Einstürzende Gedankengänge

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Aus der Reihe: Mord und Nachschlag
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10

»Aber ich weiß von nichts!«

Es bleibt dir nichts andres übrig, als dich wieder in diesem schauerlich kargen Bürozimmer, oder muss man sagen: Behandlungszimmer auf die knüttelharte Couch zu legen.

»Das heißt«, schließt die Wernigge messerscharf und blitzgescheit, »Sie fühlen sich ganz grundlegend verunsichert? In allen Sachen, die Sie so anpacken.«

»Nein, ganz konkret.«

Verflucht und zugenäht. Versuch sich doch mal einer, in diese Lage hineinzuversetzen! Du bist an einem Fall dran, wo erst eine Mutter total grausam ihr Kind und ein paar Tage später irgendwer diese Mutter umbringt, kaum weniger grausam. Und dann darfst du feststellen, dass die Frau mit deinen, mit deinen eigenen Handschellen ... das muss man sich mal reintun!

»Ich weiß nur eins, ich hab die Frau nicht umgebracht und auch nicht gefesselt. Schon gar nicht erschlagen! Im Leben nicht! Kann ich überhaupt nicht, würde ich nie bringen.« Aber dann schiebst du doch viel kleinlauter, als du wolltest, hinterher: »Jedenfalls weiß ich nichts davon. Überhaupt nichts.«

»Haben Sie denn ein Alibi für die fragliche Zeit?«

Ein Königreich für eine wenigstens einigermaßen schlaue Therapeutin mit wenigstens einigermaßen schlauen Fragen! »Nein.«

Du weißt, wenn du ehrlich bist, ja selbst nicht mal, wo du zur Tatzeit warst.

»Wo waren Sie denn da?«

»Ich weiß nur, dass das über die Bühne gegangen sein muss ungefähr, ungefähr eine Stunde vor meinem Beratungstermin hier bei Ihnen. Aber wo ich in der Zeit war, Sie können mich totschlagen ...«

»Das hab ich nicht vor.«

Hach, wie witzig. Madame Wernigge belieben zu scherzen. Als du aber nicht mitlachst, schluckt sie ihr Giggeln runter und kommt gleich wieder zu scharfen Schlüssen. »Wir haben’s also da mit einer von diesen Zeitlücken zu tun, von denen Sie bei unserer letzten Sitzung gesprochen haben.«

»Ich weiß es nicht.« Du weißt es einfach nicht.

»Das heißt, Sie haben den Verdacht, Sie könnten selbst der Mörder sein, den Sie jagen.«

»Ich weiß es nicht, verflucht noch mal!« Soll dir mal einer verübeln, dass du jetzt endgültig aus der Haut fährst, dass du brüllst, bis an der Wand die zwei jämmerlichen Fotos von irgendeiner Eifeldatscha oder was wackeln. »Das ist doch der Wahnsinn. Die Indizien sprechen ’ne ziemlich klare Sprache, und in jedem andern Fall würden Sie sich die Finger lecken nach so einer deutlichen Spur, aber hier ... ich sag ja, das ist Terror. Wenn Sie wüssten, was im Moment für ’n Rodeo abgeht in meinem Kopf!« Und am Ende deiner Einlassung ist aus dem Löwenbrüllen längst das Maunzen eines epileptischen Katers geworden.

»Dass die Indizienlage sich auf Sie fokussiert«, die Wernigge ist die Ruhe selbst, »das macht Sie so fertig?«

»Nach dem Motto: ›teilnehmendes Verstehen‹, oder wie? Typisch Psychotante!«

»Nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung, wie?«, kommt die Retourkutsche. »Aber zurück zur Mordsache Engelsberg: Gäbe es denn irgendein Motiv?«

»Ich war natürlich entsetzt, total entsetzt. Der Tod des kleinen Jungen in diesem Kellerverschlag, das hat mich umgehauen wie selten ein Fall. Aber ist das ein Motiv für einen Mord?«

»›Umgehauen wie selten ein Fall‹, mhm«, meditiert die Guteste, »versetzen Sie sich noch mal zurück in die Situation, als Sie im Keller vor dem toten Kind standen!«

»Nein, bloß nicht. Nein!« Dir steht sofort der Schweiß auf der Stirn. Wer zum Teufel will denn ständig an so was erinnert werden?

