Sonnenstrand anhalten sollten. Henning und Birgit Ahlers machten es immer möglich, für Einsatzkräfte der Polizei einen Raum zur Verfügung zu stellen. Und das seit – er überlegte – seit 14 Jahren. Auch den Klubraum überließen sie der Polizei, wenn er nicht durch Bridgespieler oder andere Vereine belegt war. Dort war einfach mehr Platz als auf der kleinen Wache.

»Wir gehen erst einmal nicht davon aus. Wir haben in Aurich jede Menge zu tun und möchten nach Inaugenscheinnahme gerne wieder ans Festland fliegen«, sagte Martin.

»Schade, sonst könntet ihr meinen Tanzkurs übernehmen.« Michael Röder erzählte den beiden, was es damit auf sich hatte. Dass die ganze Woche unter dem Motto »70er« lief.

Lars lachte. »Nichts lieber als das. Tausche Mord gegen Musik. Kein schlechter Gedanke.«

»Ihr könnt es euch überlegen«, schlug der Inselpolizist vor, »aber erst einmal müsst ihr eure Arbeit erledigen. Wir sind da.« Er öffnete die Haustür, und gleich darauf stand Meta Paulsen vor ihnen. Diesmal ohne Tracht.

»Kommt rein«, sagte sie nur.

»Schlage vor, ihr schaut euch zunächst im Laden und im Büro um, damit wir den Toten wegbringen können. Dann steht das Zimmer des Mannes an.« Röder ging voraus und machte Martin Brinkmann und Lars Haltegrund mit Daniel Gebert bekannt. Die beiden Männer vom Kriminaldauerdienst begannen mit der Arbeit. Die Lage des Toten, jede offene Schublade und alles, was sie auf dem Schreibtisch fanden, wurden peinlich genau abgelichtet und archiviert. Sie tüteten den Böller ein, nahmen Fingerabdrücke und verstauten alles in ihrer großen Kiste. Dann nickte Martin Brinkmann den Baltrumer Kollegen zu. »Hier wären wir soweit. Veranlasst ihr den Abtransport? Wir gehen dann schon einmal nach oben.«

»Alles klar«, sagte Röder. »Daniel, nimmst du Kontakt mit der Ärztin und Axel Meinders, dem Feuerwehrchef, auf? Wenn zeitnah eine Fähre geht, kann der Tote damit ans Festland gebracht werden, ansonsten muss der Hubschrauber her.«

»Wird erledigt.«

Die drei Männer ließen sich von Meta Paulsen das Quartier des Künstlers zeigen, baten sie jedoch, es nicht zu betreten, bevor sie es gründlich untersucht hatten. Der Raum war nicht groß und sehr gemütlich eingerichtet. Es herrschte Ordnung. Zumindest konnte Brinkmann nicht ein persönliches Teil entdecken, das wahllos herumlag. Das Bett war gemacht, als ob nie jemand darin geschlafen hätte. Er öffnete den Kleiderschrank. Drei Unterhemden und drei Unterhosen lagen gefaltet auf dem Regalbrett, daneben ein Schlafanzug. Zwei Hosen hingen nebeneinander, darunter standen Schuhe wie mit dem Lineal gezogen in einer Reihe. Alles war unauffällig, wenn nicht eine schwarze Ledermappe hinter der Wäsche Brinkmanns Aufmerksamkeit erregt hätte. Er nahm sie, öffnete den Reißverschluss und pfiff leise. »Was haben wir denn da?«

Haltegrund schaute ihm neugierig über die Schulter. Brinkmann zog einen Zeitungsartikel nach dem anderen heraus. Es waren alles Berichte über Wurzellage. Eine Überschrift lautete: Knöllchen-Peter in Aktion. »Na, der hat sich zu Hause in Brake keine Freunde gemacht.« Er wandte sich an Meta. »Haben Sie das gewusst? Hat er Ihnen gegenüber von seiner Mission erzählt?«

Verwirrt schüttelte sie den Kopf. »Nein. Hat er nicht.«

Der Schrank war leer. Er hob die Bettdecke an, aber hier fand er nur einen sorgsam zusammengelegten Schlafanzug. Lars Haltegrund durchsuchte derweil die Taschen einer Jacke, die an einem Haken an der Tür hing. Er fand eine Geldbörse mit ein paar Scheinen, mehr nicht. Auch im Badezimmer gleich gegenüber war alles aufgeräumt. Eine Zahnbürste stand in einem blauen Becher, der Rest befand sich, sorgsam verstaut, in einer dunkelblauen Kulturtasche.

