Baltrumer Dünensingen

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3

Michael Röder warf seine Dienstmütze auf den Schreibtisch und ließ sich auf den Bürostuhl fallen. Sie hatten sich alle gegen ihn verschworen. Alle. Seine Frau Sandra, sein Freund Arndt und dessen Frau Wiebke, sogar Amir, sein Heidewachtel. Selbst in den Augen des Hundes hatte er ein Leuchten gesehen, als in der Küche der Dienstwohnung zum wiederholten Male das Wort »Rock’n’Roll Tanzkurs« gefallen war. Dessen war sich der Inselpolizist ganz sicher. Das war nun drei Wochen her, und seitdem ging es jeden zweiten Abend ins Hotel Strandhof, und dort wurde abgerockt. Ohne Amir natürlich. Aber unter Einsatz seiner ganzen Kräfte. Erst gestern Abend hatte er einen kräftigen Stich unterhalb des linken Fußknöchels verspürt, als er seine Frau auf Anweisung der Tanzlehrerin angehoben und mit einer kräftigen Drehung wieder abgesetzt hatte.

Es war nicht so, dass er die Musik nicht gut fand. Im Gegenteil. Aber Tanzen war nun mal nicht seins. Kurz hatte er darüber nachgedacht, seinen Kollegen zu fragen, ob er nicht mit Sandra den Kurs besuchen könne. Das war ihm dann allerdings etwas albern erschienen. Außerdem hätte Sandra das nicht mitgemacht. Oder noch schlimmer, sie hätte begeistert zugesagt und wäre mit Daniel losgezogen. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Noch eine Woche, dann war es geschafft.

»Hallo, Michael. Nicht einschlafen.«

Röder zuckte zusammen. Er hatte nicht mitbekommen, dass sein Kollege, der seit einigen Tagen Dienst auf der Insel machte, zurück war.

»Na, warst du erfolgreich?«, fragte er ihn.

»War ich. Die Baltrum I legte an, und fünf Mädels mit E-Scootern kamen von Bord. Sie verteilten kleine Fläschchen Jägermeister, nahmen jeder einen kräftigen Schluck und …«

»… warfen die leeren Flaschen ins Wasser!«, fuhr der Inselpolizist fort.

»Nein, das nicht. Sie haben das Leergut in eine Tasche gesteckt, die offensichtlich schon recht gut gefüllt war. Dann allerdings musste ich sie daran hindern loszufahren, was bei den kräftig geschminkten jungen Damen für reichlich Ärger sorgte. Ich konnte sie jedoch davon überzeugen, dass der Gebrauch der Dinger hier verboten ist.«

»Junggesellinnenabschied?« Röder war heilfroh, dass dieser Einsatz an ihm vorbeigegangen war. Die Stimmung konnte nämlich ganz schnell ins Gegenteil umschlagen, wenn man die Herrschaften auf Recht und Ordnung hinwies. »Normalerweise fahren die doch nach Norderney.«

Daniel lachte. »Die wollten nur ein ganz klein wenig feiern. Das erwähnte die Frau, die wohl die zukünftige Gattin war. Sie trug rosa Öhrchen, eine buntbedruckte Küchenschürze und einen Bikini darunter.«

»Woher weißt du …?«

»Keine Sorge. Ich habe keine Ganzkörperkontrolle durchgeführt. Eine Bö hob den Kittel, und so war der Bikini im Blick.«

»Wie habt ihr euch geeinigt?«, fragte Röder.

»Die Scooter warten nun auf dem Schiff auf die Rückkehr der Mädels. Und eben die habe ich zuletzt laut singend, Arm in Arm, mit einem weiteren Schnäpschen in der Hand auf der Hafenstraße gesehen«, berichtete Daniel.

»Dann hoffen wir mal das Beste. Liegt bei dir sonst etwas an?«

»Nein. Eigentlich nicht. Bis darauf, dass Meta Paulsen sich gemeldet hat. Jemand hat Pferdeäpfel an ihrer Fensterscheibe verschmiert.« Daniel Gebert zog einen Kaugummistreifen aus einer kleinen Plastikdose, die auf dem Schreibtisch lag, und schob ihn sich in den Mund.

Michael Röder schüttelte sich innerlich. Beinahe hätte er dieses Döschen heute Morgen bereits entsorgt, wusste jedoch genau, dass das nichts nützte. Daniel hätte seinen Vorrat in Kürze wieder bereitgelegt. Er konnte nicht verhindern, dass sich sein Gesicht verzog. Kaugummi hasste er, solange er denken konnte. Nein, nicht solange er denken konnte, sondern seit dem Tag, als er als Kind nichtsahnend in einen dicken Klumpen, der auf der Straße lag, hineingetreten war und verzweifelt versucht hatte, die klebrige Masse abzupulen. Letztendlich hatte seine Mutter die Reste mit dem Küchenmesser von der Sohle geschabt.