»Könnte es sein, dass da ein kindliches Trauma bei Ihnen selbst im Untergrund rumort?«

Das reicht jetzt wieder! »Mir geht das auf den Sack hier, dieses Seelsorgergeseiche!«, brüllst du und hievst dich hoch aus der bekloppten Hilflosigkeitsposition auf dieser Knochenkur-Couch. Jetzt weißt du jedenfalls definitiv und unumstößlich, weshalb du so was nie gewollt hast, so Therapien und so ’n Bohei.

»Sie bleiben bitte liegen«, raunzt sie dich an, »unsere Sitzung ist noch nicht zu Ende. Aber Ihre Reaktion zeigt mir, dass wir da irgendwo einen wunden Punkt erwischt haben müssen. Wenn Sie da allerdings noch nicht ran können, bleiben wir erst mal ...«

»Was soll dass denn nun wieder heißen? Dass ich ›da noch nicht ran kann‹!« Du denkst überhaupt nicht dran, dich wieder hinzulegen! So nicht. Nicht mit dir.

»... bleiben wir erst mal im Hier und Jetzt. Sind Ihnen seit unserer ersten Sitzung außer den Löchern im Tagesablauf noch andere ungewöhnliche Dinge aufgefallen?«

Na gut, du legst dich wieder hin. »Seit gestern oder vorgestern außer den Kopfschmerzen auch Angstschweiß, schießt mir wie ’n Springbrunnen aus den Poren, und ich krieg das Zeug nicht gebändigt. Auf ’n Tod nicht.« Aber ist auch kein Wunder: Du siehst dich gezwungen, dich mal eben selbst unter Mordverdacht zu stellen – ist ja nun nicht ganz ohne! Und dann als Kripomensch! Da soll einem nicht der Schweiß in Strömen … Da soll man nicht meschugge … Klar, dass einem da die Gedanken vorkommen wie aufgespießt und festgenagelt von Eiszapfen, nein, warte mal, man wünscht sich gradezu, die Gedanken wären festgefroren, ein fetter Gletscher drübergezogen, und wer weiß, nach Jahrtausenden kämen sie wieder zum Vorschein. In ’ner halben Ewigkeit. Wenn’s dich längst nicht mehr gibt. Gerne gerne, jedenfalls hättest du sie dann jetzt erst mal aus den Füßen. Und trotzdem würden sie festgehalten, vom Eis.

Vorher allerdings nimmt die Wernigge dich noch ’n bisschen in die Mangel: »Und Magenkrämpfe und Essstörungen.«

»Woher wissen ... Sie?«, fragst du entgeistert.

»Psychotante eben. – Hatten Sie in letzter Zeit den Eindruck, Sie würden immer mehr von Tagträumen entführt?«

»Tags oder nachts, völlig egal. Jedenfalls oft, verdammt oft Träume, die ich hasse wie die Pest. Wie meine Tochter auf Island ... Island, so lang ich denken kann meine Traumwelt, und ausgerechnet da ... aber, aber nicht nur Island; vor allen Dingen sind’s Träume, die weit zurück in die Vergangenheit ... ich bin ein Knirps noch, und was ich da erlebe, das tut mir verflucht nicht gut.«

»Wie gesagt, da kommen wir noch zu«, bremst die Seelenwringwernigge dich aus, »erst mal: Gibt es weitere Dinge im Alltag, die Ihnen irgendwie spanisch vorkommen?«

»Na ja, nee, eigentlich – obwohl – diese Zettel.«

»Ja?«

»Okay«, du staunst nicht schlecht, dass du das alles hier so ausplauderst, »im Büro, da ist man das ja gewohnt, da fliegen immer auch mal fremde Zettel von wer weiß wem auf’m Schreibtisch rum, aber zu Hause?!«

Das ist doch nun wahrhaftig ein, wie sagt man: unglaublicher Vorgang! Auf dem eignen Schreibtisch zu Haus: Notizzettel mit ’ner Handschrift, die du überhaupt, die du überhaupt nicht ... Mitten im Stapel von Papieren, die nun wirklich deine Privatklamotten sind! Wo keiner außer dir selbst drin rumfingert! Zettel, die du nie vorher gesehn hast, auf die du dir beim besten Willen keinen Reim ... in einer Schrift, die du überhaupt nicht kennst. Überhaupt nicht.