»Bettwäsche und Handtücher habe ich ihm zur Verfügung gestellt. Was soll ich mit seinen Sachen machen? Kann ich sie zusammenpacken und irgendwo deponieren, bis wir wissen, ob er Familie hat? Was ist mit den Bildern? Kann ich sie verkaufen, oder soll ich die auch für die Angehörigen aufbewahren? Wer holt sie ab? Der nächste Künstler kommt erst in drei Wochen, aber bis dahin …«

»Meta, beruhige dich«, warf Röder ein, »wir werden alles besprechen, wenn wir Wurzellage weggebracht haben und der Kriminaldauerdienst hier fertig ist. Versprochen.«

7

Sigmar knallte die Reisetasche auf den Tisch. Wo war seine Lesebrille? Er war sich sicher, dass er sie eingesteckt hatte.

»Geht es auch ein wenig leiser?«, brummte Ulf vom Bett her.

»Geht es nicht«, erwiderte Sigmar. »Denn wenn man wütend ist, und das bin ich, schmeißt man schon einmal mit Dingen um sich. Mich treibt nämlich eine Frage um – was sollte eigentlich dieser dämliche Spruch bei der Polizei?«

Ulf richtete sich auf. »Welcher Spruch?«

»Das weißt du genau. Nämlich der, dass ich unbedingt auf die Insel wollte. So, als ob ich den Termin, an dem ich den Künstler hier finde, genau ermittelt hätte. Nur um ihn dann um die Ecke zu bringen. Wie bekloppt ist das denn?«

»Hast du nicht?«

Sigmar glaubte, sich gerade verhört zu haben. Meinte sein Mann das wirklich ernst?

Ulf schob seine Beine aus dem Bett. »Schließlich hast du darauf bestanden, genau jetzt die Insel zu besuchen, obwohl du genau wusstest, dass mir die nächste Woche beruflich viel besser gepasst hätte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Und wenn ich mich erinnere, wie du daheim auf Wurzellage geschimpft hast, bleiben so manche Überlegungen einfach nicht aus.«

Sigmar ließ sich in den Sessel plumpsen, der energisch unter seinem Gewicht knarrte. Was war mit Ulf los? Sie waren seit fünf Jahren verheiratet, kannten sich seit zehn Jahren und hatten einander immer vertraut. So zumindest hatte er es wahrgenommen. Und jetzt? Jetzt traute Ulf ihm einen Mord zu? Das durfte nicht wahr sein.

Was sollte er antworten? Wie die Lage erklären? Es war doch ganz einfach. Das Jahr 1977 war auferstanden. Genau in dieser Woche. Das war es, was ihn hergelockt hatte, und er hatte sich sehr gewünscht, dass Ulf ebenfalls seine Liebe für die Insel fand. Er zumindest hatte sie trotz allem, was sich heute ereignet hatte, wiederentdeckt. Beziehungsweise, sie war nie weggewesen. Nein, er musste sich nicht rechtfertigen. Aber er wollte es wissen. »Ulf, bist du der Meinung, dass ich Wurzellage getötet habe? Dann sag es mir.«

Ulf zögerte. »Ich habe dich bei dem Toten gefunden, deine Hände an seinem Kopf. Du hast ihn gehasst. Sage mir, was ich denken soll! Sage es mir!« Ulf nahm eine Weste aus dem Schrank, zog sie über und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

Verdammt, er hatte bei der Polizei in Ulfs Gegenwart genau erklärt, was vorgefallen war. Dass Wurzellage im Bürostuhl gesessen hatte und dann heruntergerutscht war. Warum glaubte ihm denn keiner? Wenn es gegangen wäre, wäre Sigmar noch ein Stück in sich zusammengesunken. Was für ein Tag. Auch die beiden Polizisten hatten bei ihm nicht den Eindruck hinterlassen, dass er verdachtsmäßig aus der Schusslinie war. Im Gegenteil, sie hatten Ulf und ihn eindringlich gebeten, die Insel nicht zu verlassen. Zur Klärung anfallender Fragen, wie der jüngere der beiden erwähnte. Wie hieß er noch? Gebrecht? Nein, Gebert. Auch egal. Er, Sigmar, hatte versprochen zu bleiben. Auch deswegen, weil er sich die Woche einfach nicht kaputt machen lassen wollte. Er war gespannt, ob Ulf zu seinem Wort stand. Also was lag an? Zunächst einmal verspürte er Appetit. Dann wartete der Film beim Heimatverein. Er drückte sich aus dem schmalen Sessel und prüfte, ob er seine Geldbörse dabeihatte. Auf dem Tisch lag der Schlüssel. Bisher hatten sie das Zimmer abgeschlossen, wenn sie rausgegangen waren. Aber nun? Ulf war unterwegs, und sie hatten keinen Zweitschlüssel. Ob Frau Flegel aushelfen konnte? Er verließ das Zimmer und ging hinunter. Links vom Eingang hörte er Stimmen. Er klopfte, und schlagartig verstummte das Gespräch. Dann hörte er ein helles »Herein«. Er öffnete die Tür und sah Frau Flegel mit einem Mann auf einer gepolsterten Küchenbank sitzen.