Daniel schaute ihn freundlich an, aus seinem Mund drang leichtes Schmatzen, als er bestätigte: »Ja, ich weiß. Pferdeäpfel sind ekelig. Es war sicher einer dieser Kinderscherze. Soll ich hinfahren?«

Sein Kollege hatte offensichtlich die Situation ein wenig falsch verstanden. Nicht die Pferdeäpfel waren der Grund für seinen Ekel gewesen. Irgendwann bald würde er mit seinem Kollegen darüber sprechen.

»Mach das. Wer weiß, ob nicht etwas anderes dahintersteckt. Wenn sie sich schon bei uns meldet, kümmern wir uns«, erwiderte Röder.

»Galerie Eiland, richtig?«

»Genau. Meta Paulsen betreibt die Galerie, und dann ist da ihre Schwester Änne Paulsen. Die kümmert sich mehr um das Haus, wenn ich richtig informiert bin. Zwei nette ältere Damen.«

»Ich bin schon unterwegs.«

Ein feiner Kerl. Röder war froh, ihn bei sich zu haben. Trotz der blöden Angewohnheit mit dem Kaugummi. Von April bis Oktober musste sich der Inselpolizist alle paar Wochen an neue Gesichter gewöhnen. Es war klar, dass es unter seinen Kollegen, die ihn in der Saison unterstützten, nicht nur Sympathieträger gab. Aber wenn er zurückdachte, hatte er Glück gehabt. Beinahe alle hatten sich schnell an die Inselgegebenheiten gewöhnt und, er erinnerte sich gern, kein Problem damit gehabt, sich um die Reparatur der Diensträder zu kümmern. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Aber immerhin. Er hatte so gar kein Händchen dafür. Er liebte seine Arbeit. Meistens war es ruhig. Nur einmal im Jahr passierte etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit und die seiner Kollegen verlangte. Da hatten die Kommissare am Festland mehr Unruhe. Wobei er wieder mitten im Thema war. Sein bester Freund, Hauptkommissar Arndt Kleemann aus Aurich, würde am Wochenende mit seiner Frau auf die Insel kommen, um, wie er sagte, richtig abzutanzen. Natürlich ging kein Weg daran vorbei, sich dieser Idee anzuschließen. Das hatte zumindest Sandra festgestellt. Röder war sich nicht ganz klar, ob er bereit war, seinem Freund zu verzeihen, aber es nützte nichts. Sein Umfeld wollte es so, und er kam da nicht raus. Dabei wäre er so gerne ans Festland gefahren, denn er hatte ein neues Hobby für sich entdeckt: seine Vespa. Ein warmes Gefühl durchlief ihn. Er hatte den Roller vor zwei Wochen bei eBay gefunden, als er auf der Suche nach einer Harley, dem Traum seiner Jugendzeit, war, und sich sofort verliebt. Am nächsten Tag war er mit dem Bus nach Norden gefahren, hatte sich die Maschine angesehen und mit Erlaubnis des Besitzers eine Probefahrt gemacht. Ohne lange zu überlegen, hatte er sie gekauft. Keinen Gedanken verschwendete er mehr daran, mit einem Affenzahn die Harzer Bergwelt aufzumischen, nie wissend, was hinter der nächsten Kurve auf ihn wartete. Stattdessen hatte er sich fest vorgenommen, auf der Primavera mit elf PS erst einmal Ostfriesland in Ruhe zu erkunden. Doch mit einem freien Tag hatte es bisher nicht funktioniert. So stand die Vespa in Neßmersiel in der Garage und wartete dringend auf Bewegung.

Aber jetzt gab es anderes zu tun. Sein Chef, Müller, hatte ihn gebeten, nach einem jungen Mann zu schauen, der am Festland ein paar Brände gelegt hatte und eventuell auf Baltrum seit einiger Zeit untergetaucht war. Die Daten waren gerade hereingekommen.