»So, und jetzt sagen Sie mir«, sagst du, nachdem sie also auch das aus dir rausgequetscht hat, »sagen Sie mir, was ich hab, verflucht noch mal!«

»Dissoziative Identitätsstörung!«

»Wie bitte was?«

- . -

11

Erst der Black-out. Und dann der Sturz! Das ist die Reihenfolge, die total verrückte Reihenfolge. Nicht andersrum. Kann nur so gewesen sein.

Absturz, Katastrophe, und da muss dein Schädel sofort den schwarzen Vorhang zugezogen haben. Und zwar rückwirkend. Hat auch noch die Sekunden vor dem Absturz zugezogen. Denn du kannst dich beim besten Willen nicht mehr dran erinnern, wie du ins Straucheln gekommen bist, wie du die Eiswand, wenigstens ein Stück von der Eiswand an dir hast vorbeifliegen sehn. Zeitbruch im Kopf, stundenlang. Du musst, keine Ahnung, du musst seit Stunden hier hängen, zwischen Fels und Eis. Obwohl aber – verflucht, komisch das – obwohl der Arm, der dich hält, an dem du hängst, mit deinem ganzen Gewicht, obwohl der Arm schmerzt, als hätte er dich schon eine Ewigkeit halten müssen, ist die Sonne kein noch so winziges Stück weitergekommen. Steht immer noch genau an dem Fleck, wo du sie zuletzt gesehn hast: lugt so grade eben übern Snæfellgipfel und bohrt sich durch dessen Nebel-Halskrause. Und die Wolken, die Wolkenbilder, obwohl die auf Island bekanntlich immer rasend schnell wechseln, sind noch genau so, wie sie sich bei deinem letzten Blick eingebrannt haben in die Schädeldecke. Keinen Millimeter verändert. Kann also nur ein paar Minuten, höchstens ein paar Minuten ... obwohl der Arm ... wenn bloß der Arm nicht ... dass der Arm, die Hand so höllisch ... das schreit alles wie am Spieß.

Plötzlich ... wie schnell das geht! ... Von jetzt auf gleich, zack, war diese Schwärze über die gleißende Weiße des Neuschnees geworfen.

Der Rest ist Rekonstruktion: Während du also nicht ohne Stolz beobachtet hast, wie oben deine Tochter sich in die Eiswand krallte, absolut fachmännisch mit dem Pickel den Ansatz für die Eisschraube freihackte – da sahst du, siehst du, dass du überhaupt nichts mehr siehst. Außer eben dieses Schwarz. Du musst im freien Fall die Eiswand runtergeschossen und bei der Gelegenheit irgendwie irgendwo mit dem Kinn aufgeschlagen sein. Die Zähne gegeneinandergeschlagen, dass dein Kopf nicht mehr wusste, wo unten, wo oben, wo er mit dem ganzen Dröhnen hin soll. Und die Unterlippe zerbissen dabei, dass sie runterhängt wie ’n rot triefender Waschlappen.

Wahrscheinlich ist diese ganze Eisschuppe da aus der Wand gebrochen, als du mit dem Pickel reingehämmert hast, um Halt zu ... Eben nicht! Du hast eben keinen Halt gefunden. Im Gegenteil. Ein ordentliches Stück von der Eiswand muss dir entgegengekommen sein. Noch schneller runter als du. Und ohne irgendwas zu sehn, im Zustand, tatsächlich, im Zustand geistiger Umnachtung und gleichzeitig absoluter Geistesgegenwart, ohne dich jedenfalls dran erinnern zu können, musst du eine von deinen Expressschlingen über den letzten Haken geworfen ... und der hält, was für ’n Wahnsinn, der hält! Und du musst im gleichen Atemzug zugepackt haben. Mit einer, mit dieser einen Hand, die jetzt so verflucht, so verflucht ... Wird wohl, muss wohl. Aber wissen, wissen tust du’s nicht.