 

»Na, Stress mit dem Gatten?«, begrüßte ihn der Mann.

Sigmar sah Entsetzen in Frau Flegels Augen aufblitzen.

»Julian«, zischte sie, boxte ihren Mann in die Seite und stand auf. »Darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen? Er hätte Sie beinahe am Hafen abgeholt, aber dann wartete die Angel auf ihn. Er bittet im Nachhinein um Entschuldigung.«

Sigmar hatte in diesem Moment nicht das Gefühl, dass die Worte ihrer Vermieterin der Wahrheit entsprachen, ging jedoch nicht darauf ein und bat stattdessen um einen zweiten Schlüssel.

Sie griff in ihre Hosentasche. »Hier ist er. Zimmer 7. Es ist fertig.«

Sigmar wunderte sich. Wohnten sie nicht in Zimmer 8?

»Ihr Mann hat um ein extra Zimmer gebeten, wussten Sie das nicht?«

Nein, das war ihm neu. Aber er würde den beiden jetzt kein Schauspiel liefern. Er nahm den Schlüssel, bedankte sich und ging nach oben. Dort steckte er den Schlüssel in das Schloss des Nachbarzimmers und verließ das Haus. Die Haustüren waren auf Baltrum immer offen, das wusste er. So würde Ulf kein Problem damit haben, in seine neue Bleibe zu ziehen. Auf seine Sachen musste er allerdings warten, bis der Film zu Ende war.

Warm war es, fast zu warm. Hätte er nur seine kurze Hose anbehalten. Aber es war ihm unpassend erschienen, zu einer Abendveranstaltung mit nackten Beinen zu erscheinen. Als er am Spielteich vorbei ins Westdorf ging, überlegte er kurz, ob er den wunderbaren Abend nicht lieber am Strand, oder besser an der Sonnenuntergangsbude beschließen sollte. Schließlich gehörte ein Bier auf der Strandmauer, wenn die Sonne sich ins Meer verabschiedete, auch zum Baltrumer Pflichtprogramm, wie Frau Flegel ihnen beim Frühstück erklärt hatte. Er würde die Entscheidung bis nach dem Verzehr eines Fischbrötchens verschieben.

Er bestellte sich ein Matjesbrötchen in dem reetgedeckten Häuschen gegenüber von Stadtlander. »Mittendrinfisch« stand auf dem weißen Schild an der Straße. Er überlegte, ob dieser Laden dort schon immer gewesen war, war sich jedoch nicht sicher. Langsam ging er, Stück für Stück von dem leckeren Brötchen abbeißend, Richtung Strandmauer. Viele Menschen kamen ihm entgegen, braungebrannt, mit und ohne Badetaschen, die Kinder in Bollerwagen auf dem Weg zum Abendessen.

Er setzte sich auf die Strandmauer und aß den Rest des Brötchens. Verträumt schaute er auf die Buhnen, die wie Finger in die sanften Wellen ragten. Noch stand die Sonne am Himmel, und es würde bestimmt zwei weitere Stunden dauern, bis sie am Horizont verschwand. Damit war die Entscheidung gefallen. Er stand auf und ging zurück zum Marktplatz, dann weiter an der Volksbank und der großen evangelischen Kirche vorbei zum Heimatmuseum. Auch hier herrschte reges Treiben. Die Menschen gingen rein und raus. Der eine oder andere warf einen traurigen Blick zu dem Tisch, wo zwei Frauen die letzten benutzten Teller in Kisten verpackten. Der Kuchen war alle, ebenso der Likör, der am Nachbartisch verkauft worden war. Er schaute auf die Uhr. 19.30 Uhr. Er stieg die Stufen nach oben in den großen Raum. Dort wurde emsig gearbeitet. Schaukästen wurden zur Seite geschoben und Klappstühle aufgestellt.

»Sigmar, wie geht es dir?« Meta stand vor ihm und schaute ihn prüfend an. »Was hat die Polizei von dir gewollt?«

»Nichts weiter. Nur den genauen Ablauf. Wie ich ihn gefunden habe und so«, brummte er. Er hatte keine Lust, über den Nachmittag auf der Wache nachzudenken. Schon gar nicht über die Auslassungen seines Gatten. Er wollte den Abend genießen. Sonst nichts.