4

Peter Wurzellage. Meta Paulsen lächelte. Diesen Namen würde sie sich nicht einmal als Künstlername zulegen. Es war 10 Uhr, also an der Zeit, die Ladentür zu öffnen. Wenn nicht jetzt, wann dann, waren Gäste auf der Insel, die ihre Galerie mit den monatlich wechselnden Ausstellungen zu schätzen wussten. Seit einer Woche war es eben Peter Wurzellage aus Brake, der seine Bilder zeigen durfte. Ihr gefielen seine Landschaftsbilder, Aquarelle vom Meer, von der Weser und der Seenlandschaft Mecklenburg-Vorpommerns. Sonst hätte sie ihm auch nie den Platz in ihren Räumen zur Verfügung gestellt. Das Geschäft lief gut. Die Bilder waren erschwinglich, und sie bekam grundsätzlich 20 Prozent des Verkaufspreises ab. So war es geregelt. Wenn die Künstler nicht einverstanden waren, war eben nichts zu machen. Dann mussten sie sich einen anderen Ausstellungsort suchen. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, stand schon ein Gast neben ihr und grüßte sie freundlich.

»Darf ich mich umsehen?«

»Natürlich. Dafür sind die Bilder hier«, erwiderte sie. Sie wunderte sich, dass Wurzellage noch nicht aufgetaucht war. Sie hatte ihn gebeten, heute im Laden zu sein, da sie in das Fest des Heimatvereins eingebunden war. Ebenso wie ihre Schwester Änne. Sie hatte sich für den Kuchenstand entschieden.

»Lebt der Künstler noch?«, fragte der Gast.

Sie nickte. »Ja. Herr Wurzellage aus Brake. Da kommt er auch schon.« Sie sah mit Erstaunen, dass der Mann mit dem Schlapphut und der blauen Lederjacke knapp lächelte, als er in die Galerie trat. So schön seine Bilder auch waren, meistens erlebte sie ihn in sich gekehrt, bisweilen sogar missmutig. Daher hatte sie auch eine Weile überlegt, ob sie ihn bitten sollte, auf den Laden aufzupassen, aber es war ihr als die beste Lösung erschienen. Auch wenn das Lächeln aus dem Gesicht des Mannes bereits wieder verschwunden war und sich die Falten des Missmuts über seine Augen gelegt hatten.

»Hallo, Herr Wurzellage. Sie können Ihre Jacke ins Büro bringen. Ich gehe mal und lasse Sie mit dem Herrn hier allein. Bis Ladenschluss bin ich zurück.« Sie wartete kaum die Antwort ab, dann hastete sie in die Wohnung und begann, sich umzukleiden. Aus dem Augenwinkel sah sie Änne, die bereits den dunkelblauen langen Rock, die weiße Spitzenbluse und die beige Schürze trug. Dazu eine weiße Haube. Ob dies eine original ostfriesische Tracht war, wusste sie eigentlich nicht genau. Änne hatte sie nach Bildern aus dem Internet genäht, und Meta fand sie wunderschön. Sie selbst trug die Tracht, die die Frauen der Baltrumer Gitarrengruppe bei ihren Auftritten getragen hatten, bevor sie sich im Jahr 2010 aufgelöst hatten. Es gab damals keinen Nachwuchs mehr, und auch der Musikgeschmack veränderte sich. Sie wusste, dass die Tracht passte, denn hin und wieder hatte sie die Sachen aus dem Schrank geholt und angezogen. Dann hatte sie ihre Gitarre genommen, sich an einsamen Winterabenden ins Wohnzimmer gesetzt und die alten Lieder gespielt. Änne hatte dabeigesessen und genäht und gestickt. Ihr Lieblingsmotiv auf Kissenbezügen war die Dünenlandschaft.

 

»Bist du fertig?«, hörte sie die helle Stimme ihrer Schwester aus dem Wohnzimmer.

»Einen Moment. Ich muss die Gitarre holen und meine Tasche packen.« Sie hatte über Jahre Fotos von den Bildern gemacht, die bei ihr ausgestellt waren. Natürlich hatte sie die Motive ausgewählt, die die Nordsee in all ihren Facetten zeigten. Darauf hatte sie bei ihrer Auswahl Wert gelegt. Sie hatte mit Erlaubnis der Künstler Postkarten anfertigen lassen, die sie nun verkaufen wollte.

Ob sie Wurzellage wirklich allein lassen konnte? Noch immer saß ihr der Ärger über die verschmierte Scheibe ein wenig im Nacken. Sie hatte dem Polizisten erzählt, dass es nicht das erste Mal war, dass sie Pferdemist abkratzen musste. Schon zwei Tage zuvor hatte sie dunkelbraune Streifen auf der Eingangstür festgestellt. War es wirklich ein verunglückter Kinderstreich, wie der Polizist vermutete? Aber was sollte sonst dahinterstecken? Sie hatte keine Ahnung. Sie und Änne kamen mit den Insulanern gut aus. Wer sollte etwas gegen sie haben? Nein, es würde gutgehen. Jetzt wartete das Fest beim Heimatverein. Sie stellte die Tasche in den Korb auf dem Gepäckträger ihres Rades.