 

Was ist in Wahrheit geschehn? Was hast du gesehn in dieser winzigen, dieser rasenden Zwischenzeit? Welcher Horror, von dem du nichts mehr weißt, haust unter deinem Schädeldach und dröhnt so durchdringend? Und wo ist das geblieben, was du mitten im Sturz dachtest? Der bittre Geschmack von geschmolzenem Eis auf der Zunge. Wo ist, was du hörtest, rochst, spürtest? In welcher Dunkelkammer? – Zutritt verboten.

Du bist älter geworden.

- . -

12

»Ja, das ist alles nicht ohne«, murmelt die Mahnemannsche und nimmt zwei Treppenstufen auf einmal. Sie hat eine irgendwie unnachahmliche Art drauf, diese Endlostreppen im Präsidium tapptippentapp hinter sich zu bringen, das musst du neidlos anerkennen. Dieser rasante Rhythmus, mit dem sie die Füße todesmutig abwärtsschiebt und zwei Treppenstufen tiefer schlafwandlerisch sicher wieder aufsetzt, wahrhaftig beeindruckend! Ein Gletscherabstieg ist nichts dagegen. Bleibt dir nur, hinter ihr her zu stolpern, um nicht ganz abgehängt zu werden. Als sie begreift, dass der Abstand so groß geworden ist, dass du sie kaum noch verstehen kannst, stoppt sie und dreht sich fast mitleidig zu dir um. »Im Labor, die haben festgestellt, da waren jede Menge Fingerabdrücke von Ihnen drauf.«

»Auf meinen Handschellen?«, grinst du überlegen. »Logisch sind da meine Fingerabdrücke drauf.«

»Etliche waren ziemlich verwischt. Und außerdem hat sich an einigen Stellen Talkumpuder abgesetzt. Von Latexhandschuhen. Was dafür spricht«, salbadert sie weiter, »dass Ihre Handschellen beim letzten Einsatz nicht mit bloßen Händen benutzt worden sind.«

»Was? Das müsste ich doch wissen!«

»Das ist ja – ohne Ihnen zu nah treten zu wollen – ist ja nicht das Einzige, das Sie nicht mehr wissen.«

Ihr seid inzwischen im ersten Stock gelandet und absolviert den langen Marsch durch die Flure. 1-214. Du stößt stumm die Tür auf, huschst rein und willst eben die Tür rücklings hinter dir zuziehn, als du einen Widerstand spürst: einen der schlankranken Mahnefraufüße! »Sheriff, das ist, das hat kein’ Zweck ...«, raunt sie dir in den Nacken.

Was soll keinen Zweck haben? Der Kollege von der Materialausgabe wirkt auch schon leicht verstört und guckt deine aufgeregte Assistentin mit schiefgestelltem Kopf an.

»Kollege, ich brauch neue Handschellen!«, preschst du vor, »aber bitte von der neuen Liefe...«

»Moment bitte!«, geht die Mahnemannsche dazwischen, »Mann, Sheriff, hat Ihnen der Chef denn nicht gesagt ...«, sie zieht dich wieder auf den Flur, was du willenlos wie ein Kieselstein am Grunde der Moldau geschehen lässt, »... hat Ihnen der Chef nicht gesagt, dass Ihnen der Fall entzogen wurde und ...«

»Wie bitte was?«

»... und dass Sie beurlaubt sind. Fürs Erste. Erst mal nur fürs Erste.«

»Aha, nur fürs Erste erst mal.«

- . -

13

Du drückst die Klinke runter, schiebst mir nichts, dir nichts die Tür auf und setzt schwungvoll an hineinzumarschieren ... Du hast dir nicht die geringsten Gedanken darüber gemacht, was du womöglich vorfinden würdest, – sowieso alles egal –, aber der Anblick, der sich dir jetzt bietet, lässt dich, zumindest für einen Augenblick, dann doch zur Salzsäule gefrieren. Sie liegt fakirgleich auf dieser knorpelharten Couch, unbequem ist, wie gesagt, gar kein Ausdruck, hat den offenbar grade aus den Traumtiefen eines wohligen Nickerchens gerissenen Schädel vom schräggestellten Kopfteil gehoben und starrt mit schreckgeweitetem Blick zur Tür, auf deren Schwelle du immer noch rumstehst wie eine unentschiedene Mischung aus Falschgeld und Django.