»Dann ist es gut. Mich hat die Polizei mit Fragen gelöchert und die Bude auf den Kopf gestellt. Danach musste ich erst einmal raus und habe mich spontan zum Aufräumen gemeldet. Ich hoffe, du bleibst auf der Insel. Es wird in dieser Woche so viel geboten.« Meta lächelte. »Wenn ich mich erinnere, warst du ein Meister im Rock’n’Roll. Also darfst du morgen den Auftritt der Emilys nicht verpassen.«

»Ich werde da sein. Versprochen.« So sicher, wie er tat, war er allerdings nicht. Was war, wenn Ulf die Insel verließ? Würde er mit ihm fahren? Schließlich waren sie gemeinsam mit dem Auto angereist. Das dürfte jedoch kein Problem sein. Wofür gab es die Deutsche Bahn?

Er zog einen Stuhl heran und setzte sich, auch wenn der Film erst in einer Viertelstunde begann.

Allmählich füllte sich der Saal, und als es 20 Uhr schlug, begrüßte ein älterer Herr die Zuhörer. »Liebe Gäste«, begann er, »unsere Woche mit dem Blick in die 70er hat wunderbar begonnen. Gleich schauen wir ein wenig weiter zurück. Doch bevor es richtig losgeht, möchte ich Ihnen eines der vielen Gedichte von Christel Sauerborn vorlesen. Sie hat unsere Insel und dabei einen ganz besonderen Mann in das Zentrum ihres künstlerischen Schaffens gesetzt. Viele von Ihnen werden ihn kennen.« Er nahm ein Blatt aus seiner Mappe und begann.

»Hört, ihr Leute, die Geschichte

von dem Herrn Direktor Fichte,

der zum Zwecke einer Kur

auf die Insel Baltrum fuhr.«

Andächtig hörte Sigmar zu. Für Herrn Direktor Fichte hätte er sich damals sicher nur interessiert, wenn er ihm im Inselkeller oder im Kiek Rin als schmucker Typ aufgefallen wäre. Aber er mochte das Gedicht. Es passte wunderbar zu diesem Abend. Als der Film begann, war er nur noch gespannt, ob er etwas wiedererkennen würde. Und tatsächlich entdeckte er das Häuschen, in dem er sein Fischbrötchen gekauft hatte. Damals war es ein Blumenladen gewesen. Vieles andere kroch in seine Erinnerungen. Stadtlander hatte damals ein völlig anderes Gesicht gehabt, und das ehemalige Reedereigebäude war nun Nationalparkhaus.

Der zweite Teil zeigte Baltrum im Winter. Er überlegte, ob es für ihn vorstellbar wäre, ganzjährig auf dieser Insel zu wohnen, oder ob es in der kalten Jahreszeit zu langweilig wäre. Nein, es könnte eine Option sein. Man musste sich nur zu beschäftigen wissen und damit leben können, dass die Fähre durchaus mal wegen ungünstiger Witterungsverhältnisse nicht fahren konnte. Da nützte es nichts, einem langgeplanten Termin am Festland hinterher zu trauern. Im krankheitsbedingten Notfall konnte ein Hubschrauber angefordert werden. Aber wirklich nur dann. Und wenn die Schneemassen so hoch waren wie im Winter 1978, dann bedurfte es größter Anstrengungen beim Räumen eines Landeplatzes für den Hubschrauber.

Das größte Problem wäre allerdings Ulf. Sigmar konnte sich seinen Mann nicht dauerhaft auf dieser Insel vorstellen. Dessen Hobbys waren Sport, Lesen, sein Schützenverein und der Braker Bridgeklub. Darauf würde er nicht verzichten wollen. Sigmar war sich sicher, dass Ulf eher auf ihn verzichten würde. Zumal jetzt, da Ulf offensichtlich davon überzeugt war, dass er mit einem Mörder zusammenlebte. Also bis vorhin. Jetzt lebte er in Zimmer 7.

Kräftiger Beifall riss ihn aus seinen Gedanken. Der Film war zu Ende. Der ältere Herr verabschiedete die Zuschauer mit freundlichen Worten. Sigmar erhob sich schwerfällig. Seine Knie mussten erst wieder ans aufrechte Stehen gewöhnt werden.

Vor dem Bummert holte er tief Luft. Es war nicht einmal ganz dunkel, also viel zu schade, jetzt bereits sein Zimmer aufzusuchen. Was also war die Alternative?