»Pass auf, dass der Rock nicht in die Speichen gerät«, rief ihre Schwester, als sie losfuhren.

Es war schon ordentlich etwas los bei dem Bummert, dem alten ostfriesischen Doppelhaus, in dem der Heimatverein seine Ausstellung zeigte.

»Gut seht ihr aus.« Karola Meinert, die erste Vorsitzende, schaute die Schwestern freundlich an.

Meta meinte sogar, Bewunderung in deren Augen zu sehen.

»Du, Meta, kannst dich zu Herbert stellen, Änne, der Kuchenverkauf ist draußen. Das Wetter soll halten. Sonnig, aber nicht zu heiß. Wenn ihr Hilfe braucht, meldet euch. Ich muss drinnen nachsehen, ob die Ausstellung im Obergeschoss fertig ist.« Karola verschwand im Gebäude.

Meta atmete tief aus. Die Frau hatte eine Energie, das war unglaublich. Sie hatten vor vier Tagen die letzte von vielen Sitzungen gehabt, da Karola ständig etwas eingefallen war, was verbessert werden konnte. Die Ausstellung zu den 70ern hatte da längst gestanden, wäre auch sonst zeitlich ein wenig schwierig geworden. Sie hatten viele Themen zusammengetragen. Zum Beispiel gab es damals die Butterfahrten. Die Gäste fuhren mit Schiffen wie der Nordstern raus bis drei Meilen vor die Küste, und dann wurde eingekauft. Dänische Butterkekse, Kirschlikör, Zigaretten, Parfüm und vieles andere waren begehrte Objekte beim zollfreien Einkauf gewesen. Bis zum Jahr 1999 war dieser beliebte Ausflug fester Bestandteil des Urlaubs, dann änderte sich die Gesetzeslage.

Meta folgte Karola und sah, dass Herbert ihr zuwinkte. »Wir sind im hinteren Raum.«

Na gut, dann eben hinten. Sie wäre lieber draußen geblieben. Hier würden sich bestimmt nicht ganz so viele Besucher einfinden. Aber vielleicht hatten sie Glück. Herbert packte seine Tasche aus und verteilte Bernstein in allen Größen auf dem Tisch. Er war dafür bekannt, ein Auge für diese Millionen Jahre alten Fundstücke aus dem Meer zu haben. Wie einige andere Insulaner ebenfalls. Sie selbst konnte Stunden am Strand entlanglaufen und würde nicht einen Krümel finden. Sie legte ihre Karten dazu, voller Erwartung, wie der heutige Tag verlaufen würde.

»Ich bin gespannt auf die Gitarrengruppe«, sagte Herbert vergnügt und stellte eine kleine Kasse auf den Tisch.

»Das wird bestimmt gut. Ich singe natürlich mit. Schließlich war ich damals eines der jüngsten Mitglieder. Würdest du, wenn ich weg bin, auf meine Karten aufpassen?«

»Mache ich gerne. Was kosten sie?«

»Ein Euro das Stück. Ein Teil davon geht als Spende an den Heimatverein«, erklärte sie. Musste der Mann sie an ihren Auftritt erinnern? Bis jetzt hatte sie den Gedanken daran weit nach hinten geschoben. Immerhin war es ihr erster öffentlicher Auftritt mit Gesang seit mehr als 20 Jahren und es würde wohl auch ihr letzter bleiben. So hoffte sie zumindest. Sie hatte bei einer Vorstandssitzung die Idee vorgetragen, ob man nicht an die Erfolge der Gruppe – wie hieß es damals immer so schön? – junger Frauen und Mädchen erinnern sollte, die regelmäßig mit deutschem Liedgut die Gäste erfreute. Der Vorschlag war bestens angekommen. Es hatten sich einige Frauen, die das Gitarrenspiel beherrschten und auch singen konnten, bereit erklärt für einen Auftritt. Außer ihr waren zwei ehemalige Sängerinnen dabei. Sie hatten sich alte Musikkassetten angehört, die schönsten Lieder ausgesucht und einstudiert. Sogar ein paar Trachten waren aufgetaucht. So würde es hoffentlich ein schönes Bild abgeben, wenn sie vor dem Bummert standen und das Baltrumlied sangen.