»Herr Dollinger?«

»Ich, das muss sofort ... also ...«

»Auch ich hab irgendwann mal Mittagspause«, mault sie mit einer Kälte in der Stimme, die du ihr nie zugetraut hättest. Ausgesprochen untherapeutisch. Aber davon kannst du dich jetzt beim besten Willen nicht beeindrucken lassen.

»Sie müssen mir helfen, sofort«, stammelst du, »ich kann jetzt beim besten Willen nicht mehr auf irgendwelche Mittagspausen oder Analysen oder was warten. Sie müssen mich wieder grade rücken!« Und zwar sofort, schiebst du in Gedanken nach, ohne es freilich auszusprechen. Besser, sagst du dir, besser, du erklärst dich wenigstens einigermaßen nachvollziehbar. »Die haben mich abgezogen von dem Fall, und ich garantiere Ihnen, die wollen mich über kurz oder lang vom Dienst suspendieren. Und vorher muss ich mich selbst wegen Mordverdacht in U-Haft stecken. Sobald die die letzten Spuren ausgewertet haben. Scheiße, ich bin mir überhaupt keiner Schuld bewusst.«

»Aber«, sagt sie mit allmählich wieder therapeutischweichgespülter Stimme, rappelt sich auf und setzt sich mit einer unbeholfenen Körperdrehung auf die Kante ihrer Knochenfolter-Couch, »aber Sie können es auch nicht ausschließen, dass Sie’s nicht vielleicht doch getan haben könnten.«

Du glaubst, du spinnst! »Was? Ich glaub, ich spinne! Was reden Sie denn da!« Aber schließlich geht dein aufmüpfiger Tonfall doch baden und du murmelst kleinlaut: »Sie glauben also auch, könnte sein, dass ich ... Verfluchte Scheiße, das müsste ich doch wissen! Ich bin doch nicht völlig panne. Frau Wernigge, Sie müssen mir ganz schnell wieder die Möbel grade setzen im Kopf. Ich will jetzt hier gleich rausgehn und zum Chef stratzen und ihm sagen: Hier bin ich, bei mir ist alles klar im Dachstübchen, und der Fall ist wieder meiner. Okay? Also machen Sie, tun Sie was!«

Die Wernigge zupft sich die Bluse zurecht, drückt die Beine durch, setzt die Füße mit Schwung auf den Boden und lässt die Couchkante weit hinter sich.

Generalstabsmäßigen Schritts geht sie rüber zu ihrem ebenfalls kargen, aber wenigstens gepolsterten Therapeutenstuhl und setzt sich. »Vielleicht, Herr Dollinger, vielleicht waren’s ja tatsächlich nicht Sie ...«

Das schlägt dem Fass den Boden aus. »Vielleicht?!«, donnerst du sie an.

Aber sie fährt völlig unbeirrt in ihrem Programm fort: »... sondern Ihre zweite Person.«

»Meine zweite was? Sagen Sie, bin ich hier bekloppt oder wer?«

Kaum richtig Platz genommen, erhebt sie sich wieder und schreitet in ausladenden Kreisen durch den Raum. Offenbar ist, was jetzt kommt, zu gewichtig, als dass sie es im Sitzen würde zum Vortrag bringen wollen. »Ich hab jetzt nicht viel Zeit, gleich nach der Mittagspause hab ich die nächste Sitzung. Also nur so viel: Die Symptomatik der dissoziativen Identitätsstörung nimmt sich in der Regel so aus, dass ...«

Ist wahrlich nicht ganz ohne, einen psychotherapeutischen Fachvortrag über sich ergehen zu lassen, während man dermaßen auf heißen Kohlen hockt, dass einem ... immerhin geht’s ja um keinen andern als um dich! Aber du zwingst dich, Aufmerksamkeit zu heucheln. Schließlich hast du den Kopf so richtig in der Schlinge, und diese Frau, die ist die einzige, die den wieder ... Vielleicht.