»Auch ich werde einen Teil meiner Einnahmen spenden. Ich hoffe, es kommt ordentlich etwas zusammen«, holte Herbert sie aus ihren Überlegungen.

»Natürlich. Bernstein ist gefragt.« Sie sah, wie Herbert eine Dose öffnete und mehrere Ketten herausnahm. »Hat deine Frau die gemacht?«

»Ja. Es gelingt ihr immer besser.« Liebevoll legte er die Ketten nebeneinander ganz vorne auf den Tisch. Dann öffnete er eine Dose mit silbernen Ringen. Auch sie trugen jeweils einen dicken gelben Stein.

Es dauerte nicht lange, da standen bereits einige Gäste vor ihnen. Herbert verwickelte einen älteren Mann in ein intensives Gespräch, in dem er ihm versicherte, dass der Kauf eines Steines reines Glück mit sich brächte. Er redete und redete, sodass der Mann mit den grauen Haaren keine Chance hatte, zu Wort zu kommen. Hoffentlich geht das nicht die ganze Zeit so, wünschte Meta sich aus tiefster Seele und stellte fest, dass der Auftritt mit den anderen Sängerinnen allmählich seinen Schrecken verlor. Im Gegenteil, sie freute sich darauf, endlich auch den Mund aufmachen zu dürfen.

»Ich nehme von jedem Motiv eine.«

Erstaunt blickte Meta die Frau an, die zügig auf den Stand zugeeilt war. Immerhin hatte sie 35 verschiedene Motive anzubieten. Aber sie widersprach nicht, sondern nahm je eine Karte und reichte sie der Frau. »35 Euro bekomme ich bitte.«

Die Frau zog ihre Geldbörse aus der Tasche, legte das Geld auf den Tisch und steckte die Karten ein. So schnell, wie sie erschienen war, verschwand sie wieder.

So konnte es weitergehen. Dann wäre sie bis mittags mit dem Verkauf der Karten durch.

5

Sigmar Benedikt genoss den Tag. Gerade erst hatte er sich von seinen neuen Bekannten verabschiedet, nachdem sie jede Menge Erinnerungen ausgetauscht hatten. Wobei Hans und Marga natürlich die Entwicklung des Lebens auf der Insel genau begleitet hatten. Sie hatten nicht ein Urlaubsjahr ausgelassen, nachdem sie Anfang der 70er das erste Mal hier gewesen waren. Die beiden kannten jeden Strauch und jeden Stein. Keine Familiengeschichte war ihnen fremd, und sie erzählten gerne. Sigmar musste innerlich lachen, als er am Schwimmbad vorbeikam.

Hans und Marga waren damals zum Nacktbaden ins Wellenbad gegangen. »Die Vorhänge wurden zugezogen vor den großen Fenstern«, beschrieben sie. »Da war immer gut was los.«

Die Zeiten waren vorbei. Aber das störte ihn nicht. Schwimmen war nicht seine Leidenschaft, ob nun mit Badehose oder ohne. Ganz im Gegensatz zu Ulf. Der hatte sich nur kurz im Strandcafé aufgehalten, dann seine Tasche genommen und war zum Strand gegangen. Sigmar war schnell klar gewesen, dass sich Ulf für die Erinnerungen aus früheren Zeiten nicht interessierte. Warum auch? Für ihn war die Insel Neuland. Es hatte sowieso größerer Überredungskunst seinerseits bedurft, Ulf mit auf die Insel zu bekommen. Aber letztendlich hatte er eingewilligt unter der Voraussetzung, dass er sich nicht ständig alte Geschichten anhören musste.

In Höhe des Hotels Seehof kam ihm Bernd, der Dritte im Bunde, entgegen. Auch er war der Runde ferngeblieben. Er begrüßte ihn freundlich, aber Bernd nickte nur kurz und ging weiter. Marga hatte erzählt, dass Bernd morgens immer etwas verschlafen auftrat, wobei Sigmar feststellte, dass es eigentlich bereits Mittag war. Er beschleunigte seine Schritte. Er musste sich ein wenig beeilen, wenn er den Auftritt der Gitarrengruppe miterleben wollte.

Tatsächlich hörte er bereits fröhlichen Gesang, als er das Heimatmuseum erreichte. Wie gut, dass Ulf nicht bei ihm war. Das wäre gar nichts für seinen Mann gewesen. Er holte sich ein Bier und setzte sich ins Gras. Die Gedanken sind frei. Waren sie das wirklich? Durfte man ihnen erlauben, frei zu sein? Was würde dann passieren? Dass sich zum Beispiel der Gedanke den Weg bahnte, ob er mit Ulf den Rest seines Lebens verbringen wollte. Nicht, dass er ihn nicht liebte. Aber er hatte in letzter Zeit immer häufiger das Gefühl, dass Ulf von ihm genervt war. Die Pflege des Terrariums, die Spaziergänge auf Harriersand, der Insel in der Weser, die Theaterbesuche in Bremen, all das, was ihnen einmal Spaß gemacht hatte, begleitete Ulf inzwischen mit einem müden Lächeln. Er hatte sich bis jetzt nicht getraut zu fragen, was Ulf am gemeinsamen Leben störte. Aber spätestens, wenn sie wieder zu Hause waren, dann … Er nahm es sich fest vor.

Unter kräftigem Beifall verneigten sich die Damen. War das schon das Ende? Nein.

Eine der Sängerinnen blickte freundlich in die Runde. »Meine Damen und Herren, danke für den Applaus. Zum Abschluss möchten wir ein Lied vortragen, das die Gitarrengruppe nie gesungen hat, obwohl es 1977 ein großer Erfolg war. Nämlich Himbeereis zum Frühstück von Hoffmann&Hoffmann. Gerne hätten wir einen Elvis-Song eingeübt, aber das haben wir uns auf die Schnelle nicht getraut. Außerdem werden Sie in den nächsten Tagen mehr von diesem begnadeten Sänger hören. Denn morgen treten die Emilys im Haus des Gastes auf. Und am Donnerstag um 18 Uhr treffen wir uns alle zum Singen im Dünental bei der Katholischen Kirche. Dass mir keiner fehlt! Und wenn Sie bis dahin nichts vorhaben, dann schauen Sie sich heute Abend bei uns den Film Baltrum in alten Zeiten an. Sie werden staunen, wie sehr sich das Leben auf der Insel in den letzten Jahren verändert hat.« Schon setzten die Gitarren ein.

Sigmar blieb sitzen, bis das Lied zu Ende war, trank den Rest Bier und beschloss, den Ausstellungsräumen einen Besuch abzustatten.

»Sigmar? Bist du das?«

Vor ihm stand eine der Sängerinnen. Es dauerte ein paar wackelige Momente, bis er aufrecht stand. Seine Beine weigerten sich, die gemütliche Ruheposition aufzugeben. Aufmerksam schaute er die Frau an, dann lächelte er. »Inselkeller?«

»Genau. Meta. Ich habe damals hinter der Theke gestanden und euch mit Bier versorgt. Dich und unseren DJ Freddy. Und das den ganzen Sommer lang.«

Langsam kam die Erinnerung. Aber konnte es wirklich sein, dass das blonde schlanke Mädchen mit dem Dauerlachen im Gesicht jetzt hier als ältere Dame mit in Tracht gehülltem kräftig gebautem Körper vor ihm stand? Schmerzhaft erkannte er, dass auch an ihm 40 Jahre nicht spurlos vorübergegangen waren. Damals hatte er beim Kauf einer Hose nicht nach Größe 56 fragen müssen.

»Aber wieso weißt du nach so langer Zeit meinen Namen?«, fragte er verblüfft. »Und dass du mich wiedererkannt hast, finde ich auch bemerkenswert.«

»Na, immerhin hast du mich auch gleich in den Inselkeller verortet. Ich denke, es ist deine blonde Locke. Ich habe später nie wieder einen Menschen gesehen, dem eine blonde Locke fast bis in die Augen fällt. Heute wie damals.«

Klar. Die Locke war sein Markenzeichen. Er war genaugenommen sogar ziemlich stolz darauf. Ulf hatte einige Male schon vorgeschlagen, sie abzuschneiden. Aber er hatte sich strikt geweigert.

»Außerdem habe ich in den ganzen Jahren, glaub es oder nicht, kaum jemanden getroffen, der Sigmar heißt. Ein seltener Name.«

Das war ihm nie aufgefallen, aber sie mochte wohl recht haben. »Was machst du, wenn du nicht gerade singst? Vermietest du?«

»Ich betreibe die Galerie Eiland. Schau mal rein. Der Künstler, den ich momentan ausstelle, ist im Laden. Meine Schwester Änne, an die du dich vielleicht auch erinnerst, betreibt das Haus. Wo wohnst du?«

»Bei Flegels im Haus Emma. Mein Mann und ich bleiben eine Woche«, erklärte er.

 

»Dann sehen wir uns bestimmt. Ich muss zurück zu meinem Stand.«

Ehe er etwas fragen konnte, war Meta verschwunden. Er brachte sein Glas zurück und schlenderte durch die Ausstellung.