»Die Ausbildung multipler Persönlichkeiten«, doziert sie und verschränkt die Hände überm Steiß, während du dich auf dem asketischen Liegemöbel der Selbsterkenntnis niederlässt, »ist ein äußerst effektives Abwehrsystem für Menschen, die im Kindesalter eine grausame, anhaltend traumatisierende Erfahrung machen mussten. In Ihrem Fall ist das primäre, das im Alltag dominante System die Person des korrekten, perfekten und erfolgreichen Ordnungshüters.«

»Und die andere Person?«, versuchst du mehr schlecht als recht mitzudenken.

»In Ihrem Fall der Loser, der ständig vom Damoklesschwert seiner früher erlittenen physischen und psychischen Schmerzen eingeholt wird. In ihrer ungezügelten Aggressivität erfüllt diese Persönlichkeit sich ihre Bestimmung, indem sie schwere Straftaten begeht, nicht nur aus brutaler Rache, sondern auch, um die Strafe, die der Tat auf dem Fuße folgt, als gerechte Selbststrafe zu erleben.«

Wenn dir bislang noch nicht heiß und kalt war, dann jetzt. »Von was reden Sie da, von was für früheren Schmerzen?«

»Tja«, die Wernigge ist stehen geblieben und stützt die Hände in die Hüften, »das, Herr Dollinger, wird unsre nächste Aufgabe sein, das rauszukriegen. Ihre zweite Persönlichkeit lebt jedenfalls genau die Potenziale aus, die sie in ihrem Primärsystem als Kommissar täglich bekämpfen. Und deshalb müssen Sie Ihre brutale Seite verdrängen und tabuisieren.«

Verdrängen und tabuisieren … Heh, Moment mal, wenn du jetzt eins und eins zusammenzählst, dann ...

dann dürfte das ja wohl heißen. dass du deinen Zweitdollinger vor dir selbst totschweigst, dass du glaubst, überhaupt nichts davon zu wissen, dass du all das komplett wegklickst … dass das alles bloß ein Rettungsmanöver ist, um deinen Alltag heil über die Bühne zu bringen. Oder wie?

»Dabei muss uns keineswegs irritieren, dass Ihr mit krimineller Energie aufgeladenes sekundäres Persönlichkeitssystem jetzt zum Ausbruch kommt, dass es in den letzten Jahren vielleicht sogar völlig verstummt war. Immerhin waren Sie ja während Ihrer Polizeiausbildung und auch in Ihrer bisherigen Berufspraxis höchst erfolgsverwöhnt.« Die Wernigge ist voll in ihrem Element, stürzt sich mit krakenhaftem Elan in dein Kauderwelsch im Schädel. Ihre Mittagspause hat sie, wie’s aussieht, völlig vergessen, so gut gefällt ihr augenscheinlich dein Krankheitsbild. »Jetzt aber, den aufzuklärenden Kindesmisshandlungsfall vor der Brust, könnte das im Untergrund nach wie vor rumorende abgespaltene Persönlichkeitssystem wieder ›scharf‹ geworden sein. Und da, Herr Kommissar, sind Sie alles andre als ein Einzelfall. Das alles entspricht gradezu bilderbuchmäßig dem bekannten Symptomkomplex. Wir gehen da von bestimmten Auslösungsreizen aus, so genannten ›Triggers‹, die den Wechsel von einer Persönlichkeit zur anderen hervorrufen und die abgespaltenen Systeme abwechselnd auf den Plan rufen.«

Mr. Jekyll und Dr. Hyde, schießt’s dir durch den Kopf. Oder hieß der Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Das hast du dir noch nie merken können.

»Und jetzt«, murrt die Wernigge, die inzwischen bedrohlich nah an deiner Couch Stellung bezogen hat, »jetzt gönnen Sie mir den winzigen Rest meiner Mittagspause! Wir sehn uns morgen.«

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