Immer wieder blieb er stehen, wenn bei dem Anblick der Exponate Erinnerungen wach wurden. Er musste unbedingt in Erfahrung bringen, ob Freddy auf der Insel geblieben war. Aber das würde er schon herausfinden.

Er verließ den Bummert. Das Wetter zeigte sich an diesem Tag von seiner besten Seite. Ein kleiner Spaziergang würde jetzt guttun. Er ging am Nationalparkhaus vorbei und hinter dem Restaurant Witthus wieder ins Dorf. Da waren die Inselglocke und gleich daneben die alte Kirche. Nur die Feuerwehr schien den Standort gewechselt zu haben. Das Haus neben der Kirche hieß jetzt Alte Schule. Er folgte der Straße, wich einem Pferdewagen aus und bog mal links und mal rechts ab. Dann sah er hinter einer großen Schaufensterscheibe mehrere Bilder. Ob das Metas Galerie war? Ein Bild fiel ihm besonders auf. Es erinnerte ihn an den Blick, den er erst vor ein paar Wochen wieder erlebt hatte, als er mit Ulf an den Weserdeich gefahren war. Damals war Ulf sogar gerne mitgekommen. Er öffnete die Tür und grüßte mit einem freundlichen »Moin«. Doch eine Antwort blieb aus.

Er schaute sich die anderen Bilder an. Es waren überwiegend Aquarelle, aber auch einige Kohlezeichnungen, die ihm jedoch ziemlich nichtssagend erschienen. Nach ein paar Minuten hatte er alles gesehen und überlegte, ob er einfach wieder gehen und den Laden allein lassen konnte. Aber letztendlich ging es ihn nichts an, wenn der Künstler meinte, mal eben auf ein Mittagessen zu verschwinden. Oder war er unterwegs, um einen Besen zu holen? Mitten im Raum lagen Pappröhrchen und drumherum war der Boden mit schwarzem Staub bedeckt. Ein weiteres Mal machte er sich bemerkbar, doch vergebens. Er warf einen letzten Blick auf das Bild mit dem Blick über die Weser. Ulf hatte in drei Wochen Geburtstag. Er konnte sich gut vorstellen, das Bild als Geschenk über der Anrichte im Esszimmer aufzuhängen. Gab es eine Signatur? Er schaute genauer und erstarrte. Ausgerechnet Peter Wurzellage? Dieser vollblöde Idiot, mit dem er vor einiger Zeit heftig aneinandergeraten war? Der Mann, der sich selbst als den besten Künstler der Gegenwart bezeichnete? Der Mann wohnte in Brake, dem gleichen Ort, in dem auch Ulf und er lebten. Er, Sigmar, hatte bis zur Rente bei der Stadtverwaltung gearbeitet. Eines Tages war Wurzellage dort mit wehendem Mantel, ohne zu klopfen, in sein Büro gerauscht und hatte sich beschwert, dass man seinem Auto einen Strafzettel unter die Scheibenwischer geklemmt hatte. Sigmar wusste mit der Situation nichts anzufangen, war er doch beim Einwohnermeldeamt beschäftigt. Das war Wurzellage jedoch völlig egal. Der Mann hatte einfach die erste Tür im Rathausflur geöffnet, und das war dummerweise seine gewesen. Wurzellage baute sich vor dem Schreibtisch auf und hielt eine flammende Rede über die Freiheit der Kunst und die Beugung des Rechts. Er bestand darauf, dass genau dort, wo er sein Fahrzeug abgestellt hatte, nirgendwo ein Hinweisschild auf ein Park- oder Halteverbot hinwies. Er wetterte so lange, bis Sigmar einen Anruf tätigte und zwei seiner Kollegen erschienen, die sich mit solchen Fällen auskannten. Sie hatten den Mann ohne große Umstände vor die Tür gesetzt. Beim Abendessen mit Ulf hatte Sigmar erst einmal seinen Ärger rausgelassen. Es geschah immer häufiger, dass er sich Konfrontationen ausgesetzt sah und hatte kaum sein Leben als Rentner erwarten können. Er war froh, als er endlich morgens nicht mehr ins Büro fahren musste. Der Name Wurzellage verfolgte ihn jedoch immer wieder, brachte die Heimatzeitung doch gerne Berichte über ihn. Mal positiv, meist negativ. Besonders, wenn er wieder einmal zig Fotos von Nummernschildern bei der Polizei abgegeben hatte, um Falschparker anzuzeigen. Dieses Hobby hatte er sich offensichtlich ausgesucht, nachdem er selbst bei dieser von ihm bestrittenen Ordnungswidrigkeit erwischt worden war. Aber das war Geschichte. Das Aquarell gefiel ihm trotzdem. Ein letzter Versuch. Im hinteren Teil des Ladens bemerkte er eine halbgeöffnete Tür. Ob sich der Künstler dort verschanzt hatte?

Vorsichtig schob er die Tür auf. Er erkannte ihn sofort. Es war Wurzellage, der in dem Bürosessel saß, nein, eher lag, den Kopf nach hinten geklappt und mit offenen Augen an die Decke starrend. Was war mit dem Mann los? »Herr Wurzellage, hören Sie mich?« Er reagierte nicht. Er ging zu ihm, sprach ihn eindringlich ein weiteres Mal an und griff nach seinem Arm. Im gleichen Moment kippte der Kopf des Mannes nach vorne und der Körper rutschte, ohne dass Sigmar ihn halten konnte, vom Sessel. Mit einem hellen Knacken schlug das Gesicht auf den Fußboden.

Sigmar kniete sich neben ihn, fühlte, ob die Halsschlagader pulsierte, doch er spürte nichts. Aufgeregt wollte er nach seinem Telefon greifen, doch schnell merkte er, dass er es nicht eingesteckt hatte. In der kurzen Sommerhose war für das Teil einfach kein Platz gewesen. Er blickte sich um und tatsächlich sah er auf dem Schreibtisch ein ganz altertümliches grünliches Gerät mit Wählscheibe stehen. Er griff nach dem Hörer und wählte die 112, doch es erfolgte keine Reaktion. Das Einzige, was er hörte, war, dass die Ladentür schlug. Er warf den Hörer zurück auf den Schreibtisch mit der Folge, dass das Telefon mit lautem Scheppern auf den Boden fiel. Er kniete sich erneut neben Wurzellage und versuchte, seinen Puls zu ertasten.

»Helfen Sie mir«, rief er angespannt, »hier ist ein Notfall!«

»Sigmar?« Ulf stand vor ihm, das Gesicht schlagartig weiß und angespannt.

»Ruf den Notdienst«, stieß Sigmar hervor.

Nervös zog Ulf sein Handy aus der Hosentasche und gab die Meldung durch, dann steckte er es mit zitternden Fingern wieder ein. »Die Ärztin kommt.« Er zögerte einen kurzen Moment, dann fragte er: »Hast du mir nichts zu sagen? Das ist doch dein Lieblingsfeind da unten.«

»Er saß auf dem Stuhl, dann ist er runtergerutscht.«

»Aber warum? Hast du dafür gesorgt, dass …?«

»Aber …« Er kam nicht dazu zu antworten, denn wieder öffnete sich die Tür, und gleich darauf stand ein Polizist im Raum.

»Was ist hier los?« Seine Stimme klang scharf. »Treten Sie zurück!«

Sigmar stolperte beinahe über das Telefon, als er der Anweisung des Polizisten Folge leistete. »Es ist nicht so, wie Sie denken«, stotterte er.

»Ich glaube nicht, dass Sie wissen, was ich denke«, antwortete der Polizist nachdrücklich. »Die Ärztin und mein Kollege werden gleich hier sein. Solange bleiben Sie stehen, wo Sie sind. Beide.«

Sigmar merkte eine kolossale Wut in sich aufsteigen. Wieso war er immer der Blödmann? Selbst jetzt, da Wurzellage tot war, wenn er denn tot war – er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, es genau festzustellen – gab es andere, die meinten, über ihn bestimmen zu können. »Wenn die Ärztin kommt, ist es gut. Dann kann ich gehen. Lassen Sie mich durch.«

»Sie bleiben, wo Sie sind. Wenn Sie das nicht verstehen, fixiere ich Sie auch gerne am Tischbein. Sie haben die Wahl!«

Was bildete sich dieser Kerl ein? Wie hieß der Kaugummi kauende Jungspund eigentlich? Er hätte sich zumindest mal vorstellen können. »Zeigen Sie mir bitte Ihren Dienstausweis!«

Der Polizist kam der Aufforderung sofort nach. »Daniel Gebert«, las Sigmar. Na gut. Wenigstens wusste er jetzt, wie er den Mann ansprechen konnte.

»Wie sind Ihre Namen?« Der Polizist nahm sein Handy aus der Tasche.

»Sigmar Benedikt. Und das ist mein Mann Ulf Martens.«

»Kennen Sie den Mann dort?« Gebert zeigte auf Wurzellage.